78. Filmfestspiele Cannes 2025
Wer ist reif für die Goldene Palme? |
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Hätte die Goldene Palme einschränkungslos verdient: O agente secreto | ||
(Foto: Filmfestival Cannes) |
»Justice is complicated.« – The Apprentice
An diesem Samstag werden am Abend die Goldene Palme, eine Handvoll Silberne Palmen und viele weitere Preise verliehen. Davor gibt es noch eine Menge zu sehen: zwei Wettbewerbsfilme haben erst noch ihre Premieren, vor allem aber die Reprise des Wettbewerbs, in der wir Akkreditierten die Möglichkeit haben, jeden Wettbewerbsfilm, den wir verpasst haben, nachzuholen – vorausgesetzt uns gelingt es, in dem nicht unkomplizierten Ticketsystem zwischen 7:00 Uhr und 7:02 Uhr morgens eine Karte zu ergattern. Oder man hat später das Glück, dass man dann gerade online ist, wenn jemand eine Karte zurückgibt. Es kann außerdem natürlich passieren, dass die zwei, drei Filme, die wir nachholen müssen, alle parallel zueinander liegen. Wer zehn Filme verpasst hat, hat nur die Chance, die Goldene Palme nach der Preisverleihung zu sehen.
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Aber wer sollte denn heute Abend Preise gewinnen? Und wer wird gewinnen? Denn Sein und Sollen sind ja gerade bei einem Filmfestival selten dasselbe.
Tatsächlich gibt es mindestens vier Filme, bei denen ich mit einer Goldenen Palme einschränkungslos sehr zufrieden wäre. Da ist zum einen der deutsche Film Sounds of Falling von Mascha Schilinski; zum zweiten Olivier Laxe’s Film Sirat. Dann ist da Nouvelle Vague von Richard Linklater. Und schließlich vor allem O agente secreto von Kleber Mendonça Filho.
Dieser brasilianische Film wäre meine ganz persönliche Goldene Palme! Ich finde ihn den einerseits komplettesten und dann wiederum auch alles in allem den mutigsten Film im ganzen Wettbewerb. Und Kleber Mendonça Filho ist nach seiner dritten Wettbewerbsteilnahme in Cannes auch reif für diesen Preis.
Dem deutschen Film würde ich – wäre allein ich die Jury nach dem beim Medienboard Berlin-Brandenburg so bewährten Intendantenprinzip – den »Grand Prix de Jury«
oder den Regiepreis geben. Einen solchen Preis könnte auch Laxe bekommen. Das Ensemble von Nouvelle Vague hätte einen Preis verdient, genauso wie man sich für den Film einen Drehbuchpreis oder den kleineren »Prix de Jury« vorstellen kann. Oder zwei solche Preise.
Aber dann ginge schon der ebenfalls sehr gute iranische Film Woman and Child von Saeed Roustaee – über den ich morgen hier im nächsten Cannes-Tagebuch noch vor der
Preisverleihung ausführlicher schreiben werde – leer aus. Mit solchen Luxusproblemen hat die Jury jetzt gerade, einen guten Tag vor der Preisvergabe, zu kämpfen.
Den Preis für den besten Schauspieler würde ich an Stellan Skarsgard geben, für seinen charismatischen Auftritt in dem ansonsten nicht wirklich überzeugenden Sentimental Value vom Norweger Joachim Trier. Man kann sich hier aber natürlich auch Wagner Moura, den Hauptdarsteller von »O agente secreto« vorstellen.
Als beste Darstellerin könnte man mit – trotz allem! – Jennifer Lawrence die Amerikaner etwas zufriedenstellen. Die größte
Neuentdeckung war Mia Threapleton (die Tochter von Kate Winslet) in Wes Andersons ansonsten vor allem ermüdendem The Phoenician Scheme. Und die vier Hauptdarstellerinnen in Woman and Child. Oder eine Französin.
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Wer aber wird denn wirklich die Preis bekommen? Denn Wünsche werden selten wahr. Die Antwort hierauf ist weitaus schwieriger. Ich glaube, dass Jafar Panahi sehr gut einen Regiepreis kriegen könnte, aber ebenso auch den »Prix de Jury«. Für einen Hauptpreis wird es nicht langen, dafür ist sein Film zu schwach.
Fürchten muss man einen großen Preis für Trier, dessen Film aus mir unerklärlichen Gründen bei vielen sehr gut ankommt.
Wenn der Hauptpreis politisch korrekt vergeben werden
sollte, dann müsste es eine Goldene Palme für eine Frau geben, und dann wäre der iranische Film ein wunderbarer Kandidat.
Glaubt man den Kritikerlisten, dann haben Panahi und absurderweise Sergei Loznitsa für die älteren Herrschaften von Screen daily die besten Filme gemacht, wobei 3,1 eine schwache Bewertung ist. Bei den Franzosen führt The Secret Agent vor Sirat. Das würde mir so passen.
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Nach elf Tagen Festival tun einem alle Knochen weh. Jeden Tag gibt es zu wenig Schlaf und jeden Tag fünf bis sechs Filme.
In den letzten Tagen werden die Menschen hier auch zunehmend gereizter. Zum Beispiel unter dem eigentlich immer freundlichen Sicherheitspersonal gab es plötzlich einen Menschen, der offensichtlich schlechte Laune hatte und mir nach 12 Tagen die Taschenkontrolle erklären wollte.
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Was machten eigentlich die anderen Deutschen hier? Schon feste Größen im Weltkino sind seit 20 Jahren Fatih Akin und Christian Petzold, deren neue Filme hier in Nebenreihen zu sehen waren: In einer überaus großzügigen Geste hat Akin mit Amrum einen »Hark Bohm- Film von Fatih Akin« gedreht: Seit Jahrzehnten wollte der heute 86-jährige Bohm, sozialkritischer Regie-Star der 70er Jahre, seine persönliche Kindheitsgeschichte erzählen. Weil ihm dafür zuletzt die Kraft fehlte, hat Akin dies nun in enger Abstimmung mit Bohm übernommen. Die Hauptrollen spielen Laura Tonke und Diane Krüger. Das Ergebnis ist das eindringliche Portrait einer Familie im Frühjahr 1945, dem Übergang von NS-Diktatur zur Demokratie.
Fatih Akin kommentierte seinen Film: »Amrum handelt von der Vertreibung aus dem Paradies. Dieser Film war eine Mission, eine Reise in die Tiefen meiner 'Deutschen Seele'. Vielleicht die letzte Lektion, die mich Meister Hark Bohm gelehrt hat: das Kino bleibt ein ewiges Mysterium.«
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Vom Umgang mit Verdrängtem erzählt auch der frischgebackene Viennale-Präsident Christian Petzold, der mit fast 65 Jahren und seinem 19 Film nun erstmals doch noch nach Cannes eingeladen wurde: Miroirs No 3, benannt nach einem Stück von Ravel, dreht sich um Laura (Paula Baer), eine junge Pianistin aus Berlin, die nach einem schweren Autounfall auf dem Land und dem sehr beiläufig erzählten Tod ihres Lovers, für ein paar Tage zur Erholung von einer älteren
Dorfbewohnerin aufgenommen wird. Es kommt danach zu einigen Merkwürdigkeiten, begleitet von den Petzold-typischen Erzähl-Manierismen und Bildungszitaten, doch allmählich stellt sich heraus, was man als aufmerksamer Zuschauer schon schnell ahnen konnte: Dass die Gastgeberin (Barbara Auer) in Laura ihre verstorbene Tochter stellvertretend wieder zum Leben zu erwecken sucht.
Petzold, der als Regisseur dazu neigt, seine Schauspieler eher schlafwandlerisch und statisch
agieren zu lassen und wie Marionetten immer neu zu kostümieren und zu arrangieren, verdoppelt hier gewissermaßen seine Arbeitsmethode ins Sichtbare der Leinwandgeschichte – man könnte daher sagen, dies ist der persönlichste Film dieses Regisseurs.
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In Cannes marginalisiert die offizielle Selektion diese Nebenreihen... Ich habe nichts aus der diesjährigen Ausgabe der Semaine de la Critique gesehen. Das Lob einer deutschen Kollegin steht aber relativ allein da, wenn ich mich so bei internationalen Filmkritikern umhöre. In der Quinzaine gab es zwei, drei Filme, sagt der Italiener Ugo, der 7000 Zeichen am Tag schreiben muss, und fast die komplette Quinzaine für eines seiner Medien abdeckt. Paulo und Anna Maria haben einzelne Filme gesehen und sprechen von »Schüler-Niveau«. Das ist erst recht hart, wenn man sich überlegt, dass die Italiener normalerweise freundlicher und relaxter sind, als wir Deutschen – allerdings auch emotionaler, oder eher bereit, ihren Emotionen auch Ausdruck zu geben. Deswegen schimpfen sie auch einfach mal gerne, wenn sie wütend sind. Und offenbar macht manches in der diesjährigen Quinzaine diese Kollegen wütend.