Cinema Moralia – Folge 352
Der deutsche Film und sein Preis |
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Mit Abstand bester Film in fast allen Kategorien: September 5 | ||
(Foto: Constantin) |
»Denn wir wissen ganz bestimmt/ Dass wir beide Schatten sind/ Diese werfen diese nicht/
Man kann sich selber nicht erlangen/ Der Grund vor uns war schwarz vor Augen/
Wir verlangen eine Wiederholung dessen/ Gegen das Vergessen
Was wir waren noch vor Jahren«
– Tocotronic, Schatten werfen keine Schatten»Ein Volk will Weltpolitik machen, aber kann keinen Vertrag halten; kolonisieren, aber beherrscht keine Sprachen; mittlere Rollen übernehmen, aber faustisch suchend – jeder glaubt, er habe etwas zu sagen, aber keiner kann reden – keine Distanz, keine Rhetorik – elegante Erscheinungen nennen sie einen Fatzke – ihre Ansichten kommen mit dicken Hintern; in jedem Club fielen sie auf.«
– Gottfried Benn
Leute, die wenig von der Sache verstehen, reden über Kulturförderung gerne so, als ginge es um Almosen. Als ginge es darum, irgendwelchen Akademikern, die Orchideenfächer studiert oder gleich eine Nichtsnutzausbildung hinter sich haben, ein Austragsstüberl zu gewährleisten. Darum – auch wenn Kultur keinesfalls auf eine Ware reduziert werden darf – betrachten wir die Sache doch mal ganz ökonomisch:
Der Gesamtumsatz der Kultur- und Kreativwirtschaft in der Bundesrepublik betrug 2023 204,6 Milliarden Euro. Dies entspricht 2,2 Prozent des gesamten Umsatzes der deutschen Wirtschaft und übertraf damit die Umsätze aus dem Jahr 2019.
Die Kultur- und Kreativwirtschaft erwirtschaftet eine Bruttowertschöpfung von 103,7 Milliarden Euro und beschäftigt fast 1,8 Millionen Erwerbstätige.
Die öffentliche Kulturförderung in Deutschland betrug im Jahr 2020 14,5
Milliarden Euro. Davon entfielen allein knapp 4,56 Milliarden Euro auf den Bereich Theater und Musik.
Genaues Hinsehen lohnt sich, betont auch der Deutsche Kulturrat, auf dessen Website sich viele Zahlen und Daten und auch die alljährlichen Monitoringberichte nachlesen lassen, wenn man mehr wissen will.
Die Frage ist: Lesen das die Richtigen?
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Thema soll aber heute in einem, wegen der Cannes-Eröffnung um einen Tag verspäteten »Cinema Moralia«, das Feld sein, auf dem immer noch – gerade im Verhältnis zu dem oben genannten Gesamtvolumen der öffentlichen Kulturförderung – viel zu wenig ausgegeben wird und oft genug leider an der falschen Stelle.
Der Deutsche Filmpreis, der früher Bundesfilmpreis hieß und am vergangenen Freitag zum 75. Mal verliehen wurde, ist eigentlich ein Preis der
Bundeskulturförderung, nicht der Filmakademie.
Bis zum vergangenen Jahr gab es dort mit den Filmpreisen auch öffentliche Gelder, die von der grünen Kulturstaatsministerin Claudia Roth 2024 leider komplett gestrichen wurden. Ein Teil davon ist zwar in die Filmförderung hineingewandert, das aber auch nur, um dortige Kürzungen zu kaschieren. Diese ersatzlose Streichung der Preisgelder beim wichtigsten Kulturpreis der Bundesrepublik Deutschland ist ein Skandal und
sollte unbedingt rückgängig gemacht werden!
Gleich mitändern sollte man meiner Meinung nach die Verleihungsprozedur und die Veranstaltung selbst – ein hervorragendes Beispiel gab dafür die Preisverleihung vom vergangenen Freitag.
Die Filmakademie hat ihre Chance gehabt, nach über 20 Jahren Filmpreis bei der Filmakademie sollte die Preisvergabe und die Veranstaltung in andere, bessere Hände gelegt werden. Vorschläge dafür liegen vor und können jederzeit von vielen gemacht werden, auch übrigens von Akademiemitgliedern, die ja oft die Kritik teilen.
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Dreierlei mal vorweg: Es hat der mit Abstand beste Film in fast allen Kategorien gewonnen: September 5 von Tim Fehlbaum. Sehr zu recht!! Und zum großen Glück für die Filmakademie, weil hier im Ergebnis aus einer sehr schlechten, die ästhetische Vielfalt des deutschen Kinos unterschlagenden Vornominierung noch das Beste gemacht wurde.
Zweitens ändert das aber überhaupt nichts an den grundsätzlichen, schon oft erwähnten Problemen: Ein Kinofilmpreis wird nicht nach Kinosichtung vergeben; niemand kann kontrollieren, ob die abstimmenden Filmakademiemitglieder die Filme, die sie sehen sollen, wirklich sehen, und wie; und niemand zwingt die Abstimmenden, alle Filme zu sehen, um überhaupt vergleichen zu können.
Kulturlosigkeit – und das ist noch milde formuliert – ist es, was man der Filmakademie und ihrer deutschen Filmgemeinde vorhalten muss. Diese deutsche Filmcommunity weiß in ihrer Mehrheit überhaupt nicht, diesen Eindruck muss man bekommen, was Kultur ist. Sie wären nicht in der Lage, Seriöses über Thomas Mann zu sagen oder wenn wir schon mal beim Film sind, über einen Film von Jean Luc Godard oder Leos Carax zu diskutieren. Wer von ihnen hat je einen Film von Murnau
gesehen und wer davon einen im Kino?
Das alles wäre für die allermeisten Menschen auch im Filmbereich nicht einmal schlimm, denn sie müssen gar nicht künstlerisch arbeiten, sondern Dienstleistungen erbringen. Sie sind Handwerker oder Händler. Das Problem ist, dass sie sich ermächtigen; dass sie glauben, zu allem etwas zu sagen zu haben und vor allem zur Politik, und dass leider in einem kulturlosen Land Prominenz auch mit Kompetenz verwechselt wird. Denn die Bürger sind ja nicht
besser, teilweise sogar noch schlechter.
Christian Friedel zum Beispiel, der Moderator vom Freitag ist ein sehr gebildeter Mensch, der hochinteressante Dinge über seine Arbeit zu sagen hat. Aber muss dieser Christian Friedel wirklich auf der Veranstaltung singen? Und ist es gut, wie er singt?
Was er singt, war auf keinen Fall gut – es war einfach kitschiger Schmalz, der zu so einer Veranstaltung nicht passt, selbst wenn die Veranstaltung schlecht war. Weil er sie noch schlechter macht.
Wer vorgestern die Eröffnung der Filmfestspiele von Cannes gesehen hat, die übrigens live zur Hauptsendezeit im französischen öffentlich-rechtlichen Fernsehen übertragen wurde – nicht etwa geschnitten und gekürzt zu allerspätester Stunde wie der Deutsche Filmpreis –, und außerdem in Hunderte von französischen Kinos live gestreamt, wo auch tatsächlich nicht wenige Leute saßen, wer also diese Veranstaltung gesehen hat, der hat alles erfahren über den Unterschied zwischen französischer Filmkultur und deutscher Filmunkultur und Geschmacklosigkeit. Denn es ist ja falsch, dass man über Geschmack nicht streiten könnte – im Gegenteil man muss über Geschmack streiten und zwar immer und immer wieder!
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Geld hat die Filmakademie in jedem Fall nicht genug, das merkt man der Veranstaltung an, und schon deswegen ist dies kein »deutscher Oscar«. Alles drumherum ist überaus dürftig, und es langt nicht mal für Pommes.
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Christian Friedel ist ein anständiger Moderator. Aber in den wahrscheinlich nicht von ihm selbst geschriebenen Moderationen kommt der deutsche Film doch ohne ganz viele – und zwar viel zu viele – Superlative nicht aus: Schon der allererste Satz: ein wunderbarer Abend, großartige Nominierung, ein starker Jahrgang, große Ehre, große Freude, die tolle Vicky Krieps, der tolle Florian Gallenberger... Kein Name kommt ohne ein superlativistisches Adjektiv aus.
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Zur Vielfalt: Vielfalt bedeutet nicht bunte Hautfarben und internationale Herkunft und x Geschlechter, sondern es bedeutet Ästhetik und Haltungen der Welt gegenüber, die sich dann im Werk zeigen.
Der deutsche Film ist nicht vielfältig, bloß weil sich manche Filmmänner die Nägel lackieren und er einem iranischen Dissidenten dabei finanziell unter die Arme greift, seinen Film fertig zu machen und ihn dann als deutschen Film deklariert, vulgo: vereinnahmt, um beim Oscar eine
Chance zu bekommen.
Es gibt eben nicht zwei Gruppen von Bürgern, keine besseren und schlechteren, und schon gar keine »Passdeutschen« (Tino Chrupalla), und darum auch keine bunten, besseren Filme, und böse Filme von weißen Männern. Darum geht es nicht und soll es nicht gehen.
Es geht um etwas ganz anderes, nicht um Menschen, sondern um Kunstwerke. Das wollen manche nicht verstehen, die es besser wissen. Sie vermischen es bewusst und rücken Menschen, die daran Zweifel anmelden, ob es die allerbeste Idee ist, einen Film, als »deutsch« zu deklarieren, der nicht nur »im Iran gedreht« wurde, sondern eine iranische Handlung erzählt, in persischer Sprache, mit ausschließlich iranischen Darstellern und fast allen Kreativen aus dem Iran und von einem iranischen Regisseur (Mohammad Rasoulof; Die Saat des heiligen Feigenbaums). Oder ob das nicht ein idealtypisches Beispiel der gern verpönten kulturellen Aneignung ist?
Es ist darum eine ganz schöne Frechheit und das Gegenteil offener »wertschätzender« Debattenkultur, wenn der iranisch-stämmige Produktionsassistent, der nach der Premiere in Cannes zum Co-Produzenten wurde, die Kritiker an dieser Nominierung/Preisvergabe in seiner Dankesrede in Zusammenhang mit »Blut und Boden und Heimatpflege« rückt, also vulgo: Zu Nazis erklärt.
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Wenn die Maßstäbe, die für Mohammad Rasoulof gehörig gedreht wurden, gerechterweise für alle gelten, dann konkurrieren in Zukunft Nuri Bilge Ceylan und Ruben Östlund zusammen mit allen anderen ARTE-Grand Accord-Filmen um den deutschen Filmpreis.
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Vielfalt wäre es übrigens auch, wenn die Preisverleihung nach nun 20 Jahren vielleicht nicht immer wieder in Berlin stattfinden würde, sondern jedes Jahr (ähnlich wie die europäische Filmakademie) rotierend in einem anderen Bundesland, wo dann die entsprechenden Länderförderer und öffentlich-rechtlichen Fernsehsender der Länder wetteifern könnten, wer von ihnen denn die beste Ausrichtung schafft und wer irgendwie die schönste Preisverleihung macht.
Das würde
übrigens auch dazu führen, dass die nervtötende Berliner Filmblase nicht diese Akademieveranstaltungen immer so entsetzlich dominiert.
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Es war ebenfalls kein Beispiel kultureller Offenheit oder Neugier, wenn der Co-Präsident der Akademie, Regisseur Florian Gallenberger, den parteilosen neuen Kulturstaatsminister mit plumpen Fragen nach der Ausrichtung seiner Politik begrüßte. Claudia Roth wurde das nie gefragt.
Weimer antwortete höflich: »Die Kulturpolitik wird mit dieser Regierung und mit mir bestimmt nicht nach rechts rücken, sie wird aber auch nicht nach links gerückt. ... Der einzige Kulturkampf, den ich führen will, ist der Kampf für die Kultur.« Und dann konterte er mit Schiller: »Freiheit ist die Mutter der Kunst«.
Traurigerweise fiel dazu zwei Stunden später dann Karoline Herfurth, die aus der DDR stammt, nur ein: »Freiheit. Das ist ein Wort, Herr Weimer. Da sprechen wir vielleicht noch einmal drüber, aber nicht jetzt.«
Trotz Gnade später Geburt könnte es Herfurth besser wissen: »Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.« (Rosa Luxemburg).
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Am Ende zählen natürlich nicht Worte, sondern Taten. Das gilt auch für die Filmakademie. In der Praxis ist sie nämlich schon – opportunistisch oder liberal? Das liegt im Auge der Betrachter – ganz sanft auf den vermutlichen Kurs der neuen Regierung eingeschwenkt. Das zeigte sich an zwei überraschenden Einladungen: Wolf Biermann, der einst von keinem anderen als Wolfram Weimer zum Autor des Springer-Verlags und der »Welt am Sonntag« gemacht wurde, und Juli Zeh, die sich in breiten linksliberalen Kulturkreisen mit ihren Positionen während der Corona-Pandemie und zur Cancel-Culture – »Ein falsch formulierter Satz kann zum Problem werden« – recht unbeliebt gemacht hat, kamen beide zu überraschenden Kurzeinsätzen bei der Preisverleihung am letzten Freitag.
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Biermann, der sich als Kommunistenkind und Judensohn vorstellte, erklärte der Akademie, warum er Pazifismus falsch findet, und sich freut, dass die Amerikaner die Welt von den Nazis mit Waffengewalt befreit haben.
Wenn man daneben dann den schmierigen Film In Liebe, Eure Hilde von Andreas Dresen sah, der leider mit sieben Nominierungen bedacht wurde, war die Kluft unübersehbar: Der
Dresen-Film zeigt die Nazis als Nichtnazis und nette Menschen; er entpolitisiert die Widerstandsgruppe Rote Kapelle vollkommen und unterschlägt, dass das eben nicht nette unpolitische Leute waren, sondern Marxisten.
Immerhin bekam der Film kaum einen Preis. Der für Liv Lisa Fries als beste Hauptdarstellerin zählt nicht, weil Schauspielpreise Personenpreise sind. Und die Bronze-Lola ist für diesen Film schlimmer als gar kein Preis. Das ist wie »erst im dritten Wahlgang«.
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Der Höhepunkt des Abends war die Laudatio von Dominik Graf auf die Casterin An Dorthe Braker. Erstmal sprach Graf mit feinen Spitzen von der »lieben Berliner Filmakademie« und dann nochmal von »dieser germanischen Akademie«.
Er lobte Braker für »Sensibilität, Professionalität, Durchhaltekraft, Verständnis, Tatkraft, dann große Planung«, erwähnte, »wie sehr ich dich auch an meiner Seite gebraucht habe.«
Braker, »der Urknall des Castings in Deutschland«, hielt selbst eine sehr gute, souveräne Rede.
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Ja, und dann Margot Friedländer. Eine tolle Frau. Aber warum musste sie noch im Tod der Akademie dafür dienen, dass alle von sich selber total eingenommen sind, davon, auf der richtigen Seite zu stehen?
Man kann der Filmakademie vieles vorwerfen, aber nicht, dass sie sich in der Frage des Antisemitismus in der deutschen Kultur nicht einigermaßen klar positioniert hätte.
Gerade darum spricht es Bände, wenn die Mitglieder derselben Akademie einem Film wie RP Kahls Die Ermittlung jegliche Nominierung versagen und auch andere Filme, die sich in etwas unbequemerer Weise mit Antisemitismus und
Faschismus auseinandersetzen, die nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner suchen, ignoriert. Wenn zwar viele Äußerungen gegen den vermeintlich reaktionären neuen Kulturstaatsminister fallen, aber nicht eine einzige gegen die AFD – außer eben von Igor Levitt, der auch Margot Friedländer erwähnt hat. Er steht für die direkte Rede, für die Akademie gerade nicht steht.
Wenn die Akademie jemals eine relevante Stimme in der deutschen Kultur werden will, muss sie lernen, klar und
kompromisslos zu sein. Margot Friedländer zu ehren ist natürlich nicht falsch, aber zu einfach und zu billig.
Dazu hat die immer wieder sehr lesenswerte Johanna Adorjan in einem klugen Nachruf zu Margot Friedländer in der Süddeutschen alles gesagt: »Auf sie konnten sich alle einigen.«