75. Berlinale 2025
Kleine Projektorlampe, brenn’ |
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Scheitern als Chance: Tykwers Eröffnungsfilm Das Licht | ||
(Foto: Das Licht | Frederic Batier | X Verleih AG) |
Von Anna Edelmann & Thomas Willmann
Eine Maschine, deren flackerndes Licht einem den Zugang zu anderen Welten eröffnet: Jepp, man kann den titelgebenden Apparat im Eröffnungsfilm der Berlinale 2025 durchaus als Bild sehen fürs Kino selbst. Und somit die Wahl dieses Auftaktwerks programmatisch nicht nur in Hinsicht auf den Lokalpatriotismus und die Tom-Tykwer-Kontinuität nach den mit Heaven und The International gestarteten Jahrgängen. (Dass der Film zeitweilig als Teleshopping-Spot für das reale Eso-Schwurbel-Produkt fungiert, steht auf einem anderen Blatt...)
Es war – wieder einmal – eine Mammutaufgabe für die – wieder einmal – neue Festivalleitung, die Berlinale zum Leuchten zu bringen. Die grellen Blitzlichter am roten Teppich taugen dazu bekanntlich bestenfalls für flüchtige Momente. Die entscheidende Frage war, inwieweit Tricia Tuttle und ihr Team der Veranstaltung wieder ein nachhaltiges, inneres Strahlen verleihen konnten. Und ob das, was durch die Projektoren strömte, einen wirklich in andere Sphären beamte.
Keine Festival-Leitung kann das Kino hierzulande zurückzaubern zu einem Medium des präsenten, leidenschaftlichen öffentlichen Diskurses. Die tektonischen Verschiebungen der Produktions- und Verleihlandschaft sind so wenig ignorier- wie revidierbar. So lange das ZDF ein Hauptsponsor ist, werden die »Kleinen Fernsehspiele« nicht aus dem Programm verschwinden. (Immerhin war Was Marielle weiss ein nettes, nicht uncleveres Exemplar – wenn auch sehr deutsch und definitiv nicht großes Kino.) Und umgekehrt wird Berlin im Februar als Anlaufstation auf absehbare Zeit der Côte d’Azur im Mai, Venedig im Spätsommer nicht viel entgegensetzen können für die Hollywood-Stars auf Promotour und die schrumpfende Riege von Arthouse A-Listern mit Premieren. Zumal das Flair der Stadt zunehmend von »arm, aber sexy« kippt zu »geldig, aber dysfunktional«.
Das Sinnvollste, was eine Führung der Berlinale machen kann, ist wohl, diese Gegebenheiten zu akzeptieren. Sich tapfer das Gezeter derjenigen anzuhören, die von einer Bedeutung des Festivals wie vor 30 Jahren träumen, sowie jenes der Filmverleihe, die eine Kreisquadratur ersehnen, die in Richtung »Deutsche Mainstreamkomödie mit Chancen auf A-Festival-Hauptpreis« geht. Und eine ausgewogene Betonung zu legen auf das »Best-« ebenso wie auf das »Mögliche«.
Dies hat, grosso modo, Tricia Tuttle und ihr Team bei ihrer Antritts-Berlinale hinbekommen. Sie haben das Festival nicht neu erfunden – was in den Zwängen der Gegebenheiten ohnehin kaum machbar wäre. Aber sie haben das Etablierte solide geliefert, und ein paar Stellschrauben justiert. (Und was man so mitbekommt, scheint die Stimmung hinter den Kulissen unter Tuttle deutlich angenehmer. Wenn die anderen Variablen eher von außen gesetzten Konstanten gleichen, sollte man das Wohlbefinden der Mitarbeitenden als Faktor nicht unterschätzen.)
Es war in vielem eine Berlinale des »Business as usual«, der naht- und reibungslosen Fortsetzung der letzten Jahre. Der die Ausreißer nach oben fehlten (die Chatrian zumindest in der Online-Ausgabe 2021 lieferte), aber die einen auch verschonte vor den Abgründen (die unter Kosslick oft täglich dräuten).
Wo man sich wirklich mehr Glanz gewünscht hätte: Zum 75. Jubiläum. Außer der prominenteren Zahl im (sonst unveränderten, unverwüstlichen) Festival-Trailer war da nix. Man mag’s als Blick nach vorne akzeptieren. Aber auch der gelingt ja besser, je bewusster man sich seiner Tradition ist. Die Größe vergangener Tage zu beschwören, hätte vielleicht auch animiert, die Ambition fürs heutige Äquivalent noch etwas höher zu setzen.
Mit dem HUB75 wurde den Akkreditierten eine überraschend ansprechende Rückzugsmöglichkeit vor dem Berlinale Palast geboten – ein gläsernes Container-Aquarium mit Bar, Sitzmöbeln und DJ-Musik. In dem man sich fühlte, als wäre das Gewimmel draußen auf dem roten Teppich das wahre Schauglas-Getier, in Blitzlichter glubschend, nach Autogrammen gründelnd, in den Saal schwärmend. Von einem Dreivierteljahrhundert Festivalgeschichte war allerdings auch hier nur die Zahl selbst präsent.
Während Berlin sich für eine eisige Woche einer meteorologischen Werbemaßnahme für Lucile Hadžihalilović unterkühlte Film-im-Film Hans-Christian-Andersen-Variation La Tour de Glace hinzugeben schien. Wobei die Stadt weiß bedeckt unter klarblauem Himmel war, und der Film sich der üblichen Palette an Graustufen bediente.
Positiv hervorzuheben war die breitere Aufstellung des Wettbewerbs – erfreulicherweise auch mit einer Öffnung hin zu Filmen, die, wie eben auch La Tour de Glace, mit Genre-Elementen spielen. Dennoch dürfte es wohl noch lange dauern, bis die internationale Filmpresse (und eine Jury) bereit – oder zumindest offen – für Werke wie Cattet & Forzanis herrlichen Eurospy-Fiebertraum Reflet dans un diamant mort ist.
Allerdings ließ sich im Wettbewerb auch ein fehlender Fokus erkennen. Statt einer klar umrissenen Vision davon, was Kino sein kann und soll, wirkte die Auswahl eher wie ein Gemischtwarenladen. Ein Trend, der längst nicht nur die Berlinale betrifft, sondern auf vielen Festivals zu beobachten ist – und oft mit einer zunehmenden Aufweichung der Grenzen zwischen den Programmreihen einhergeht.
Erspart blieb einem diesmal das performative Gehudel vom »politischen A-Festival«. Das, siehe letztes Jahr, ohnehin schnell seine Grenzen findet, wenn die Themen mehr als ein schmückendes Etikett sind, um ach so gewichtige Bedeutung und Einigkeit gegen das offensichtlich Schlechte zu demonstrieren, sondern die Berlinale zur Bühne gemacht wurde für wirklich lebendige Kontroversen.
Es stimmt zuversichtlich, dass aus diesem Jahrgang endlich mal wieder ein Spielfilm statt einer (gleich wie verdienstvollen) Doku als Sieger hervorging. Generell wirkt die edelmetallene Bären-Riege 2025, als hätte die Jury sich da wirklich von Filmen berühren, begeistern lassen, statt einen Konsens über tagespolitische, thematische Relevanz zu suchen. Man muss da nicht mit jeder Entscheidung im Detail d’accord gehen, um dies den richtigen Weg für ein Filmfestival zu finden.
Sinnvoller als das »politische A-Festival« scheint uns ein neuer Ansatz dieses Jahrgangs: Die Berlinale als Debütantenball. Aus der »Perspektive Deutsches Kino«-Reihe (alias: »Trübe Aussichten«) wurde die internationale »Perspectives«-Sektion mit Erstlingswerken. Und auch in den übrigen Sektionen war der Anteil an Nachwuchs hoch. Das ist allemal besser als die Carte blanche für altgediente Namen mit schwachen Spät- und Nebenwerken. Klar, beim ersten Blick ins Programm gab es deutlich weniger Wiedererkennungswert, auf den man sich verlassen konnte. Aber es schadet ja nichts, zur Neugier genötigt zu werden.
Wie es jedoch von den Debüts ausgerechnet Rebecca Lenkiewiczs Romanverfilmung Hot Milk in den Wettbewerb geschafft hat, blieb ein Rätsel. Das war ein Film, der einen nicht weniger hätte erreichen können, wenn er im Kinosaal nebenan gelaufen wäre. Trotz interessanter Grundkonstellation um eine Mutter, deren Lähmung womöglich nur psychosomatisch, wenn nicht gar fingiert ist, um ihre Tochter an sich zu binden. (Man muss es Fiona Shaw anrechnen, dass sie dieser potentiell nur hassenswerten Figur doch Menschlichkeit verlieh, ohne die Härte zu nehmen.) Was da an der Umsetzung bewusste Sprödheit und was schiere Regie-Unbeholfenheit war, blieb schwer zu entscheiden. Im Endeffekt war diese Unterscheidung ohnehin egal.
Nichts, was wir bei den Perspectives gesehen haben, war schwächer. Vieles ungleich reifer:
Kaj ti je deklica (international: Little Trouble Girls) von Urška Djukić etwa. Wahrlich nicht die erste Coming of Age-Geschichte um einen entscheidenden Sommer im Leben eines Mädchens am Anfang der Pubertät. Aber diese in das Probenwochenende eines katholischen Mädchenchors zu verlegen, ist originell. Wie körperlich Djukić den Ton, das Singen, die ganze Tonebene machte, wie feinfühlig brutal die Dynamik zwischen Chorleiter, Schülerinnen und den Mädchen untereinander, und wie überraschend und furchtlos der Film aus dem Realismus ausbrach: Das hatte frühe Meisterschaft.
Oder der ungarische Minden rendben, (Growing Down) dessen Umgang mit den filmischen Mitteln zwar noch etwas weniger trittsicher war. Der aber bei allem Kokettieren mit formaler Strenge (schwarzweiße Bilder, oft karge Kadrierung) immer wieder gewitzte Absurdität fand in seiner Erzählung von einem Witwer, dessen kleiner Sohn womöglich die Tochter der neuen Partnerin ins Koma gestoßen hat. Und Erstlingsregisseur Bálint Dániel Sós hat bereits begriffen: Dass ein unverlogen versöhnliches Ende viel wahrhaftiger und komplexer sein kann als die dramatische Eskalation.
Generell trat der Nachwuchs weniger mit grimmigem Bedeutungswillen an, sondern mit einem Verständnis dafür, dass Leichtigkeit nicht gleichbedeutend ist mit Leichtgewicht. Wohl kaum schöner zu erleben als in Valentine Cadics Le Rendezvous de l’été, der sich – getragen von seiner hinreißend schlurfigen, doch emotional intelligenten – Protagonistin (Blandine Madec) in die Ränder schrieb des realen Paris während der Olympischen Spiele 2024.
Die Hoffnung bei einer solch großen Bühne für Debüts freilich auch: Wenn das ein oder andere heutige Talent sich dereinst selbst zum berühmten Namen entwickelt hat, wird es sich dankbar an Berlin für die Starthilfe erinnern. Und künftige Werke hierher zur Premiere schicken statt nach Cannes oder Venedig.
Zudem haben Erstlingsfilme im Idealfall noch eine Dringlichkeit, ein Brennen fürs Kino, eine Entdeckerfreude. Und selbst, dass sie normalerweise noch mit eher bescheidenen Mitteln produziert werden, kann ein Vorteil sein. Es zog sich wie ein roter Faden durch diese Berlinale das Thema: Weniger Geld heißt größere künstlerische Freiheit.
Immer wieder fielen Variationen dieses Credos bei Pressekonferenzen, Bühnengesprächen. Ob bei Richard Linklater, dessen Blue Moon sich auf eine theaterähnliche Einheit von Ort und Zeit beschränkt, aber mit der intimen Nähe der großen Leinwand ein Portrait schafft des legendären Songtexters Lorenz Hart von schlagfertiger, tiefster Traurigkeit. Ob bei Michel Franco, der sein eigener Produzent wurde, um seine Filme in chronologischer Szenenreihenfolge drehen zu können. Und der vielleicht auch deshalb in Dreams seine Meisterschaft verfeinert, über die Lauflänge fast unmerklich Gewicht, Wucht, Vielschichtigkeit anzusammeln – bis an einem Punkt das Bewusstsein fürs Gesamte hereinrauscht und einem einen erschütternden Schlag versetzt. Ob bei Joel Potrykus, dessen wunderbarer Vulcanizadora auf der Woche der Kritik zu sehen war und der nach zehn Jahren mit Mini-Team und der gewohnten Film-Familie die Protagonisten aus Buzzard in den Wald schickt – zu einem Finale, das noch lang nicht das Ende des Films ist. Ob bei Rudolf Thome, der zu seinem großartigen Retro-Beitrag Fremde Stadt verkündete: In dem Film geht es dauernd um viel Geld – und Thome hat ihn für kein Geld gemacht.
Überhaupt: Die Retro! Mal wieder der Hort für jene Art Filme, über deren aktuelle Ausformung das Festival eher die Nase rümpft – die sich dann aber als prägender, überdauernder erweisen als die vermeintlich relevante Großkunst. Hier aber mal nicht nur als arrivierte Klassiker, sondern aus der vermeintlichen Schmuddelecke der Filmgeschichte: Deutsches Genre-Kino der 1970er. Bei dem man dann doch mit dem reißerischen Reihenmotto »Wild, schräg, blutig« latent in die Vorwärtsverteidigung zu gehen schien.
Da erlebte man ein deutsches Kino, das noch ohne Sicherungsmechanismen, ohne Gremien und mit der Kommerzialität von echten Showleuten, nicht der von Buchhaltungsabteilungen, gemacht wurde. Oder, wie Rainer Erlers Fleisch, mit Fernsehredaktionen, die nicht einer vermeintlichen Unmündigkeit des Publikums mit präemptiver Unterforderung begegnen mussten.
Den größten Kinomoment auf dieser Berlinale aber konnte man noch weiter in der Vergangenheit entdecken, an der Wende vom Stumm- zum Tonfilm und zur Zeit erster Farb-Versuche. Und zwar bei der neuen Digital-Restauration von Howard Hughes’ Hell’s Angels in der Berlinale Classics-Reihe.
Das ist ohnehin ein wildes Husarenstück. Aber der nächtliche Angriff des deutschen Zeppelins auf London in voller Zweifarben-Pracht, mit dunkelblauer Virage und orange lodernden Feuerbällen, auf großer Leinwand, und in (wie die Recherche zur Restaurierung entdeckte) einem ersten Anflug von Breitwand-Formatwechsel… Wow! Die Sequenz wirkt selbst schon wie jene Fieberträume von frühem Kino, die Guy Maddin heutzutage inszeniert. Fast surreal die Räume im Zeppelin-Inneren, spektakulär die Action bei der Attacke der Verteidigungs-Flieger, und opernhaft überdreht das Melodram um Selbstopfer fürs Vaterland, wenn die Mannschaft der letzte noch abwerfbare Ballast ist und Mensch für Mensch mit einem Sprung ins dunkle Nichts verschwindet, die Käppis einsam hinterher wehend.
Dieser Film atmet einen Wahnsinn, wie man ihn nicht nur auf der Berlinale heute oft vermisst. (Freilich: Auch 1930 war Hughes’ Gigantismus eine Ausnahmeerscheinung.) Am ehesten hatte tatsächlich Tykwers Eröffnungsfilm noch etwas davon: Den Mut zum krachenden Scheitern, zum wilden Wagnis. Nicht mit der Haltung des besserwissenden, im Zweifelsfall ach so missverstandenen Künstlers (hallo, Michael Glasner...). Sondern einem echten, schutzlosen Bewusstsein dafür, dass das alles ziemlich daneben gehen könnte. Was es in Das Licht dann auch regelmäßig tut – nur um zehn Minuten später dann wieder einen Augenblick von echter Größe hinzuklotzen.
In diese Richtung hat die neue Berlinale noch Raum nach oben. Aber dass sie einen solchen Startpunkt setzte, spricht ja von einer grundsätzlichen Bereitschaft für solche Risiken. Und ein guter Durchschnitt für den Rest ist nichts, was man geringschätzen sollte. Man kann sagen: Die großen Erleuchtungen blieben zwar aus. Aber, immerhin: Da glimmt wieder was.