06.03.2025
75. Berlinale 2025

Kleine Projektorlampe, brenn’

Das Licht
Scheitern als Chance: Tykwers Eröffnungsfilm Das Licht
(Foto: Das Licht | Frederic Batier | X Verleih AG)

Edelmann und Willmann durchleuchten die 75. Berlinale

Von Anna Edelmann & Thomas Willmann

Eine Maschine, deren flackerndes Licht einem den Zugang zu anderen Welten eröffnet: Jepp, man kann den titel­ge­benden Apparat im Eröff­nungs­film der Berlinale 2025 durchaus als Bild sehen fürs Kino selbst. Und somit die Wahl dieses Auftakt­werks program­ma­tisch nicht nur in Hinsicht auf den Lokal­pa­trio­tismus und die Tom-Tykwer-Konti­nuität nach den mit Heaven und The Inter­na­tional gestar­teten Jahr­gängen. (Dass der Film zeit­weilig als Tele­shop­ping-Spot für das reale Eso-Schwurbel-Produkt fungiert, steht auf einem anderen Blatt...)

Es war – wieder einmal – eine Mammut­auf­gabe für die – wieder einmal – neue Festi­val­lei­tung, die Berlinale zum Leuchten zu bringen. Die grellen Blitz­lichter am roten Teppich taugen dazu bekannt­lich besten­falls für flüchtige Momente. Die entschei­dende Frage war, inwieweit Tricia Tuttle und ihr Team der Veran­stal­tung wieder ein nach­hal­tiges, inneres Strahlen verleihen konnten. Und ob das, was durch die Projek­toren strömte, einen wirklich in andere Sphären beamte.

Keine Festival-Leitung kann das Kino hier­zu­lande zurück­zau­bern zu einem Medium des präsenten, leiden­schaft­li­chen öffent­li­chen Diskurses. Die tekto­ni­schen Verschie­bungen der Produk­tions- und Verleih­land­schaft sind so wenig ignorier- wie revi­dierbar. So lange das ZDF ein Haupt­sponsor ist, werden die »Kleinen Fern­seh­spiele« nicht aus dem Programm verschwinden. (Immerhin war Was Marielle weiss ein nettes, nicht uncle­veres Exemplar – wenn auch sehr deutsch und definitiv nicht großes Kino.) Und umgekehrt wird Berlin im Februar als Anlauf­sta­tion auf absehbare Zeit der Côte d’Azur im Mai, Venedig im Spät­sommer nicht viel entge­gen­setzen können für die Hollywood-Stars auf Promotour und die schrump­fende Riege von Arthouse A-Listern mit Premieren. Zumal das Flair der Stadt zunehmend von »arm, aber sexy« kippt zu »geldig, aber dysfunk­tional«.

Das Sinn­vollste, was eine Führung der Berlinale machen kann, ist wohl, diese Gege­ben­heiten zu akzep­tieren. Sich tapfer das Gezeter derje­nigen anzuhören, die von einer Bedeutung des Festivals wie vor 30 Jahren träumen, sowie jenes der Film­ver­leihe, die eine Kreis­qua­dratur ersehnen, die in Richtung »Deutsche Main­stream­komödie mit Chancen auf A-Festival-Haupt­preis« geht. Und eine ausge­wo­gene Betonung zu legen auf das »Best-« ebenso wie auf das »Mögliche«.

Dies hat, grosso modo, Tricia Tuttle und ihr Team bei ihrer Antritts-Berlinale hinbe­kommen. Sie haben das Festival nicht neu erfunden – was in den Zwängen der Gege­ben­heiten ohnehin kaum machbar wäre. Aber sie haben das Etablierte solide geliefert, und ein paar Stell­schrauben justiert. (Und was man so mitbe­kommt, scheint die Stimmung hinter den Kulissen unter Tuttle deutlich ange­nehmer. Wenn die anderen Variablen eher von außen gesetzten Konstanten gleichen, sollte man das Wohl­be­finden der Mitar­bei­tenden als Faktor nicht unter­schätzen.)

Es war in vielem eine Berlinale des »Business as usual«, der naht- und reibungs­losen Fort­set­zung der letzten Jahre. Der die Ausreißer nach oben fehlten (die Chatrian zumindest in der Online-Ausgabe 2021 lieferte), aber die einen auch verschonte vor den Abgründen (die unter Kosslick oft täglich dräuten).

Wo man sich wirklich mehr Glanz gewünscht hätte: Zum 75. Jubiläum. Außer der promi­nen­teren Zahl im (sonst unver­än­derten, unver­wüst­li­chen) Festival-Trailer war da nix. Man mag’s als Blick nach vorne akzep­tieren. Aber auch der gelingt ja besser, je bewusster man sich seiner Tradition ist. Die Größe vergan­gener Tage zu beschwören, hätte viel­leicht auch animiert, die Ambition fürs heutige Äqui­va­lent noch etwas höher zu setzen.

Mit dem HUB75 wurde den Akkre­di­tierten eine über­ra­schend anspre­chende Rück­zugs­mög­lich­keit vor dem Berlinale Palast geboten – ein gläsernes Container-Aquarium mit Bar, Sitz­mö­beln und DJ-Musik. In dem man sich fühlte, als wäre das Gewimmel draußen auf dem roten Teppich das wahre Schauglas-Getier, in Blitz­lichter glub­schend, nach Auto­grammen gründelnd, in den Saal schwär­mend. Von einem Drei­vier­tel­jahr­hun­dert Festi­val­ge­schichte war aller­dings auch hier nur die Zahl selbst präsent.

Während Berlin sich für eine eisige Woche einer meteo­ro­lo­gi­schen Werbe­maß­nahme für Lucile Hadži­ha­li­lović unter­kühlte Film-im-Film Hans-Christian-Andersen-Variation La Tour de Glace hinzu­geben schien. Wobei die Stadt weiß bedeckt unter klar­blauem Himmel war, und der Film sich der üblichen Palette an Grau­stufen bediente.

Positiv hervor­zu­heben war die breitere Aufstel­lung des Wett­be­werbs – erfreu­li­cher­weise auch mit einer Öffnung hin zu Filmen, die, wie eben auch La Tour de Glace, mit Genre-Elementen spielen. Dennoch dürfte es wohl noch lange dauern, bis die inter­na­tio­nale Film­presse (und eine Jury) bereit – oder zumindest offen – für Werke wie Cattet & Forzanis herr­li­chen Eurospy-Fieber­traum Reflet dans un diamant mort ist.

Aller­dings ließ sich im Wett­be­werb auch ein fehlender Fokus erkennen. Statt einer klar umris­senen Vision davon, was Kino sein kann und soll, wirkte die Auswahl eher wie ein Gemischt­wa­ren­laden. Ein Trend, der längst nicht nur die Berlinale betrifft, sondern auf vielen Festivals zu beob­achten ist – und oft mit einer zuneh­menden Aufwei­chung der Grenzen zwischen den Programm­reihen einher­geht.

Erspart blieb einem diesmal das perfor­ma­tive Gehudel vom »poli­ti­schen A-Festival«. Das, siehe letztes Jahr, ohnehin schnell seine Grenzen findet, wenn die Themen mehr als ein schmü­ckendes Etikett sind, um ach so gewich­tige Bedeutung und Einigkeit gegen das offen­sicht­lich Schlechte zu demons­trieren, sondern die Berlinale zur Bühne gemacht wurde für wirklich lebendige Kontro­versen.

Es stimmt zuver­sicht­lich, dass aus diesem Jahrgang endlich mal wieder ein Spielfilm statt einer (gleich wie verdienst­vollen) Doku als Sieger hervor­ging. Generell wirkt die edel­me­tal­lene Bären-Riege 2025, als hätte die Jury sich da wirklich von Filmen berühren, begeis­tern lassen, statt einen Konsens über tages­po­li­ti­sche, thema­ti­sche Relevanz zu suchen. Man muss da nicht mit jeder Entschei­dung im Detail d’accord gehen, um dies den richtigen Weg für ein Film­fes­tival zu finden.

Sinn­voller als das »poli­ti­sche A-Festival« scheint uns ein neuer Ansatz dieses Jahrgangs: Die Berlinale als Debü­tan­ten­ball. Aus der »Perspek­tive Deutsches Kino«-Reihe (alias: »Trübe Aussichten«) wurde die inter­na­tio­nale »Perspec­tives«-Sektion mit Erst­lings­werken. Und auch in den übrigen Sektionen war der Anteil an Nachwuchs hoch. Das ist allemal besser als die Carte blanche für altge­diente Namen mit schwachen Spät- und Neben­werken. Klar, beim ersten Blick ins Programm gab es deutlich weniger Wieder­erken­nungs­wert, auf den man sich verlassen konnte. Aber es schadet ja nichts, zur Neugier genötigt zu werden.

Wie es jedoch von den Debüts ausge­rechnet Rebecca Lenkie­wiczs Roman­ver­fil­mung Hot Milk in den Wett­be­werb geschafft hat, blieb ein Rätsel. Das war ein Film, der einen nicht weniger hätte erreichen können, wenn er im Kinosaal nebenan gelaufen wäre. Trotz inter­es­santer Grund­kon­stel­la­tion um eine Mutter, deren Lähmung womöglich nur psycho­so­ma­tisch, wenn nicht gar fingiert ist, um ihre Tochter an sich zu binden. (Man muss es Fiona Shaw anrechnen, dass sie dieser poten­tiell nur hassens­werten Figur doch Mensch­lich­keit verlieh, ohne die Härte zu nehmen.) Was da an der Umsetzung bewusste Sprödheit und was schiere Regie-Unbe­hol­fen­heit war, blieb schwer zu entscheiden. Im Endeffekt war diese Unter­schei­dung ohnehin egal.

Nichts, was wir bei den Perspec­tives gesehen haben, war schwächer. Vieles ungleich reifer:

Kaj ti je deklica (inter­na­tional: Little Trouble Girls) von Urška Djukić etwa. Wahrlich nicht die erste Coming of Age-Geschichte um einen entschei­denden Sommer im Leben eines Mädchens am Anfang der Pubertät. Aber diese in das Proben­wo­chen­ende eines katho­li­schen Mädchen­chors zu verlegen, ist originell. Wie körper­lich Djukić den Ton, das Singen, die ganze Tonebene machte, wie fein­fühlig brutal die Dynamik zwischen Chor­leiter, Schü­le­rinnen und den Mädchen unter­ein­ander, und wie über­ra­schend und furchtlos der Film aus dem Realismus ausbrach: Das hatte frühe Meis­ter­schaft.

Oder der unga­ri­sche Minden rendben, (Growing Down) dessen Umgang mit den filmi­schen Mitteln zwar noch etwas weniger tritt­si­cher war. Der aber bei allem Koket­tieren mit formaler Strenge (schwarz­weiße Bilder, oft karge Kadrie­rung) immer wieder gewitzte Absur­dität fand in seiner Erzählung von einem Witwer, dessen kleiner Sohn womöglich die Tochter der neuen Partnerin ins Koma gestoßen hat. Und Erst­lings­re­gis­seur Bálint Dániel Sós hat bereits begriffen: Dass ein unver­logen versöhn­li­ches Ende viel wahr­haf­tiger und komplexer sein kann als die drama­ti­sche Eska­la­tion.

Generell trat der Nachwuchs weniger mit grimmigem Bedeu­tungs­willen an, sondern mit einem Vers­tändnis dafür, dass Leich­tig­keit nicht gleich­be­deu­tend ist mit Leicht­ge­wicht. Wohl kaum schöner zu erleben als in Valentine Cadics Le Rendez­vous de l’été, der sich – getragen von seiner hinreißend schlur­figen, doch emotional intel­li­genten – Prot­ago­nistin (Blandine Madec) in die Ränder schrieb des realen Paris während der Olym­pi­schen Spiele 2024.

Die Hoffnung bei einer solch großen Bühne für Debüts freilich auch: Wenn das ein oder andere heutige Talent sich dereinst selbst zum berühmten Namen entwi­ckelt hat, wird es sich dankbar an Berlin für die Start­hilfe erinnern. Und künftige Werke hierher zur Premiere schicken statt nach Cannes oder Venedig.

Zudem haben Erst­lings­filme im Idealfall noch eine Dring­lich­keit, ein Brennen fürs Kino, eine Entde­cker­freude. Und selbst, dass sie norma­ler­weise noch mit eher beschei­denen Mitteln produ­ziert werden, kann ein Vorteil sein. Es zog sich wie ein roter Faden durch diese Berlinale das Thema: Weniger Geld heißt größere künst­le­ri­sche Freiheit.

Immer wieder fielen Varia­tionen dieses Credos bei Pres­se­kon­fe­renzen, Bühnen­ge­sprächen. Ob bei Richard Linklater, dessen Blue Moon sich auf eine thea­ter­ähn­liche Einheit von Ort und Zeit beschränkt, aber mit der intimen Nähe der großen Leinwand ein Portrait schafft des legen­dären Song­tex­ters Lorenz Hart von schlag­fer­tiger, tiefster Trau­rig­keit. Ob bei Michel Franco, der sein eigener Produzent wurde, um seine Filme in chro­no­lo­gi­scher Szenen­rei­hen­folge drehen zu können. Und der viel­leicht auch deshalb in Dreams seine Meis­ter­schaft verfei­nert, über die Lauflänge fast unmerk­lich Gewicht, Wucht, Viel­schich­tig­keit anzu­sam­meln – bis an einem Punkt das Bewusst­sein fürs Gesamte herein­rauscht und einem einen erschüt­ternden Schlag versetzt. Ob bei Joel Potrykus, dessen wunder­barer Vulca­niz­adora auf der Woche der Kritik zu sehen war und der nach zehn Jahren mit Mini-Team und der gewohnten Film-Familie die Prot­ago­nisten aus Buzzard in den Wald schickt – zu einem Finale, das noch lang nicht das Ende des Films ist. Ob bei Rudolf Thome, der zu seinem groß­ar­tigen Retro-Beitrag Fremde Stadt verkün­dete: In dem Film geht es dauernd um viel Geld – und Thome hat ihn für kein Geld gemacht.

Überhaupt: Die Retro! Mal wieder der Hort für jene Art Filme, über deren aktuelle Ausfor­mung das Festival eher die Nase rümpft – die sich dann aber als prägender, über­dau­ernder erweisen als die vermeint­lich relevante Großkunst. Hier aber mal nicht nur als arri­vierte Klassiker, sondern aus der vermeint­li­chen Schmud­del­ecke der Film­ge­schichte: Deutsches Genre-Kino der 1970er. Bei dem man dann doch mit dem reiße­ri­schen Reihen­motto »Wild, schräg, blutig« latent in die Vorwärts­ver­tei­di­gung zu gehen schien.

Da erlebte man ein deutsches Kino, das noch ohne Siche­rungs­me­cha­nismen, ohne Gremien und mit der Kommer­zia­lität von echten Show­leuten, nicht der von Buch­hal­tungs­ab­tei­lungen, gemacht wurde. Oder, wie Rainer Erlers Fleisch, mit Fern­seh­re­dak­tionen, die nicht einer vermeint­li­chen Unmün­dig­keit des Publikums mit präemp­tiver Unter­for­de­rung begegnen mussten.

Den größten Kino­mo­ment auf dieser Berlinale aber konnte man noch weiter in der Vergan­gen­heit entdecken, an der Wende vom Stumm- zum Tonfilm und zur Zeit erster Farb-Versuche. Und zwar bei der neuen Digital-Restau­ra­tion von Howard Hughes’ Hell’s Angels in der Berlinale Classics-Reihe.

Das ist ohnehin ein wildes Husa­ren­stück. Aber der nächt­liche Angriff des deutschen Zeppelins auf London in voller Zwei­farben-Pracht, mit dunkel­blauer Virage und orange lodernden Feuer­bällen, auf großer Leinwand, und in (wie die Recherche zur Restau­rie­rung entdeckte) einem ersten Anflug von Breitwand-Format­wechsel… Wow! Die Sequenz wirkt selbst schon wie jene Fieber­träume von frühem Kino, die Guy Maddin heut­zu­tage insze­niert. Fast surreal die Räume im Zeppelin-Inneren, spek­ta­kulär die Action bei der Attacke der Vertei­di­gungs-Flieger, und opernhaft überdreht das Melodram um Selbst­opfer fürs Vaterland, wenn die Mann­schaft der letzte noch abwerf­bare Ballast ist und Mensch für Mensch mit einem Sprung ins dunkle Nichts verschwindet, die Käppis einsam hinterher wehend.

Dieser Film atmet einen Wahnsinn, wie man ihn nicht nur auf der Berlinale heute oft vermisst. (Freilich: Auch 1930 war Hughes’ Gigan­tismus eine Ausnah­me­erschei­nung.) Am ehesten hatte tatsäch­lich Tykwers Eröff­nungs­film noch etwas davon: Den Mut zum krachenden Scheitern, zum wilden Wagnis. Nicht mit der Haltung des besser­wis­senden, im Zwei­fels­fall ach so miss­ver­stan­denen Künstlers (hallo, Michael Glasner...). Sondern einem echten, schutz­losen Bewusst­sein dafür, dass das alles ziemlich daneben gehen könnte. Was es in Das Licht dann auch regel­mäßig tut – nur um zehn Minuten später dann wieder einen Augen­blick von echter Größe hinzu­klotzen.

In diese Richtung hat die neue Berlinale noch Raum nach oben. Aber dass sie einen solchen Start­punkt setzte, spricht ja von einer grund­sätz­li­chen Bereit­schaft für solche Risiken. Und ein guter Durch­schnitt für den Rest ist nichts, was man gering­s­chätzen sollte. Man kann sagen: Die großen Erleuch­tungen blieben zwar aus. Aber, immerhin: Da glimmt wieder was.