24.05.2025
78. Filmfestspiele Cannes 2025

Wer ist reif für die Goldene Palme?

O agente secreto
Hätte die Goldene Palme einschränkungslos verdient: O agente secreto
(Foto: Filmfestival Cannes)

Luxusprobleme für die Jury: Am Tag vor der Preisvergabe stellt sich die Frage: Wer wird gewinnen? Und wer sollte es? – Cannes-Tagebuch, 7. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Justice is compli­cated.« – The Appren­tice

An diesem Samstag werden am Abend die Goldene Palme, eine Handvoll Silberne Palmen und viele weitere Preise verliehen. Davor gibt es noch eine Menge zu sehen: zwei Wett­be­werbs­filme haben erst noch ihre Premieren, vor allem aber die Reprise des Wett­be­werbs, in der wir Akkre­di­tierten die Möglich­keit haben, jeden Wett­be­werbs­film, den wir verpasst haben, nach­zu­holen – voraus­ge­setzt uns gelingt es, in dem nicht unkom­pli­zierten Ticket­system zwischen 7:00 Uhr und 7:02 Uhr morgens eine Karte zu ergattern. Oder man hat später das Glück, dass man dann gerade online ist, wenn jemand eine Karte zurück­gibt. Es kann außerdem natürlich passieren, dass die zwei, drei Filme, die wir nachholen müssen, alle parallel zuein­ander liegen. Wer zehn Filme verpasst hat, hat nur die Chance, die Goldene Palme nach der Preis­ver­lei­hung zu sehen.

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Aber wer sollte denn heute Abend Preise gewinnen? Und wer wird gewinnen? Denn Sein und Sollen sind ja gerade bei einem Film­fes­tival selten dasselbe.

Tatsäch­lich gibt es mindes­tens vier Filme, bei denen ich mit einer Goldenen Palme einschrän­kungslos sehr zufrieden wäre. Da ist zum einen der deutsche Film Sounds of Falling von Mascha Schi­linski; zum zweiten Olivier Laxe’s Film Sirat. Dann ist da Nouvelle Vague von Richard Linklater. Und schließ­lich vor allem O agente secreto von Kleber Mendonça Filho.

Dieser brasi­lia­ni­sche Film wäre meine ganz persön­liche Goldene Palme! Ich finde ihn den einer­seits komplet­testen und dann wiederum auch alles in allem den mutigsten Film im ganzen Wett­be­werb. Und Kleber Mendonça Filho ist nach seiner dritten Wett­be­werbs­teil­nahme in Cannes auch reif für diesen Preis.
Dem deutschen Film würde ich – wäre allein ich die Jury nach dem beim Medi­en­board Berlin-Bran­den­burg so bewährten Inten­dan­ten­prinzip – den »Grand Prix de Jury« oder den Regie­preis geben. Einen solchen Preis könnte auch Laxe bekommen. Das Ensemble von Nouvelle Vague hätte einen Preis verdient, genauso wie man sich für den Film einen Dreh­buch­preis oder den kleineren »Prix de Jury« vorstellen kann. Oder zwei solche Preise.
Aber dann ginge schon der ebenfalls sehr gute iranische Film Woman and Child von Saeed Roustaee – über den ich morgen hier im nächsten Cannes-Tagebuch noch vor der Preis­ver­lei­hung ausführ­li­cher schreiben werde – leer aus. Mit solchen Luxus­pro­blemen hat die Jury jetzt gerade, einen guten Tag vor der Preis­ver­gabe, zu kämpfen.

Den Preis für den besten Schau­spieler würde ich an Stellan Skarsgard geben, für seinen charis­ma­ti­schen Auftritt in dem ansonsten nicht wirklich über­zeu­genden Senti­mental Value vom Norweger Joachim Trier. Man kann sich hier aber natürlich auch Wagner Moura, den Haupt­dar­steller von »O agente secreto« vorstellen.
Als beste Darstel­lerin könnte man mit – trotz allem! – Jennifer Lawrence die Ameri­kaner etwas zufrie­den­stellen. Die größte Neuent­de­ckung war Mia Threa­p­leton (die Tochter von Kate Winslet) in Wes Andersons ansonsten vor allem ermü­dendem The Phoe­ni­cian Scheme. Und die vier Haupt­dar­stel­le­rinnen in Woman and Child. Oder eine Französin.

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Wer aber wird denn wirklich die Preis bekommen? Denn Wünsche werden selten wahr. Die Antwort hierauf ist weitaus schwie­riger. Ich glaube, dass Jafar Panahi sehr gut einen Regie­preis kriegen könnte, aber ebenso auch den »Prix de Jury«. Für einen Haupt­preis wird es nicht langen, dafür ist sein Film zu schwach.
Fürchten muss man einen großen Preis für Trier, dessen Film aus mir uner­klär­li­chen Gründen bei vielen sehr gut ankommt.
Wenn der Haupt­preis politisch korrekt vergeben werden sollte, dann müsste es eine Goldene Palme für eine Frau geben, und dann wäre der iranische Film ein wunder­barer Kandidat.

Glaubt man den Kriti­ker­listen, dann haben Panahi und absur­der­weise Sergei Loznitsa für die älteren Herr­schaften von Screen daily die besten Filme gemacht, wobei 3,1 eine schwache Bewertung ist. Bei den Franzosen führt The Secret Agent vor Sirat. Das würde mir so passen.

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Nach elf Tagen Festival tun einem alle Knochen weh. Jeden Tag gibt es zu wenig Schlaf und jeden Tag fünf bis sechs Filme.

In den letzten Tagen werden die Menschen hier auch zunehmend gereizter. Zum Beispiel unter dem eigent­lich immer freund­li­chen Sicher­heits­per­sonal gab es plötzlich einen Menschen, der offen­sicht­lich schlechte Laune hatte und mir nach 12 Tagen die Taschen­kon­trolle erklären wollte.

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Was machten eigent­lich die anderen Deutschen hier? Schon feste Größen im Weltkino sind seit 20 Jahren Fatih Akin und Christian Petzold, deren neue Filme hier in Neben­reihen zu sehen waren: In einer überaus groß­zü­gigen Geste hat Akin mit Amrum einen »Hark Bohm- Film von Fatih Akin« gedreht: Seit Jahr­zehnten wollte der heute 86-jährige Bohm, sozi­al­kri­ti­scher Regie-Star der 70er Jahre, seine persön­liche Kind­heits­ge­schichte erzählen. Weil ihm dafür zuletzt die Kraft fehlte, hat Akin dies nun in enger Abstim­mung mit Bohm über­nommen. Die Haupt­rollen spielen Laura Tonke und Diane Krüger. Das Ergebnis ist das eindring­liche Portrait einer Familie im Frühjahr 1945, dem Übergang von NS-Diktatur zur Demo­kratie.

Fatih Akin kommen­tierte seinen Film: »Amrum handelt von der Vertrei­bung aus dem Paradies. Dieser Film war eine Mission, eine Reise in die Tiefen meiner 'Deutschen Seele'. Viel­leicht die letzte Lektion, die mich Meister Hark Bohm gelehrt hat: das Kino bleibt ein ewiges Mysterium.«

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Vom Umgang mit Verdrängtem erzählt auch der frisch­ge­ba­ckene Viennale-Präsident Christian Petzold, der mit fast 65 Jahren und seinem 19 Film nun erstmals doch noch nach Cannes einge­laden wurde: Miroirs No 3, benannt nach einem Stück von Ravel, dreht sich um Laura (Paula Baer), eine junge Pianistin aus Berlin, die nach einem schweren Auto­un­fall auf dem Land und dem sehr beiläufig erzählten Tod ihres Lovers, für ein paar Tage zur Erholung von einer älteren Dorf­be­woh­nerin aufge­nommen wird. Es kommt danach zu einigen Merk­wür­dig­keiten, begleitet von den Petzold-typischen Erzähl-Manie­rismen und Bildungs­zi­taten, doch allmäh­lich stellt sich heraus, was man als aufmerk­samer Zuschauer schon schnell ahnen konnte: Dass die Gast­ge­berin (Barbara Auer) in Laura ihre verstor­bene Tochter stell­ver­tre­tend wieder zum Leben zu erwecken sucht.
Petzold, der als Regisseur dazu neigt, seine Schau­spieler eher schlaf­wand­le­risch und statisch agieren zu lassen und wie Mario­netten immer neu zu kostü­mieren und zu arran­gieren, verdop­pelt hier gewis­ser­maßen seine Arbeits­me­thode ins Sichtbare der Lein­wand­ge­schichte – man könnte daher sagen, dies ist der persön­lichste Film dieses Regis­seurs.

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In Cannes margi­na­li­siert die offi­zi­elle Selektion diese Neben­reihen... Ich habe nichts aus der dies­jäh­rigen Ausgabe der Semaine de la Critique gesehen. Das Lob einer deutschen Kollegin steht aber relativ allein da, wenn ich mich so bei inter­na­tio­nalen Film­kri­ti­kern umhöre. In der Quinzaine gab es zwei, drei Filme, sagt der Italiener Ugo, der 7000 Zeichen am Tag schreiben muss, und fast die komplette Quinzaine für eines seiner Medien abdeckt. Paulo und Anna Maria haben einzelne Filme gesehen und sprechen von »Schüler-Niveau«. Das ist erst recht hart, wenn man sich überlegt, dass die Italiener norma­ler­weise freund­li­cher und relaxter sind, als wir Deutschen – aller­dings auch emotio­naler, oder eher bereit, ihren Emotionen auch Ausdruck zu geben. Deswegen schimpfen sie auch einfach mal gerne, wenn sie wütend sind. Und offenbar macht manches in der dies­jäh­rigen Quinzaine diese Kollegen wütend.