29.05.2025
78. Filmfestspiele Cannes 2025

»Wir dürfen wir nicht selbst zu Werkzeugen des Ausschlusses werden!«

Woman and ChildWoman and Child
Moralisch zu ambivalent: Saeed Roustaees Woman and Child
(Foto: Amirhossein Shojaei & Saeed Roustaee / Filmfestival Cannes)

Eine Intervention von Mohammad Rasoulof: »Unter dem Druck der Zensur zu arbeiten, ist keine Propaganda«; Streit um den zweiten Wettbewerbsfilm zum Ende des Festivals; iranische Stimmen zeigen, dass sich der Streit durch die Exilcommunity zieht – Cannes-Tagebuch, 09. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Thee und Bier stellten mich aus der Erschöp­fung wieder her.«
– Thomas Mann, Tagebuch vom 17.01.1939

»Intel­li­genz ist eine mora­li­sche Kategorie.«
– Adorno

»500 Euro für eine Karte zu 'Honey don’t'« – mit einem schön gemalten Zettel mit dieser Aufschrift in der Hand stand eine junge Frau am Frei­tag­abend kurz nach Mitter­nacht vor dem Eingang zum Premie­ren­kino »Grand Thèatre Lumière«. Es war der letzte Midnight­movie, die schwarze Komödie »Honey Don’t!« von Ethan Coen.
Ob das ernst gemeint war? War sie viel­leicht Mitglied im Fanclub von Haupt­dar­stel­lerin Margaret Qualley, oder ein bisschen verrückt, oder stink­reich? Ich kam in Versu­chung und hätte es mal testen sollen.
Aller­dings muss man, wenn man mit Pres­se­karten zu offi­zi­ellen Premieren kommt, oft noch seine Akkre­di­tie­rung vorzeigen, damit genau so etwas nicht geschieht.

Aber wer ein Team­ti­cket oder Spon­so­ren­ein­la­dung oder eine ähnliche nicht perso­nen­ge­bun­dene Karte hatte, wie es sie in Cannes entgegen allen Gerüchten sehr wohl gibt, der hätte sich die 500 Euro verdienen können. Nur ein besonders deut­li­ches Beispiel für den Hype und latenten Wahnsinn, der während des Festivals alltäg­lich ist.

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Am Sams­tag­abend dann zum letzten Mal für dieses Jahr im Debussy: Ob Jury­mit­glied Leila Slimani nun eine so tolle Frau ist, sei dahin­ge­stellt. Ihr Gehabe auf dem Roten Teppich ist mir fast so unsym­pa­thisch wie Halle Berry, die sich schon sehr wichtig macht.
Jury­prä­si­dentin Juliette Binoche ist von der fran­zö­si­schen Presse für ihre pseu­do­po­li­ti­schen Einlas­sungen zur Eröffnung – eher süffisant belächelt worden. Vor allem von Frauen ist aber die Wahl ihrer Garderobe zur Eröffnung – ein Dior-Kleid, das dem Hijab, der im Iran vorge­schrieben ist schon ziemlich stark ähnelt – scharf kriti­siert worden. In Frank­reich und im Gegensatz zu den Jubel­per­sern der deutschen und inter­na­tio­nalen Presse, bei denen offenbar alles was eine berühmte Schau­spie­lerin tut bedeu­tungs­voll und klug ist.
Die Jury­preise waren es nicht. Es ist die konven­tio­nelle Entschei­dung geworden, die man bei dieser Jury von vorn­herein befürchten musste.

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Jafar Panahi also. Der Iraner Panahi ist erst der vierte Regisseur – nach Henri-Georges Clouzot, Michel­an­gelo Antonioni und Robert Altman –, der alle drei Haupt­preise der drei großen Film­fes­ti­vals gewinnt: Die Goldene Palme von Cannes, den Goldenen Bären von Berlin und den Goldenen Löwen von Venedig. Außerdem ist er der erste Camera d’Or Gewinner, der eine Goldene Palme gewinnt .
Ist das wirklich verdient? Ist das nicht viel­leicht doch ein bisschen über­trieben? Und schließ­lich: Hat er diese Ehrungen nur seiner Filmkunst, und nicht doch auch den poli­ti­schen Verhält­nissen, also letzt­end­lich der Revo­lu­tion des Ayatollah Khomenei zu verdanken?

Diese Fragen mögen jetzt böse klingen, sie sind aber nicht böse gemeint. Ich freue mich für den Mann und sein Team, die erkennbar gerührt und über­wäl­tigt waren – es sei ihnen gegönnt.

Ich möchte nur, dass wir bei Kunst­preisen am Ende doch auch die Frage nicht vergessen: Was haben diese Preise jetzt eigent­lich wirklich noch mit Kunst zu tun?
Der zweite Gedanke ist natürlich der, dass für jeden dieser Preise ein anderer Film diesen Preis nicht bekommt, eine andere Filme­ma­cherin oder Filme­ma­cher, die ihn viel­leicht genauso verdient hätten oder noch mehr, und die genauso gerührt wären, oder noch mehr. Dies ist die Verant­wor­tung der Jury.

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Keines­wegs wurde dieser Preis unisono gefeiert. Auch für andere Kollegen war er eine Enttäu­schung, erst recht gemessen an anderen Filmen im Wett­be­werb. Ausge­rechnet die »Cahiers de Cinema« und »Les Inrock­tu­ri­bles«, die beiden fran­zö­si­schen Film­ma­ga­zine, hatten bei dem hier schon mehrfach erwähnten Kriti­ker­spiegel in Le Film francais dem Film nur die schwache Wertung »ein Stern« gegeben. Von »Positif« gab es die Palme. Auch bei Paolo Mere­ghetti, dem berühmten, fast 80-jährigen Chef­kri­tiker des »Corriere della Sera« gab es die zweit­höchste Wertung (8.5), gleichauf aller­dings mit »Sound of Falling« von Mascha Schi­linski.

Auch die Ameri­kaner finden im Vergleich anderes besser als den Iraner: Bei den sechs Filmstage-Autoren liegt »Sirat« dreimal ganz vorne je einmal der chine­si­sche »Resur­rec­tion«, Lynne Ramsey, und Joachim Trier, während Panahi nur je einmal an 6, 8 oder 9 genannt wird, dreimal gar nicht; »Sound of Falling« zweimal an zweiter Stelle, einmal an 5. Im einzelnen sagen solche Tabellen wahr­schein­lich gar nichts aus, in der Gesamt­heit geben sie aber Tendenzen wieder.

Besser begründet seine Reserve der Luxem­burger Kollege Marc Trap­pen­dreher – der schon Gast in unserem Podcast war –, mit einer sehr guten Unter­schei­dung: »Panahi ist ein begna­deter Regisseur, keine Frage, aber Schil­linski ist neu, ginge es mehr um Film­sprache, formale Eigen­wil­lig­keit, Inno­va­tion, hätte man eher sie berück­sich­tigen sollen.«

Marc schlägt vor, hier zwischen Appell und Angebot zu unter­scheiden: »Panahi ist ein Appell, 'Serat' von Olivier Laxe eine Einladung, eine Erfahrung, mehr als eine Erzählung, Schi­linski ebenso. Das ist natürlich grob verein­facht, und alle Filme des Wett­be­werbs kriegst du so auch nicht unter. Aber es zeigt die Tendenzen. Das meint auch nicht dass das eine besser ist, als das andere. Nur: Panahis Film ist durch seinen poli­ti­schen Kontext, die Inhaf­tie­rung so sehr aufge­laden, dass der Appell sich gegen die Einladung durch­setzt. Die Reisen die Schi­linski und Laxe anbieten, sind sperriger, verlangen eine spezi­fi­sche Haltung, eine Bereit­schaft. Auch diese offenen Formen sind nicht gänzlich neu, aber innerhalb dieses Wett­be­werbs sicher­lich heraus­ste­chend, weil radikal und gewagt.«

Über die hier genannten Filme gib es mehr im nächsten, abschließenden Cannes-Tagebuch. In dieser Folge soll es nun um ein zweites, wichtiges Thema des irani­schen Kinos gegen, das auch Panahis Arbeit mittelbar berührt.

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Der Iran ist ein Jung­brunnen für das Kino und immer wieder gut für neue Entde­ckungen und starke Filme. Es ist ein großes Land mit einer langen Film­tra­di­tion. Trotzdem erstaunt es, dass hier immer wieder neue Regie­stimmen und neue Schau­spieler ans Licht der Öffent­lich­keit treten. Und wir im Westen sehen nur die Spitze des Eisbergs, sehen nicht die ganzen Genre-Filme, die im Iran entstehen. Wir sehen auch fast nur die Filme, die uns auch politisch in den Kram passen. Aber das ist schon genug.
Eine recht neue Stimme ist Saeed Roustaee, dem mit »Woman and Child«, dem zweiten irani­schen Wett­be­werbs­bei­trag neben Jafar Panahi, ein ganz erstaun­li­cher guter Film gelungen ist, der mir hervor­ra­gend gefiel, weil er im Vergleich zu Panahis Sieger­film »Un simple accident« diffe­ren­zierter und dichter und über­ra­schender und weniger akade­misch und auch moralisch ambi­va­lent ist.
Während ich »Un simple accident« als ein bisschen faul empfinde.

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Aber diese Ansicht stößt bei einigen Freunden und Bekannten, Europäern wie Iranern, auf doppelten Wider­spruch. Da gibt es zum einen die, die Panahis Film weitaus mehr abge­winnen können, als ich. Und zum anderen die, die Roustaees Film schlecht finden. Und es gibt Proteste gegen »Woman and Child«, ganz unab­hängig von »Un simple accident«.

Also der Reihe nach.

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»Woman and Child« erzählt schnell, ist elegant und flüssig gemacht, nimmt scharfe drama­tur­gi­sche Wendungen, die mehr sind, als die chro­no­lo­gi­sche Erzähl­weise eines »und dann..., und dann..., und dann...«. Roustaee zeigt den modernen Iran in seiner Realität, nicht nur vom Reißbrett einer Drehbuch-Konstruk­tion. Dieser moderne Iran besteht aus Wider­sprüchen und Ambi­va­lenzen, die Menschen sind nicht entweder Täter oder Opfer, sondern oft genug beides gleich­zeitig, sie sind nicht alle entweder Unter­s­tützer des Regimes oder Wider­s­tändler und Anti-Mullah-Demons­tranten. Dieser Film ist zumindest insofern eine Mängel­an­zeige für Panahi.

Viel­leicht ist es aber voll­kommen falsch, diese beiden Filme überhaupt zu verglei­chen und irgendwie gegen­ein­ander auszu­spielen; viel­leicht haben sie wenig gemeinsam, außer, dass sie vom gleichen Land erzählen und die gleiche Sprache in ihm gespro­chen wird. Warum ich es trotzdem tue, liegt in einer Kontro­verse und in den Gesprächen der letzten zwei Tage – die Kontro­verse ist öffent­lich, die Gespräche waren persön­lich und auf beides werde ich gleich weiter unten zu sprechen kommen. Zuerst aber mal noch mehr zu »Woman und Child«.

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Wir lernen eine Familie kennen. Mahnaz, eine verwit­wete Mutter lebt mit ihren zwei Kindern Aliyar und Neda, mit ihrer Schwester Mehri und ihrer Mutter in einer Wohnung in Teheran. Sie ist Witwe. Die Verhält­nisse sind gutbür­ger­lich, gebildet und von Mittel­klasse-Wohlstand geprägt.

Sohn Aliyar ist ein 14-jähriger Tauge­nichts, der heimlich um Geld spielt, raucht und Pillen schluckt, und kurz vor dem Schul­ver­weis steht. Die Mutter aber lässt ihrem Wonne­proppen jeden Mist durch­gehen – sie hat gerade ganz anderes im Kopf: Sie will sich wieder verhei­raten, mit Hamid, einem Mann von durchaus zwei­fel­haften Ruf.
Die erste Hälfte des Films, um diese Inhalts­be­schrei­bung etwas abzu­kürzen, dreht sich vor allem um das Schul­ver­sagen des Sohnes und die Pläne der Mutter, die sie auch für den eigenen Kindern geheim hält.

Dann nimmt der Film eine radikale Wendung, als an einem einzigen Wochen­ende zunächst die Ehepläne von Mahnaz scheitern, weil der vorge­se­hene Bräutigam sich plötzlich alles anders überlegt, und weil einen Tag später Sohn Aliyar, der übers Wochen­ende beim Großvater unter­ge­bracht war, aus dem Fenster zu Tode stürzt.

Nun will die Mutter einfach Rache nehmen, um sich von ihrem Schmerz zu erlösen; sie sucht Schuldige, auch da, wo es keine gibt. So wird dieser Film endgültig zum Melodram um den Schmerz von Frauen im Iran, es geht nämlich nicht nur um die Mutter, sondern auch um deren Schwester, um beider Mutter und um Neda, die kleine Schwester des Toten. Das ist manchmal kitschig und dreht sich um in, zwei Wendungen zu viel, aber mit »Tele­no­vela«, wie der italie­ni­sche Freund Francesco das nannte, hat es auch nicht mehr zu tun, als die drama­ti­sie­renden Frau­en­por­traits Fass­bin­ders.

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»Woman and Child« wurde komplett im Inneren des Iran gedreht und hat die Zensur unbe­schadet über­standen. In diesem Film tragen alle Frauen den Hidschab – selbst dann, wenn sie allein in ihrem Zimmer zu Hause sind. Es gibt keine Ausnahme, die es erlauben würde, auf dieses theo­kra­ti­sche Gebot bei der Darstel­lung von Frauen auf der Leinwand unter dem tyran­ni­schen Regime der Ajatol­lahs zu verzichten.

Dennoch ist fest­zu­halten, dass alle Frauen des Films – allen voran die Haupt­figur, eine verwit­wete Kran­ken­schwester – nicht nur die treibende Kraft der Handlung sind, sondern auch jene, die mit größter Entschlos­sen­heit für ihre Lebens­ziele und ihre Entschei­dungs­frei­heiten kämpfen.
Erfüllt von Schmerz und Wut über den Verlust ihres Sohnes, treibt die Prot­ago­nistin ihre Sache bis an die Grenze zur Selbst­auf­gabe – beinahe zur Mörderin werdend – und bis in den Wahnsinn hinein.

Aus dieser Perspek­tive ist das Panorama weib­li­cher Porträts, das der Film entwirft, von bemer­kens­werter Moder­nität – ein offener Affront gegen das Patri­ar­chat der irani­schen Reli­gi­ons­dik­tatur. Und das, obwohl oder viel­leicht gerade weil der Hidschab in diesem sozialen Gefüge allge­gen­wärtig bleibt – eine Realität, die den gesell­schaft­li­chen Kontext dort wider­spie­gelt. Aller­dings muss erwähnt werden, dass das Iranbild, das der Film zeichnet, relativ idea­li­siert wirkt: Das Bildungs­system, die Kran­ken­häuser und sogar die Justiz scheinen hier reibungslos und geset­zes­kon­form ohne Korrup­tion zu funk­tio­nieren – was das gesell­schaft­liche Porträt in einem geschönten Licht erscheinen lässt.

Zugleich führt die drama­ti­sche Konstruk­tion und Insze­nie­rung die Geschichte unwei­ger­lich in ein Terrain, das das Melodram berührt.

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Es gibt Proteste gegen diesen Film. Man kann hier einen entspre­chenden Aufruf nachlesen.

Seit Jahren kenne ich M., eine Exil-Iranerin, die viel vom Kino versteht. Sie habe ich nach dieser politisch moti­vierten Kritik an »Woman and Child« gefragt.

Sie unter­s­tütze den Boykott­aufruf nicht aktiv, aber sie verstehe ihn. Die Kritik richte sich nicht gegen das einzelne Werk, »sondern gegen das, was es reprä­sen­tiert: das offi­zi­elle iranische Kino. Es gibt derzeit Boykott­auf­rufe gegen jede Form der Reprä­sen­ta­tion, die von der Isla­mi­schen Republik legi­ti­miert oder genehmigt wurde. Weil dieses 'offi­zi­elle' Kino Teil eines Systems ist, das Menschen mundtot macht – während es sich zugleich auf inter­na­tio­nalen Festivals glänzend präsen­tiert. Während einige Regis­seure Berufs­verbot haben, Frauen massiv unter­drückt werden, zeigen sich andere am roten Teppich und liefern dem Regime eine Art propa­gan­dis­ti­schen Beweis: 'Seht her, wir haben doch freie Kunst.' Das ist subtile, imma­te­ri­elle Propa­ganda.« Symbo­li­sche Sicht­bar­keit sei kein Beleg für Freiheit.
Auf meine Nachfrage, ob denn jeder Film, der aus dem Iran auf einem Festival läuft, und nicht illegal gedreht wurde, auto­ma­tisch Propa­ganda sei, auch ein durchaus kriti­scher Film, wie Roustaees Beitrag, antwortet M., es gehe nicht darum, ob ein Film 'kritisch' sei, sondern unter welchen Bedin­gungen er entstehen konnte. »Wenn jemand wie Roustaee das Land offiziell vertritt, bedeutet das zwangs­läufig: Er hat sich zumindest in Teilen mit der Zensur arran­giert. Er tritt für ein Land auf, das Regis­seure wie Rasoulof und Panahi ins Gefängnis steckt – weil sie sich nicht mit den idio­ti­schen Richt­li­nien arran­gieren wollten.«

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Der von M. genannte Mohammad Rasoulof ist jetzt aller­dings öffent­lich für Saeed Roustaee und seinen Film einge­treten. Variety zitiert jetzt den kompletten offenen Brief Rasoulofs, der prin­zi­pi­elle Fragen berührt und einige wichtige, weit über den Iran hinaus­ge­hende Unter­schei­dungen vornimmt.

Die wich­tigsten hier auf Deutsch zitiert (das Original ist wie gesagt unter dem Link weiter oben nach­lesbar): Er habe, so Rasoulof, Saeed Roustaee zur Einladung nach Cannes gratu­liert.

»Für mich gibt es eine klare Unter­schei­dung zwischen den Propa­gan­da­filmen der Isla­mi­schen Republik und den Filmen, die unter dem Druck der Zensur entstehen. ...
Die Erwartung, dass kein Filme­ma­cher im Iran mehr Zensur­re­geln oder den vorge­schrie­benen Hidschab akzep­tieren sollte, sei eine idea­lis­ti­sche und bewun­derns­werte Vorstel­lung – aber ist sie praktisch umsetzbar? ... Selbst unter Zensur haben einige Filme­ma­cher Wege gefunden, die Einschrän­kungen zu umgehen. ...
Der gewalt­freie Kampf für die Freiheit ist ein langsamer, aber stetiger Prozess. Gleich­zeitig dürfen wir – als Menschen, die an Meinungs­frei­heit glauben und Zensur als ein Instru­ment der Kontrolle und Auslö­schung betrachten – selbst nicht zu Werk­zeugen des Ausschlusses werden.«

Abschließend möchte ich betonen, dass das iranische Kino ein breites Spektrum von Filme­ma­chern umfasst.
Die Vorstel­lung, dass einige Personen versuchen, andere von der Teilnahme an inter­na­tio­nalen Festivals auszu­schließen, wider­spricht den Prin­zi­pien künst­le­ri­scher Freiheit – und sogar den grund­le­genden Menschen­rechten.
Ein solches Klima setzt auch iranische Film­schaf­fende unter immensen Druck, die nicht außerhalb des offi­zi­ellen Systems oder jenseits der Zensur arbeiten können.

Sie stehen zwischen zwei Kräften: auf der einen Seite der Druck durch den Zensur­ap­parat, auf der anderen Seite der Druck durch dieje­nigen, die jede Art profes­sio­neller Tätigkeit als Verrat am Volk oder als Kompli­zen­schaft mit dem Regime brand­marken – und damit anderen das Recht abspre­chen, ihren eigenen Weg zu wählen. Für mich ist klar: Menschen haben unter­schied­liche Fähig­keiten, Möglich­keiten und Lebens­um­stände. Nicht jeder kann das Risiko eingehen, einen Unter­grund­film zu drehen.

Ich möchte meinen Kampf lieber auf dieje­nigen richten, die diese Zensur aufer­legen.

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Und dann ist da noch N., eine weitere iranische Film­kri­ti­kerin, die ich in diesem Jahr auf dem Festival kennen­ge­lernt habe. Auch sie lebt seit zwei Jahren im Westen im Exil.

Wir lernten uns kennen, als ich aus »Woman and Child« kam, und sie von mir wissen wollte, wie ich diesen Film im Vergleich zu Panahi fand. Unser Gespräch dauerte auch deswegen länger, weil ich mit meiner gewissen Panahi-Skepsis bei ihr auf einen Nerv traf. Ob er typisch ist oder eine Ausnahme darstellt, möchte ich hier nicht entscheiden. Jeden­falls kamen wir auf die allge­meine Frage der Wahr­neh­mung irani­scher Filme durch ein west­li­ches bürger­li­ches Publikum – und sie stimmte mir zu, dass wir es uns im Westen in bestimmten Wider­stands­posen recht bequem einrichten und den Wider­stand vor allem in fernen Ländern wie dem Iran goutieren und feiern, aber selber über die eigenen Verhält­nisse – die man natürlich nicht eins zu eins verglei­chen kann –, nicht viel zu sagen haben. Ich bat sie um einen Artikel über genau diese Frage: Wie nimmst Du als Iranerin die westliche Wahr­neh­mung irani­scher Filme wiederum wahr?
Zwei Tage dachte sie darüber nach, dann schrieb sie mir folgende Nachricht: »Ich habe mich mit mehreren Regis­seuren, Redak­teuren und Kritikern, die im Iran leben, beraten, um über diese beiden irani­schen Filme zu schreiben. Es scheint, dass es einen harten Kampf zwischen den beiden Seiten des Films gibt. Obwohl ich an meine eigene Meinung und Perspek­tive glaube, habe ich beschlossen, nicht über die irani­schen Filme des Festivals zu schreiben und sie zu rezen­sieren. ... weil meine Mutter und mein Bruder noch im Iran leben und ich immer in Sorge bin, dass sie unter Druck geraten und Schaden nehmen könnten. Deshalb habe ich meine Aufzeich­nungen aufbe­wahrt und in eine Ecke meines Notiz­buchs gelegt. Es scheint, dass sich das iranische Kino derzeit in einer schweren Krise befindet, und es scheint, dass es derzeit nicht sehr angenehm ist, über die Goldene Palme zu sprechen.«
Das müssen wir so akzep­tieren.

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Ich stehe dazu: Ich bin als Film­kri­tiker in erster Linie Kunst­kri­tiker, nicht Poli­tik­kri­tiker. Ich bewerte die Filme, die ich sehe, in aller­erster Linie nach ihrem ästhe­ti­schen Eindruck, aber weder nach ihrer poli­ti­schen Bedeutung, noch danach, ob die poli­ti­schen Ansichten, die der Film ausdrückt, oder die Regie propa­giert, mir sympa­thisch sind oder nicht. Ich würde lieber von der Autonomie des Ästhe­ti­schen reden.
Dazu mehr im nächsten, abschließenden Cannes-Tagebuch.