15.05.2025
Cinema Moralia – Folge 352

Der deutsche Film und sein Preis

September 5
Mit Abstand bester Film in fast allen Kategorien: September 5
(Foto: Constantin)

Schatten werfen keine Schatten: Die Filmakademieveranstaltung und der 75. Deutsche Filmpreis – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 352. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Denn wir wissen ganz bestimmt/ Dass wir beide Schatten sind/ Diese werfen diese nicht/
Man kann sich selber nicht erlangen/ Der Grund vor uns war schwarz vor Augen/
Wir verlangen eine Wieder­ho­lung dessen/ Gegen das Vergessen
Was wir waren noch vor Jahren«

– Toco­tronic, Schatten werfen keine Schatten

»Ein Volk will Welt­po­litik machen, aber kann keinen Vertrag halten; kolo­ni­sieren, aber beherrscht keine Sprachen; mittlere Rollen über­nehmen, aber faustisch suchend – jeder glaubt, er habe etwas zu sagen, aber keiner kann reden – keine Distanz, keine Rhetorik – elegante Erschei­nungen nennen sie einen Fatzke – ihre Ansichten kommen mit dicken Hintern; in jedem Club fielen sie auf.«
– Gottfried Benn

Leute, die wenig von der Sache verstehen, reden über Kultur­för­de­rung gerne so, als ginge es um Almosen. Als ginge es darum, irgend­wel­chen Akade­mi­kern, die Orchi­deen­fächer studiert oder gleich eine Nichts­nutz­aus­bil­dung hinter sich haben, ein Austrags­stü­berl zu gewähr­leisten. Darum – auch wenn Kultur keines­falls auf eine Ware reduziert werden darf – betrachten wir die Sache doch mal ganz ökono­misch:

Der Gesamt­um­satz der Kultur- und Krea­tiv­wirt­schaft in der Bundes­re­pu­blik betrug 2023 204,6 Milli­arden Euro. Dies entspricht 2,2 Prozent des gesamten Umsatzes der deutschen Wirt­schaft und übertraf damit die Umsätze aus dem Jahr 2019.
Die Kultur- und Krea­tiv­wirt­schaft erwirt­schaftet eine Brut­to­wert­schöp­fung von 103,7 Milli­arden Euro und beschäf­tigt fast 1,8 Millionen Erwerbs­tä­tige.
Die öffent­liche Kultur­för­de­rung in Deutsch­land betrug im Jahr 2020 14,5 Milli­arden Euro. Davon entfielen allein knapp 4,56 Milli­arden Euro auf den Bereich Theater und Musik.

Genaues Hinsehen lohnt sich, betont auch der Deutsche Kulturrat, auf dessen Website sich viele Zahlen und Daten und auch die alljähr­li­chen Moni­to­ring­be­richte nachlesen lassen, wenn man mehr wissen will.
Die Frage ist: Lesen das die Richtigen?

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Thema soll aber heute in einem, wegen der Cannes-Eröffnung um einen Tag verspä­teten »Cinema Moralia«, das Feld sein, auf dem immer noch – gerade im Verhältnis zu dem oben genannten Gesamt­vo­lumen der öffent­li­chen Kultur­för­de­rung – viel zu wenig ausge­geben wird und oft genug leider an der falschen Stelle.
Der Deutsche Filmpreis, der früher Bundes­film­preis hieß und am vergan­genen Freitag zum 75. Mal verliehen wurde, ist eigent­lich ein Preis der Bundes­kul­tur­för­de­rung, nicht der Film­aka­demie.
Bis zum vergan­genen Jahr gab es dort mit den Film­preisen auch öffent­liche Gelder, die von der grünen Kultur­staats­mi­nis­terin Claudia Roth 2024 leider komplett gestri­chen wurden. Ein Teil davon ist zwar in die Film­för­de­rung hinein­ge­wan­dert, das aber auch nur, um dortige Kürzungen zu kaschieren. Diese ersatz­lose Strei­chung der Preis­gelder beim wich­tigsten Kultur­preis der Bundes­re­pu­blik Deutsch­land ist ein Skandal und sollte unbedingt rück­gängig gemacht werden!

Gleich mitändern sollte man meiner Meinung nach die Verlei­hungs­pro­zedur und die Veran­stal­tung selbst – ein hervor­ra­gendes Beispiel gab dafür die Preis­ver­lei­hung vom vergan­genen Freitag.

Die Film­aka­demie hat ihre Chance gehabt, nach über 20 Jahren Filmpreis bei der Film­aka­demie sollte die Preis­ver­gabe und die Veran­stal­tung in andere, bessere Hände gelegt werden. Vorschläge dafür liegen vor und können jederzeit von vielen gemacht werden, auch übrigens von Akade­mie­mit­glie­dern, die ja oft die Kritik teilen.

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Dreierlei mal vorweg: Es hat der mit Abstand beste Film in fast allen Kate­go­rien gewonnen: September 5 von Tim Fehlbaum. Sehr zu recht!! Und zum großen Glück für die Film­aka­demie, weil hier im Ergebnis aus einer sehr schlechten, die ästhe­ti­sche Vielfalt des deutschen Kinos unter­schla­genden Vorno­mi­nie­rung noch das Beste gemacht wurde.

Zweitens ändert das aber überhaupt nichts an den grund­sätz­li­chen, schon oft erwähnten Problemen: Ein Kino­film­preis wird nicht nach Kino­sich­tung vergeben; niemand kann kontrol­lieren, ob die abstim­menden Film­aka­de­mie­mit­glieder die Filme, die sie sehen sollen, wirklich sehen, und wie; und niemand zwingt die Abstim­menden, alle Filme zu sehen, um überhaupt verglei­chen zu können.

Kultur­lo­sig­keit – und das ist noch milde formu­liert – ist es, was man der Film­aka­demie und ihrer deutschen Film­ge­meinde vorhalten muss. Diese deutsche Film­com­mu­nity weiß in ihrer Mehrheit überhaupt nicht, diesen Eindruck muss man bekommen, was Kultur ist. Sie wären nicht in der Lage, Seriöses über Thomas Mann zu sagen oder wenn wir schon mal beim Film sind, über einen Film von Jean Luc Godard oder Leos Carax zu disku­tieren. Wer von ihnen hat je einen Film von Murnau gesehen und wer davon einen im Kino?
Das alles wäre für die aller­meisten Menschen auch im Film­be­reich nicht einmal schlimm, denn sie müssen gar nicht künst­le­risch arbeiten, sondern Dienst­leis­tungen erbringen. Sie sind Hand­werker oder Händler. Das Problem ist, dass sie sich ermäch­tigen; dass sie glauben, zu allem etwas zu sagen zu haben und vor allem zur Politik, und dass leider in einem kultur­losen Land Prominenz auch mit Kompetenz verwech­selt wird. Denn die Bürger sind ja nicht besser, teilweise sogar noch schlechter.

Christian Friedel zum Beispiel, der Moderator vom Freitag ist ein sehr gebil­deter Mensch, der hoch­in­ter­es­sante Dinge über seine Arbeit zu sagen hat. Aber muss dieser Christian Friedel wirklich auf der Veran­stal­tung singen? Und ist es gut, wie er singt?
Was er singt, war auf keinen Fall gut – es war einfach kitschiger Schmalz, der zu so einer Veran­stal­tung nicht passt, selbst wenn die Veran­stal­tung schlecht war. Weil er sie noch schlechter macht.

Wer vorges­tern die Eröffnung der Film­fest­spiele von Cannes gesehen hat, die übrigens live zur Haupt­sen­de­zeit im fran­zö­si­schen öffent­lich-recht­li­chen Fernsehen über­tragen wurde – nicht etwa geschnitten und gekürzt zu aller­spä­tester Stunde wie der Deutsche Filmpreis –, und außerdem in Hunderte von fran­zö­si­schen Kinos live gestreamt, wo auch tatsäch­lich nicht wenige Leute saßen, wer also diese Veran­stal­tung gesehen hat, der hat alles erfahren über den Unter­schied zwischen fran­zö­si­scher Film­kultur und deutscher Filmun­kultur und Geschmack­lo­sig­keit. Denn es ist ja falsch, dass man über Geschmack nicht streiten könnte – im Gegenteil man muss über Geschmack streiten und zwar immer und immer wieder!

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Geld hat die Film­aka­demie in jedem Fall nicht genug, das merkt man der Veran­stal­tung an, und schon deswegen ist dies kein »deutscher Oscar«. Alles drumherum ist überaus dürftig, und es langt nicht mal für Pommes.

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Christian Friedel ist ein anstän­diger Moderator. Aber in den wahr­schein­lich nicht von ihm selbst geschrie­benen Mode­ra­tionen kommt der deutsche Film doch ohne ganz viele – und zwar viel zu viele – Super­la­tive nicht aus: Schon der aller­erste Satz: ein wunder­barer Abend, groß­ar­tige Nomi­nie­rung, ein starker Jahrgang, große Ehre, große Freude, die tolle Vicky Krieps, der tolle Florian Gallen­berger... Kein Name kommt ohne ein super­la­ti­vis­ti­sches Adjektiv aus.

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Zur Vielfalt: Vielfalt bedeutet nicht bunte Haut­farben und inter­na­tio­nale Herkunft und x Geschlechter, sondern es bedeutet Ästhetik und Haltungen der Welt gegenüber, die sich dann im Werk zeigen.
Der deutsche Film ist nicht viel­fältig, bloß weil sich manche Film­männer die Nägel lackieren und er einem irani­schen Dissi­denten dabei finan­ziell unter die Arme greift, seinen Film fertig zu machen und ihn dann als deutschen Film dekla­riert, vulgo: verein­nahmt, um beim Oscar eine Chance zu bekommen.

Es gibt eben nicht zwei Gruppen von Bürgern, keine besseren und schlech­teren, und schon gar keine »Pass­deut­schen« (Tino Chrupalla), und darum auch keine bunten, besseren Filme, und böse Filme von weißen Männern. Darum geht es nicht und soll es nicht gehen.

Es geht um etwas ganz anderes, nicht um Menschen, sondern um Kunst­werke. Das wollen manche nicht verstehen, die es besser wissen. Sie vermi­schen es bewusst und rücken Menschen, die daran Zweifel anmelden, ob es die aller­beste Idee ist, einen Film, als »deutsch« zu dekla­rieren, der nicht nur »im Iran gedreht« wurde, sondern eine iranische Handlung erzählt, in persi­scher Sprache, mit ausschließ­lich irani­schen Darstel­lern und fast allen Kreativen aus dem Iran und von einem irani­schen Regisseur (Mohammad Rasoulof; Die Saat des heiligen Feigen­baums). Oder ob das nicht ein ideal­ty­pi­sches Beispiel der gern verpönten kultu­rellen Aneignung ist?

Es ist darum eine ganz schöne Frechheit und das Gegenteil offener »wert­schät­zender« Debat­ten­kultur, wenn der iranisch-stämmige Produk­ti­ons­as­sis­tent, der nach der Premiere in Cannes zum Co-Produ­zenten wurde, die Kritiker an dieser Nomi­nie­rung/Preis­ver­gabe in seiner Dankes­rede in Zusam­men­hang mit »Blut und Boden und Heimat­pflege« rückt, also vulgo: Zu Nazis erklärt.

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Wenn die Maßstäbe, die für Mohammad Rasoulof gehörig gedreht wurden, gerech­ter­weise für alle gelten, dann konkur­rieren in Zukunft Nuri Bilge Ceylan und Ruben Östlund zusammen mit allen anderen ARTE-Grand Accord-Filmen um den deutschen Filmpreis.

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Vielfalt wäre es übrigens auch, wenn die Preis­ver­lei­hung nach nun 20 Jahren viel­leicht nicht immer wieder in Berlin statt­finden würde, sondern jedes Jahr (ähnlich wie die europäi­sche Film­aka­demie) rotierend in einem anderen Bundes­land, wo dann die entspre­chenden Länder­för­derer und öffent­lich-recht­li­chen Fern­seh­sender der Länder wett­ei­fern könnten, wer von ihnen denn die beste Ausrich­tung schafft und wer irgendwie die schönste Preis­ver­lei­hung macht.
Das würde übrigens auch dazu führen, dass die nerv­tö­tende Berliner Filmblase nicht diese Akade­mie­ver­an­stal­tungen immer so entsetz­lich dominiert.

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Es war ebenfalls kein Beispiel kultu­reller Offenheit oder Neugier, wenn der Co-Präsident der Akademie, Regisseur Florian Gallen­berger, den partei­losen neuen Kultur­staats­mi­nister mit plumpen Fragen nach der Ausrich­tung seiner Politik begrüßte. Claudia Roth wurde das nie gefragt.

Weimer antwor­tete höflich: »Die Kultur­po­litik wird mit dieser Regierung und mit mir bestimmt nicht nach rechts rücken, sie wird aber auch nicht nach links gerückt. ... Der einzige Kultur­kampf, den ich führen will, ist der Kampf für die Kultur.« Und dann konterte er mit Schiller: »Freiheit ist die Mutter der Kunst«.

Trau­ri­ger­weise fiel dazu zwei Stunden später dann Karoline Herfurth, die aus der DDR stammt, nur ein: »Freiheit. Das ist ein Wort, Herr Weimer. Da sprechen wir viel­leicht noch einmal drüber, aber nicht jetzt.«
Trotz Gnade später Geburt könnte es Herfurth besser wissen: »Freiheit ist immer Freiheit der Anders­den­kenden.« (Rosa Luxemburg).

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Am Ende zählen natürlich nicht Worte, sondern Taten. Das gilt auch für die Film­aka­demie. In der Praxis ist sie nämlich schon – oppor­tu­nis­tisch oder liberal? Das liegt im Auge der Betrachter – ganz sanft auf den vermut­li­chen Kurs der neuen Regierung einge­schwenkt. Das zeigte sich an zwei über­ra­schenden Einla­dungen: Wolf Biermann, der einst von keinem anderen als Wolfram Weimer zum Autor des Springer-Verlags und der »Welt am Sonntag« gemacht wurde, und Juli Zeh, die sich in breiten links­li­be­ralen Kultur­kreisen mit ihren Posi­tionen während der Corona-Pandemie und zur Cancel-Culture – »Ein falsch formu­lierter Satz kann zum Problem werden« – recht unbeliebt gemacht hat, kamen beide zu über­ra­schenden Kurz­ein­sätzen bei der Preis­ver­lei­hung am letzten Freitag.

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Biermann, der sich als Kommu­nis­ten­kind und Judensohn vorstellte, erklärte der Akademie, warum er Pazi­fismus falsch findet, und sich freut, dass die Ameri­kaner die Welt von den Nazis mit Waffen­ge­walt befreit haben.
Wenn man daneben dann den schmie­rigen Film In Liebe, Eure Hilde von Andreas Dresen sah, der leider mit sieben Nomi­nie­rungen bedacht wurde, war die Kluft unüber­sehbar: Der Dresen-Film zeigt die Nazis als Nicht­nazis und nette Menschen; er entpo­li­ti­siert die Wider­stands­gruppe Rote Kapelle voll­kommen und unter­schlägt, dass das eben nicht nette unpo­li­ti­sche Leute waren, sondern Marxisten.

Immerhin bekam der Film kaum einen Preis. Der für Liv Lisa Fries als beste Haupt­dar­stel­lerin zählt nicht, weil Schau­spiel­preise Perso­nen­preise sind. Und die Bronze-Lola ist für diesen Film schlimmer als gar kein Preis. Das ist wie »erst im dritten Wahlgang«.

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Der Höhepunkt des Abends war die Laudatio von Dominik Graf auf die Casterin An Dorthe Braker. Erstmal sprach Graf mit feinen Spitzen von der »lieben Berliner Film­aka­demie« und dann nochmal von »dieser germa­ni­schen Akademie«.

Er lobte Braker für »Sensi­bi­lität, Profes­sio­na­lität, Durch­hal­te­kraft, Vers­tändnis, Tatkraft, dann große Planung«, erwähnte, »wie sehr ich dich auch an meiner Seite gebraucht habe.«

Braker, »der Urknall des Castings in Deutsch­land«, hielt selbst eine sehr gute, souveräne Rede.

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Ja, und dann Margot Fried­länder. Eine tolle Frau. Aber warum musste sie noch im Tod der Akademie dafür dienen, dass alle von sich selber total einge­nommen sind, davon, auf der richtigen Seite zu stehen?

Man kann der Film­aka­demie vieles vorwerfen, aber nicht, dass sie sich in der Frage des Anti­se­mi­tismus in der deutschen Kultur nicht eini­ger­maßen klar posi­tio­niert hätte.
Gerade darum spricht es Bände, wenn die Mitglieder derselben Akademie einem Film wie RP Kahls Die Ermitt­lung jegliche Nomi­nie­rung versagen und auch andere Filme, die sich in etwas unbe­que­merer Weise mit Anti­se­mi­tismus und Faschismus ausein­an­der­setzen, die nicht den kleinsten gemein­samen Nenner suchen, ignoriert. Wenn zwar viele Äuße­rungen gegen den vermeint­lich reak­ti­onären neuen Kultur­staats­mi­nister fallen, aber nicht eine einzige gegen die AFD – außer eben von Igor Levitt, der auch Margot Fried­länder erwähnt hat. Er steht für die direkte Rede, für die Akademie gerade nicht steht.
Wenn die Akademie jemals eine relevante Stimme in der deutschen Kultur werden will, muss sie lernen, klar und kompro­misslos zu sein. Margot Fried­länder zu ehren ist natürlich nicht falsch, aber zu einfach und zu billig.
Dazu hat die immer wieder sehr lesens­werte Johanna Adorjan in einem klugen Nachruf zu Margot Fried­länder in der Süddeut­schen alles gesagt: »Auf sie konnten sich alle einigen.«