Filmische Erkundungen |
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Das Sehen bekommt in Willy Hans' Der Fleck eine haptische Qualität... | ||
(Foto: willyhans.com) |
Als zuverlässige Markenzeichen können mittlerweile die unter der Leitung von Sascha Keilholz im Jahr 2020 etablierten Reihen »on the rise« und »pushing the boundaries« gelten: erstere als Wettbewerb mit Newcomerfilmen des internationalen Erzählkinos und letztere mit Filmen, in denen die Grenzen des Narrativen erweitert und herausgefordert werden. Seit letztem Jahr ist die Reihe »filmscapes« hinzugekommen, die besondere Beispiele filmkünstlerischer Ausdrucksformen vorstellt, die neben dem Erzählkino in seiner Vielfalt zwischen Genre und Stilwillen auch essayistische und dokumentarische Spielarten des Filmischen berücksichtigt.
In seiner Gesamtheit bot das Programm des Filmfests Mannheim Heidelberg 2024 wieder eine hervorragende Gelegenheit, auf kinematographische Entdeckungsreisen zu gehen und dabei das Kino als Form der Exploration von filmischen Wirklichkeiten zu nutzen.
Das kann ein vollkommen unspektakulärer Sommernachmittag an einem Fluss in der Schweiz sein wie in Der Fleck von Willy Hans, der an der Hochschule für bildende Künste Hamburg unter anderem bei Angela Schanelec studierte.
Der 17-jährige Simon in der Umkleidekabine zum Sport, er trödelt beim Schuheanziehen, sucht noch nach der Wasserflasche, die anderen sind schon alle in der Halle, er ist dabei, die Treppe runterzugehen, und sieht durch den Türausschnitt auf den Boden der Turnhalle, wo nur die Füße der Trainierenden vorbeitraben, von rechts nach links, dann wieder von links nach rechts. Er macht kehrt und verlässt das Betongebäude, ohne vorher noch die Umkleide aufzusuchen: ein spontanes Ausbüxen…
Ohne recht zu wissen, wohin, lässt er sich von einem Bekannten dann mitnehmen im Auto mit an den Fluss, wo die Clique des Bekannten abhängt in der matten Trägheit eines Sommernachmittages.
Der Gestus des Ausbüxens prägt die Erzählweise des ganzen Films. Die Kamera von Paul Spengemann webt ein Netz aus den ziellosen Blicken der Jugendlichen, aus ihren Neckereien, ihren Hänseleien, ihrem belanglosen Gelaber über einen Cousin in Kassel, vom Pizzaessen in der Wohnung dort, »eine Geschichte aus dem echten Leben«, ohne Pointe, ohne Fortsetzung. Simon, der nicht so recht dazu gehört, sondert sich mit der einzelgängerischen Marie ab. Aber eher ist es die Kamera, die die beiden absondert und umherstreifen lässt. Und die ganze Zeit das Wasserrauschen des Flusses im Hintergrund einfängt, die Lichtreflexe der tiefstehenden Sonne, das Rieseln des Laubes an den Bäumen im Gegenlicht, in der manchmal aufkommenden leichten Brise: akustische und optische Eindrucke lösen sich in einem diffus-vagen Impressionismus auf.
Auf 16mm gedreht, spürt der Film mit sinnlich tastender Kamera dem Abdriften der Wahrnehmung der Jugendlichen nach, die Kamera übernimmt ihren Blick, macht sich dann aber auch frei davon, gewinnt eine eigene Präsenz. In einer faszinierend trancehaften Sequenz stößt sie in experimentelle Dimensionen vor, lotet die Grenzen des Wahrnehmbaren aus und taucht ins Unheimlich-Abgründige ein, um dann nach einem Abstecher zu einem Kindergeburtstag an einer anderen Stelle am Fluss wieder zurückzukehren zu den Jugendlichen. Das Sehen bekommt in Der Fleck eine haptische Qualität, die Oberflächen als Texturen erfasst und als genuin kinematographische Erfahrung erkundet. Willy Hans lässt einen diesen träge dahinfließenden Sommernachmittag als kühne Utopie absoluter Freiheit erleben, die einer dysphorischen monotonen Sinnlosigkeit abgewonnen wird, und das kraft der filmischen Mittel.
Auch in Manas, dem Gewinnerfilm des Wettbewerbs »on the rise«, ist jene explorative Haltung zu sehen, die Geschichten nicht einfach als fertige Plotkonstrukte präsentiert, sondern mit den Blicken und mit dem Erleben der Figuren ein spezifisches Milieu, eine eigene Welt erkundet, eine filmische Welt erschließt, die erschreckende Aufschlüsse über die Wirklichkeit zu geben vermag. Marianna Brennand aus Brasilien macht das in Manas in beeindruckend engagierter und eindringlicher Weise. Sie nähert sich behutsam, aber gleichwohl sehr entschlossen dem Problem der sexuellen Ausbeutung von Mädchen und jungen Frauen im Amazonasgebiet, die in ihren Familien den Übergriffen der Väter ausgeliefert sind.
Ebenso in der Reihe »on the rise« der Mystery-Thriller Gazer von Ryan J. Sloan aus New Jersey. Hier sorgt die filmische Machart dafür, dass sich die überaus düstere Stimmung des Plots in der greifbaren Opazität der körnigen 16-mm-Bilder (die zudem auf 35mm aufgeblasen wurden) geradezu materialisiert. Newark, die umgebenden Meadowlands und die Stadtschaften der Deindustrialisierung tragen die Verstörung und die Noir-Atmosphäre so in essentieller Weise in sich.
Der marokkanische Film Cabo Negro von Abdellah Taïa (in der Reihe »on the rise«) wiederum setzt auf größere Distanz, doch auch er öffnet einen Erfahrungsraum, der über eine bloß atmosphärische Skizze hinausgeht.
Jafaar freut sich auf einen Sommeraufenthalt mit seinem amerikanischen Lover Jonathan, der eine Ferienvilla im touristischen Cabo Negro an der marokkanischen Mittelmeerküste angemietet hat. Mit Sounouss, einer engen Freundin, die lesbisch ist, hält er die Tarnung eines heterosexuellen Paars aufrecht, um Diskriminierungen aus dem Weg zu gehen. Doch als Jonathan nicht auftaucht und sich auch nicht meldet, wird für die beiden die Realität trotz der schönen Kulisse des Ferienorts immer beklemmender. Der Vermieter der Villa schöpft Verdacht und bedrängt sie, das Geld geht ihnen aus, sie prostituieren sich.
Auf unaufdringliche und einfache Weise vermittelt Cabo negro ein feines Gespür für die bedrückende Leere und Ungewissheit, die junge queere Menschen in Marokko empfinden. Es weht ein Hauch von Bresson'scher Strenge durch diesen Film, der mit der Klarheit und Nüchternheit seiner Einstellungen ein trügerisches Idyll beschwört, in dem sich immer wieder Lücken und Brüche auftun. Mit dem schwulen Mounir, der aus Frankreich kommt, um das Grab seiner marokkanischen Großmutter zu suchen, bildet sich kurz eine solidarisch-zärtliche Gemeinschaft, der ein utopisches Moment innewohnt. Nach seinem Abschied bleibt ein bitterer Eindruck zurück, der Jafaar und Sounouss in einer schmerzlichen Verwaistheit erscheinen lässt.
Den explorativen Gestus kann man auch in der Reihe »pushing the boundaries« finden, wenn etwa Virgil Vernier in A Hundred Thousand Billions mit einer Gruppe junger Escortgirls und -boys in die reiche Glitzerwelt Monacos eintaucht oder Athina Rachel Tsangari in Harvest die sehr erdverhaftete bäuerliche Welt Schottlands im 18. Jahrhundert evoziert.
Diese unterschiedlichen filmischen Welten, die sich in jedem Einzelfall einer ganz eigenen kinematographischen Handschrift verdanken, deren Zugriff nie eine formale Äußerlichkeit bleibt, sondern vielfach gerade über die filmischen Mittel selbst, auch über die filmische Materialität ihre Beglaubigung des Erzählten erzeugt, das macht die Besonderheit der von den Programmern des Mannheim-Heidelberger Filmfests zusammengestellten Selektion aus. Und die 73. Edition bestätigte diese Tatsache wieder aufs Nachdrücklichste.