78. Filmfestspiele Cannes 2025
»Wir dürfen wir nicht selbst zu Werkzeugen des Ausschlusses werden!« |
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Moralisch zu ambivalent: Saeed Roustaees Woman and Child | ||
(Foto: Amirhossein Shojaei & Saeed Roustaee / Filmfestival Cannes) |
»Thee und Bier stellten mich aus der Erschöpfung wieder her.«
– Thomas Mann, Tagebuch vom 17.01.1939»Intelligenz ist eine moralische Kategorie.«
– Adorno
»500 Euro für eine Karte zu 'Honey don’t'« – mit einem schön gemalten Zettel mit dieser Aufschrift in der Hand stand eine junge Frau am Freitagabend kurz nach Mitternacht vor dem Eingang zum Premierenkino »Grand Thèatre Lumière«. Es war der letzte Midnightmovie, die schwarze Komödie »Honey Don’t!« von Ethan Coen.
Ob das ernst gemeint war? War sie vielleicht Mitglied im Fanclub von Hauptdarstellerin Margaret Qualley, oder ein bisschen verrückt, oder stinkreich?
Ich kam in Versuchung und hätte es mal testen sollen.
Allerdings muss man, wenn man mit Pressekarten zu offiziellen Premieren kommt, oft noch seine Akkreditierung vorzeigen, damit genau so etwas nicht geschieht.
Aber wer ein Teamticket oder Sponsoreneinladung oder eine ähnliche nicht personengebundene Karte hatte, wie es sie in Cannes entgegen allen Gerüchten sehr wohl gibt, der hätte sich die 500 Euro verdienen können. Nur ein besonders deutliches Beispiel für den Hype und latenten Wahnsinn, der während des Festivals alltäglich ist.
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Am Samstagabend dann zum letzten Mal für dieses Jahr im Debussy: Ob Jurymitglied Leila Slimani nun eine so tolle Frau ist, sei dahingestellt. Ihr Gehabe auf dem Roten Teppich ist mir fast so unsympathisch wie Halle Berry, die sich schon sehr wichtig macht.
Jurypräsidentin Juliette Binoche ist von der französischen Presse für ihre pseudopolitischen Einlassungen zur Eröffnung – eher süffisant belächelt worden. Vor allem von Frauen ist aber die Wahl ihrer Garderobe
zur Eröffnung – ein Dior-Kleid, das dem Hijab, der im Iran vorgeschrieben ist schon ziemlich stark ähnelt – scharf kritisiert worden. In Frankreich und im Gegensatz zu den Jubelpersern der deutschen und internationalen Presse, bei denen offenbar alles was eine berühmte Schauspielerin tut bedeutungsvoll und klug ist.
Die Jurypreise waren es nicht. Es ist die konventionelle Entscheidung geworden, die man bei dieser Jury von vornherein befürchten musste.
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Jafar Panahi also. Der Iraner Panahi ist erst der vierte Regisseur – nach Henri-Georges Clouzot, Michelangelo Antonioni und Robert Altman –, der alle drei Hauptpreise der drei großen Filmfestivals gewinnt: Die Goldene Palme von Cannes, den Goldenen Bären von Berlin und den Goldenen Löwen von Venedig. Außerdem ist er der erste Camera d’Or Gewinner, der eine Goldene Palme gewinnt .
Ist das wirklich verdient? Ist das nicht vielleicht doch ein bisschen übertrieben?
Und schließlich: Hat er diese Ehrungen nur seiner Filmkunst, und nicht doch auch den politischen Verhältnissen, also letztendlich der Revolution des Ayatollah Khomenei zu verdanken?
Diese Fragen mögen jetzt böse klingen, sie sind aber nicht böse gemeint. Ich freue mich für den Mann und sein Team, die erkennbar gerührt und überwältigt waren – es sei ihnen gegönnt.
Ich möchte nur, dass wir bei Kunstpreisen am Ende doch auch die Frage nicht vergessen: Was haben diese Preise jetzt eigentlich wirklich noch mit Kunst zu tun?
Der zweite Gedanke ist natürlich der, dass für jeden dieser Preise ein anderer Film diesen Preis nicht bekommt, eine andere Filmemacherin oder Filmemacher, die ihn vielleicht genauso verdient hätten oder noch mehr, und die genauso gerührt wären, oder noch mehr. Dies ist die Verantwortung der Jury.
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Keineswegs wurde dieser Preis unisono gefeiert. Auch für andere Kollegen war er eine Enttäuschung, erst recht gemessen an anderen Filmen im Wettbewerb. Ausgerechnet die »Cahiers de Cinema« und »Les Inrockturibles«, die beiden französischen Filmmagazine, hatten bei dem hier schon mehrfach erwähnten Kritikerspiegel in Le Film francais dem Film nur die schwache Wertung »ein Stern« gegeben. Von »Positif« gab es die Palme. Auch bei Paolo Mereghetti, dem berühmten, fast 80-jährigen Chefkritiker des »Corriere della Sera« gab es die zweithöchste Wertung (8.5), gleichauf allerdings mit »Sound of Falling« von Mascha Schilinski.
Auch die Amerikaner finden im Vergleich anderes besser als den Iraner: Bei den sechs Filmstage-Autoren liegt »Sirat« dreimal ganz vorne je einmal der chinesische »Resurrection«, Lynne Ramsey, und Joachim Trier, während Panahi nur je einmal an 6, 8 oder 9 genannt wird, dreimal gar nicht; »Sound of Falling« zweimal an zweiter Stelle, einmal an 5. Im einzelnen sagen solche Tabellen wahrscheinlich gar nichts aus, in der Gesamtheit geben sie aber Tendenzen wieder.
Besser begründet seine Reserve der Luxemburger Kollege Marc Trappendreher – der schon Gast in unserem Podcast war –, mit einer sehr guten Unterscheidung: »Panahi ist ein begnadeter Regisseur, keine Frage, aber Schillinski ist neu, ginge es mehr um Filmsprache, formale Eigenwilligkeit, Innovation, hätte man eher sie berücksichtigen sollen.«
Marc schlägt vor, hier zwischen Appell und Angebot zu unterscheiden: »Panahi ist ein Appell, 'Serat' von Olivier Laxe eine Einladung, eine Erfahrung, mehr als eine Erzählung, Schilinski ebenso. Das ist natürlich grob vereinfacht, und alle Filme des Wettbewerbs kriegst du so auch nicht unter. Aber es zeigt die Tendenzen. Das meint auch nicht dass das eine besser ist, als das andere. Nur: Panahis Film ist durch seinen politischen Kontext, die Inhaftierung so sehr aufgeladen, dass der Appell sich gegen die Einladung durchsetzt. Die Reisen die Schilinski und Laxe anbieten, sind sperriger, verlangen eine spezifische Haltung, eine Bereitschaft. Auch diese offenen Formen sind nicht gänzlich neu, aber innerhalb dieses Wettbewerbs sicherlich herausstechend, weil radikal und gewagt.«
Über die hier genannten Filme gib es mehr im nächsten, abschließenden Cannes-Tagebuch. In dieser Folge soll es nun um ein zweites, wichtiges Thema des iranischen Kinos gegen, das auch Panahis Arbeit mittelbar berührt.
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Der Iran ist ein Jungbrunnen für das Kino und immer wieder gut für neue Entdeckungen und starke Filme. Es ist ein großes Land mit einer langen Filmtradition. Trotzdem erstaunt es, dass hier immer wieder neue Regiestimmen und neue Schauspieler ans Licht der Öffentlichkeit treten. Und wir im Westen sehen nur die Spitze des Eisbergs, sehen nicht die ganzen Genre-Filme, die im Iran entstehen. Wir sehen auch fast nur die Filme, die uns auch politisch in den Kram passen. Aber das ist
schon genug.
Eine recht neue Stimme ist Saeed Roustaee, dem mit »Woman and Child«, dem zweiten iranischen Wettbewerbsbeitrag neben Jafar Panahi, ein ganz erstaunlicher guter Film gelungen ist, der mir hervorragend gefiel, weil er im Vergleich zu Panahis Siegerfilm »Un simple accident« differenzierter und dichter und überraschender und weniger akademisch und auch moralisch ambivalent ist.
Während ich »Un simple accident« als ein bisschen faul empfinde.
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Aber diese Ansicht stößt bei einigen Freunden und Bekannten, Europäern wie Iranern, auf doppelten Widerspruch. Da gibt es zum einen die, die Panahis Film weitaus mehr abgewinnen können, als ich. Und zum anderen die, die Roustaees Film schlecht finden. Und es gibt Proteste gegen »Woman and Child«, ganz unabhängig von »Un simple accident«.
Also der Reihe nach.
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»Woman and Child« erzählt schnell, ist elegant und flüssig gemacht, nimmt scharfe dramaturgische Wendungen, die mehr sind, als die chronologische Erzählweise eines »und dann..., und dann..., und dann...«. Roustaee zeigt den modernen Iran in seiner Realität, nicht nur vom Reißbrett einer Drehbuch-Konstruktion. Dieser moderne Iran besteht aus Widersprüchen und Ambivalenzen, die Menschen sind nicht entweder Täter oder Opfer, sondern oft genug beides gleichzeitig, sie sind nicht alle entweder Unterstützer des Regimes oder Widerständler und Anti-Mullah-Demonstranten. Dieser Film ist zumindest insofern eine Mängelanzeige für Panahi.
Vielleicht ist es aber vollkommen falsch, diese beiden Filme überhaupt zu vergleichen und irgendwie gegeneinander auszuspielen; vielleicht haben sie wenig gemeinsam, außer, dass sie vom gleichen Land erzählen und die gleiche Sprache in ihm gesprochen wird. Warum ich es trotzdem tue, liegt in einer Kontroverse und in den Gesprächen der letzten zwei Tage – die Kontroverse ist öffentlich, die Gespräche waren persönlich und auf beides werde ich gleich weiter unten zu sprechen kommen. Zuerst aber mal noch mehr zu »Woman und Child«.
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Wir lernen eine Familie kennen. Mahnaz, eine verwitwete Mutter lebt mit ihren zwei Kindern Aliyar und Neda, mit ihrer Schwester Mehri und ihrer Mutter in einer Wohnung in Teheran. Sie ist Witwe. Die Verhältnisse sind gutbürgerlich, gebildet und von Mittelklasse-Wohlstand geprägt.
Sohn Aliyar ist ein 14-jähriger Taugenichts, der heimlich um Geld spielt, raucht und Pillen schluckt, und kurz vor dem Schulverweis steht. Die Mutter aber lässt ihrem Wonneproppen jeden Mist durchgehen – sie hat gerade ganz anderes im Kopf: Sie will sich wieder verheiraten, mit Hamid, einem Mann von durchaus zweifelhaften Ruf.
Die erste Hälfte des Films, um diese Inhaltsbeschreibung etwas abzukürzen, dreht sich vor allem um das Schulversagen des Sohnes und die Pläne
der Mutter, die sie auch für den eigenen Kindern geheim hält.
Dann nimmt der Film eine radikale Wendung, als an einem einzigen Wochenende zunächst die Ehepläne von Mahnaz scheitern, weil der vorgesehene Bräutigam sich plötzlich alles anders überlegt, und weil einen Tag später Sohn Aliyar, der übers Wochenende beim Großvater untergebracht war, aus dem Fenster zu Tode stürzt.
Nun will die Mutter einfach Rache nehmen, um sich von ihrem Schmerz zu erlösen; sie sucht Schuldige, auch da, wo es keine gibt. So wird dieser Film endgültig zum Melodram um den Schmerz von Frauen im Iran, es geht nämlich nicht nur um die Mutter, sondern auch um deren Schwester, um beider Mutter und um Neda, die kleine Schwester des Toten. Das ist manchmal kitschig und dreht sich um in, zwei Wendungen zu viel, aber mit »Telenovela«, wie der italienische Freund Francesco das nannte, hat es auch nicht mehr zu tun, als die dramatisierenden Frauenportraits Fassbinders.
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»Woman and Child« wurde komplett im Inneren des Iran gedreht und hat die Zensur unbeschadet überstanden. In diesem Film tragen alle Frauen den Hidschab – selbst dann, wenn sie allein in ihrem Zimmer zu Hause sind. Es gibt keine Ausnahme, die es erlauben würde, auf dieses theokratische Gebot bei der Darstellung von Frauen auf der Leinwand unter dem tyrannischen Regime der Ajatollahs zu verzichten.
Dennoch ist festzuhalten, dass alle Frauen des Films – allen voran die Hauptfigur, eine verwitwete Krankenschwester – nicht nur die treibende Kraft der Handlung sind, sondern auch jene, die mit größter Entschlossenheit für ihre Lebensziele und ihre Entscheidungsfreiheiten kämpfen.
Erfüllt von Schmerz und Wut über den Verlust ihres Sohnes, treibt die Protagonistin ihre Sache bis an die Grenze zur Selbstaufgabe – beinahe zur Mörderin werdend – und bis
in den Wahnsinn hinein.
Aus dieser Perspektive ist das Panorama weiblicher Porträts, das der Film entwirft, von bemerkenswerter Modernität – ein offener Affront gegen das Patriarchat der iranischen Religionsdiktatur. Und das, obwohl oder vielleicht gerade weil der Hidschab in diesem sozialen Gefüge allgegenwärtig bleibt – eine Realität, die den gesellschaftlichen Kontext dort widerspiegelt. Allerdings muss erwähnt werden, dass das Iranbild, das der Film zeichnet, relativ idealisiert wirkt: Das Bildungssystem, die Krankenhäuser und sogar die Justiz scheinen hier reibungslos und gesetzeskonform ohne Korruption zu funktionieren – was das gesellschaftliche Porträt in einem geschönten Licht erscheinen lässt.
Zugleich führt die dramatische Konstruktion und Inszenierung die Geschichte unweigerlich in ein Terrain, das das Melodram berührt.
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Es gibt Proteste gegen diesen Film. Man kann hier einen entsprechenden Aufruf nachlesen.
Seit Jahren kenne ich M., eine Exil-Iranerin, die viel vom Kino versteht. Sie habe ich nach dieser politisch motivierten Kritik an »Woman and Child« gefragt.
Sie unterstütze den Boykottaufruf nicht aktiv, aber sie verstehe ihn. Die Kritik richte sich nicht gegen das einzelne Werk, »sondern gegen das, was es repräsentiert: das offizielle iranische Kino. Es gibt derzeit Boykottaufrufe gegen jede Form der Repräsentation, die von der Islamischen Republik legitimiert oder genehmigt wurde. Weil dieses 'offizielle' Kino Teil eines Systems ist, das Menschen mundtot macht – während es sich zugleich auf internationalen Festivals
glänzend präsentiert. Während einige Regisseure Berufsverbot haben, Frauen massiv unterdrückt werden, zeigen sich andere am roten Teppich und liefern dem Regime eine Art propagandistischen Beweis: 'Seht her, wir haben doch freie Kunst.' Das ist subtile, immaterielle Propaganda.« Symbolische Sichtbarkeit sei kein Beleg für Freiheit.
Auf meine Nachfrage, ob denn jeder Film, der aus dem Iran auf einem Festival läuft, und nicht illegal gedreht wurde, automatisch Propaganda
sei, auch ein durchaus kritischer Film, wie Roustaees Beitrag, antwortet M., es gehe nicht darum, ob ein Film 'kritisch' sei, sondern unter welchen Bedingungen er entstehen konnte. »Wenn jemand wie Roustaee das Land offiziell vertritt, bedeutet das zwangsläufig: Er hat sich zumindest in Teilen mit der Zensur arrangiert. Er tritt für ein Land auf, das Regisseure wie Rasoulof und Panahi ins Gefängnis steckt – weil sie sich nicht mit den idiotischen Richtlinien arrangieren
wollten.«
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Der von M. genannte Mohammad Rasoulof ist jetzt allerdings öffentlich für Saeed Roustaee und seinen Film eingetreten. Variety zitiert jetzt den kompletten offenen Brief Rasoulofs, der prinzipielle Fragen berührt und einige wichtige, weit über den Iran hinausgehende Unterscheidungen vornimmt.
Die wichtigsten hier auf Deutsch zitiert (das Original ist wie gesagt unter dem Link weiter oben nachlesbar): Er habe, so Rasoulof, Saeed Roustaee zur Einladung nach Cannes gratuliert.
»Für mich gibt es eine klare Unterscheidung zwischen den Propagandafilmen der Islamischen Republik und den Filmen, die unter dem Druck der Zensur entstehen. ...
Die Erwartung, dass kein Filmemacher im Iran mehr Zensurregeln oder den vorgeschriebenen Hidschab akzeptieren sollte, sei eine idealistische und bewundernswerte Vorstellung – aber ist sie praktisch umsetzbar? ... Selbst unter Zensur haben einige Filmemacher Wege gefunden, die Einschränkungen zu
umgehen. ...
Der gewaltfreie Kampf für die Freiheit ist ein langsamer, aber stetiger Prozess. Gleichzeitig dürfen wir – als Menschen, die an Meinungsfreiheit glauben und Zensur als ein Instrument der Kontrolle und Auslöschung betrachten – selbst nicht zu Werkzeugen des Ausschlusses werden.«
Abschließend möchte ich betonen, dass das iranische Kino ein breites Spektrum von Filmemachern umfasst.
Die Vorstellung, dass einige Personen versuchen, andere von der Teilnahme an internationalen Festivals auszuschließen, widerspricht den Prinzipien künstlerischer Freiheit – und sogar den grundlegenden Menschenrechten.
Ein solches Klima setzt auch iranische Filmschaffende unter immensen Druck, die nicht außerhalb des offiziellen Systems oder jenseits der
Zensur arbeiten können.
Sie stehen zwischen zwei Kräften: auf der einen Seite der Druck durch den Zensurapparat, auf der anderen Seite der Druck durch diejenigen, die jede Art professioneller Tätigkeit als Verrat am Volk oder als Komplizenschaft mit dem Regime brandmarken – und damit anderen das Recht absprechen, ihren eigenen Weg zu wählen. Für mich ist klar: Menschen haben unterschiedliche Fähigkeiten, Möglichkeiten und Lebensumstände. Nicht jeder kann das Risiko eingehen, einen Untergrundfilm zu drehen.
Ich möchte meinen Kampf lieber auf diejenigen richten, die diese Zensur auferlegen.
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Und dann ist da noch N., eine weitere iranische Filmkritikerin, die ich in diesem Jahr auf dem Festival kennengelernt habe. Auch sie lebt seit zwei Jahren im Westen im Exil.
Wir lernten uns kennen, als ich aus »Woman and Child« kam, und sie von mir wissen wollte, wie ich diesen Film im Vergleich zu Panahi fand. Unser Gespräch dauerte auch deswegen länger, weil ich mit meiner gewissen Panahi-Skepsis bei ihr auf einen Nerv traf. Ob er typisch ist oder eine Ausnahme darstellt, möchte ich hier nicht entscheiden. Jedenfalls kamen wir auf die allgemeine Frage der Wahrnehmung iranischer Filme durch ein westliches bürgerliches Publikum – und sie stimmte
mir zu, dass wir es uns im Westen in bestimmten Widerstandsposen recht bequem einrichten und den Widerstand vor allem in fernen Ländern wie dem Iran goutieren und feiern, aber selber über die eigenen Verhältnisse – die man natürlich nicht eins zu eins vergleichen kann –, nicht viel zu sagen haben. Ich bat sie um einen Artikel über genau diese Frage: Wie nimmst Du als Iranerin die westliche Wahrnehmung iranischer Filme wiederum wahr?
Zwei Tage dachte sie darüber nach, dann
schrieb sie mir folgende Nachricht: »Ich habe mich mit mehreren Regisseuren, Redakteuren und Kritikern, die im Iran leben, beraten, um über diese beiden iranischen Filme zu schreiben. Es scheint, dass es einen harten Kampf zwischen den beiden Seiten des Films gibt. Obwohl ich an meine eigene Meinung und Perspektive glaube, habe ich beschlossen, nicht über die iranischen Filme des Festivals zu schreiben und sie zu rezensieren. ... weil meine Mutter und mein Bruder noch im Iran leben und
ich immer in Sorge bin, dass sie unter Druck geraten und Schaden nehmen könnten. Deshalb habe ich meine Aufzeichnungen aufbewahrt und in eine Ecke meines Notizbuchs gelegt. Es scheint, dass sich das iranische Kino derzeit in einer schweren Krise befindet, und es scheint, dass es derzeit nicht sehr angenehm ist, über die Goldene Palme zu sprechen.«
Das müssen wir so akzeptieren.
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Ich stehe dazu: Ich bin als Filmkritiker in erster Linie Kunstkritiker, nicht Politikkritiker. Ich bewerte die Filme, die ich sehe, in allererster Linie nach ihrem ästhetischen Eindruck, aber weder nach ihrer politischen Bedeutung, noch danach, ob die politischen Ansichten, die der Film ausdrückt, oder die Regie propagiert, mir sympathisch sind oder nicht. Ich würde lieber von der Autonomie des Ästhetischen reden.
Dazu mehr im nächsten, abschließenden
Cannes-Tagebuch.