28.11.2024

Filmische Erkundungen

Der Fleck
Das Sehen bekommt in Willy Hans' Der Fleck eine haptische Qualität...
(Foto: willyhans.com)

Die 73. Ausgabe des Internationalen Filmfestivals Mannheim Heidelberg versammelte erneut eine hochwertige Auswahl kinematographischer Entdeckungen aus den internationalen Festivals des Jahres 2024

Von Wolfgang Lasinger

Als zuver­läs­sige Marken­zei­chen können mitt­ler­weile die unter der Leitung von Sascha Keilholz im Jahr 2020 etablierten Reihen »on the rise« und »pushing the boun­da­ries« gelten: erstere als Wett­be­werb mit Newco­mer­filmen des inter­na­tio­nalen Erzähl­kinos und letztere mit Filmen, in denen die Grenzen des Narra­tiven erweitert und heraus­ge­for­dert werden. Seit letztem Jahr ist die Reihe »film­scapes« hinzu­ge­kommen, die besondere Beispiele film­künst­le­ri­scher Ausdrucks­formen vorstellt, die neben dem Erzähl­kino in seiner Vielfalt zwischen Genre und Stil­willen auch essay­is­ti­sche und doku­men­ta­ri­sche Spiel­arten des Filmi­schen berück­sich­tigt.

In seiner Gesamt­heit bot das Programm des Filmfests Mannheim Heidel­berg 2024 wieder eine hervor­ra­gende Gele­gen­heit, auf kine­ma­to­gra­phi­sche Entde­ckungs­reisen zu gehen und dabei das Kino als Form der Explo­ra­tion von filmi­schen Wirk­lich­keiten zu nutzen.

Land­partie in der Schweiz

Das kann ein voll­kommen unspek­ta­kulärer Sommer­nach­mittag an einem Fluss in der Schweiz sein wie in Der Fleck von Willy Hans, der an der Hoch­schule für bildende Künste Hamburg unter anderem bei Angela Schanelec studierte.

Der 17-jährige Simon in der Umklei­de­ka­bine zum Sport, er trödelt beim Schu­he­an­ziehen, sucht noch nach der Wasser­fla­sche, die anderen sind schon alle in der Halle, er ist dabei, die Treppe runter­zu­gehen, und sieht durch den Türaus­schnitt auf den Boden der Turnhalle, wo nur die Füße der Trai­nie­renden vorbei­t­raben, von rechts nach links, dann wieder von links nach rechts. Er macht kehrt und verlässt das Beton­ge­bäude, ohne vorher noch die Umkleide aufzu­su­chen: ein spontanes Ausbüxen…

Ohne recht zu wissen, wohin, lässt er sich von einem Bekannten dann mitnehmen im Auto mit an den Fluss, wo die Clique des Bekannten abhängt in der matten Trägheit eines Sommer­nach­mit­tages.

Der Gestus des Ausbüxens prägt die Erzähl­weise des ganzen Films. Die Kamera von Paul Spen­ge­mann webt ein Netz aus den ziellosen Blicken der Jugend­li­chen, aus ihren Necke­reien, ihren Hänse­leien, ihrem belang­losen Gelaber über einen Cousin in Kassel, vom Pizza­essen in der Wohnung dort, »eine Geschichte aus dem echten Leben«, ohne Pointe, ohne Fort­set­zung. Simon, der nicht so recht dazu gehört, sondert sich mit der einzel­gän­ge­ri­schen Marie ab. Aber eher ist es die Kamera, die die beiden absondert und umher­streifen lässt. Und die ganze Zeit das Wasser­rau­schen des Flusses im Hinter­grund einfängt, die Licht­re­flexe der tief­stehenden Sonne, das Rieseln des Laubes an den Bäumen im Gegen­licht, in der manchmal aufkom­menden leichten Brise: akus­ti­sche und optische Eindrucke lösen sich in einem diffus-vagen Impres­sio­nismus auf.

Auf 16mm gedreht, spürt der Film mit sinnlich tastender Kamera dem Abdriften der Wahr­neh­mung der Jugend­li­chen nach, die Kamera übernimmt ihren Blick, macht sich dann aber auch frei davon, gewinnt eine eigene Präsenz. In einer faszi­nie­rend tran­ce­haften Sequenz stößt sie in expe­ri­men­telle Dimen­sionen vor, lotet die Grenzen des Wahr­nehm­baren aus und taucht ins Unheim­lich-Abgrün­dige ein, um dann nach einem Abstecher zu einem Kinder­ge­burtstag an einer anderen Stelle am Fluss wieder zurück­zu­kehren zu den Jugend­li­chen. Das Sehen bekommt in Der Fleck eine haptische Qualität, die Ober­flächen als Texturen erfasst und als genuin kine­ma­to­gra­phi­sche Erfahrung erkundet. Willy Hans lässt einen diesen träge dahin­fließenden Sommer­nach­mittag als kühne Utopie absoluter Freiheit erleben, die einer dyspho­ri­schen monotonen Sinn­lo­sig­keit abge­wonnen wird, und das kraft der filmi­schen Mittel.

Enga­ge­ment und Zurück­hal­tung

Auch in Manas, dem Gewin­ner­film des Wett­be­werbs »on the rise«, ist jene explo­ra­tive Haltung zu sehen, die Geschichten nicht einfach als fertige Plot­kon­strukte präsen­tiert, sondern mit den Blicken und mit dem Erleben der Figuren ein spezi­fi­sches Milieu, eine eigene Welt erkundet, eine filmische Welt erschließt, die erschre­ckende Aufschlüsse über die Wirk­lich­keit zu geben vermag. Marianna Brennand aus Brasilien macht das in Manas in beein­dru­ckend enga­gierter und eindring­li­cher Weise. Sie nähert sich behutsam, aber gleich­wohl sehr entschlossen dem Problem der sexuellen Ausbeu­tung von Mädchen und jungen Frauen im Amazo­nas­ge­biet, die in ihren Familien den Über­griffen der Väter ausge­lie­fert sind.

Ebenso in der Reihe »on the rise« der Mystery-Thriller Gazer von Ryan J. Sloan aus New Jersey. Hier sorgt die filmische Machart dafür, dass sich die überaus düstere Stimmung des Plots in der greif­baren Opazität der körnigen 16-mm-Bilder (die zudem auf 35mm aufge­blasen wurden) geradezu mate­ria­li­siert. Newark, die umge­benden Meadow­lands und die Stadt­schaften der Deindus­tria­li­sie­rung tragen die Vers­törung und die Noir-Atmo­sphäre so in essen­ti­eller Weise in sich.

Der marok­ka­ni­sche Film Cabo Negro von Abdellah Taïa (in der Reihe »on the rise«) wiederum setzt auf größere Distanz, doch auch er öffnet einen Erfah­rungs­raum, der über eine bloß atmo­sphäri­sche Skizze hinaus­geht.

Jafaar freut sich auf einen Sommer­auf­ent­halt mit seinem ameri­ka­ni­schen Lover Jonathan, der eine Feri­en­villa im touris­ti­schen Cabo Negro an der marok­ka­ni­schen Mittel­meer­küste ange­mietet hat. Mit Sounouss, einer engen Freundin, die lesbisch ist, hält er die Tarnung eines hete­ro­se­xu­ellen Paars aufrecht, um Diskri­mi­nie­rungen aus dem Weg zu gehen. Doch als Jonathan nicht auftaucht und sich auch nicht meldet, wird für die beiden die Realität trotz der schönen Kulisse des Feri­en­orts immer beklem­mender. Der Vermieter der Villa schöpft Verdacht und bedrängt sie, das Geld geht ihnen aus, sie prosti­tu­ieren sich.

Auf unauf­dring­liche und einfache Weise vermit­telt Cabo negro ein feines Gespür für die bedrü­ckende Leere und Unge­wiss­heit, die junge queere Menschen in Marokko empfinden. Es weht ein Hauch von Bresson'scher Strenge durch diesen Film, der mit der Klarheit und Nüch­tern­heit seiner Einstel­lungen ein trüge­ri­sches Idyll beschwört, in dem sich immer wieder Lücken und Brüche auftun. Mit dem schwulen Mounir, der aus Frank­reich kommt, um das Grab seiner marok­ka­ni­schen Groß­mutter zu suchen, bildet sich kurz eine soli­da­risch-zärtliche Gemein­schaft, der ein utopi­sches Moment innewohnt. Nach seinem Abschied bleibt ein bitterer Eindruck zurück, der Jafaar und Sounouss in einer schmerz­li­chen Verwais­t­heit erscheinen lässt.

Reiche Ernte

Den explo­ra­tiven Gestus kann man auch in der Reihe »pushing the boun­da­ries« finden, wenn etwa Virgil Vernier in A Hundred Thousand Billions mit einer Gruppe junger Escort­girls und -boys in die reiche Glit­zer­welt Monacos eintaucht oder Athina Rachel Tsangari in Harvest die sehr erdver­haf­tete bäuer­liche Welt Schott­lands im 18. Jahr­hun­dert evoziert.

Diese unter­schied­li­chen filmi­schen Welten, die sich in jedem Einzel­fall einer ganz eigenen kine­ma­to­gra­phi­schen Hand­schrift verdanken, deren Zugriff nie eine formale Äußer­lich­keit bleibt, sondern vielfach gerade über die filmi­schen Mittel selbst, auch über die filmische Mate­ria­lität ihre Beglau­bi­gung des Erzählten erzeugt, das macht die Beson­der­heit der von den Programmern des Mannheim-Heidel­berger Filmfests zusam­men­ge­stellten Selektion aus. Und die 73. Edition bestä­tigte diese Tatsache wieder aufs Nach­drück­lichste.