28.11.2024

Stiller Zorn

April von Dea Kulumbegashvili
Mit den Figuren in der georgischen Landschaft verwachsen
(Foto: IFFMH)

Dea Kulumbegashvili hat mit »April« einen aufsehenerregenden Film gedreht. Das 73. Filmfestival Mannheim Heidelberg hat ihm als »Centerpiece« zu Recht große Aufmerksamkeit gegeben

Von Dunja Bialas

»Wenn ein Mann von der Arbeit nach Hause kommt, muss ihn die Frau umsorgen, ihm die Füße waschen, Essen bereiten und Gebor­gen­heit geben.«
- Ilia II., Patriarch der Georgisch Ortho­doxen Kirche

Ein starker Regen. Eine Pfütze. Minu­ten­lang prasselt es vom Himmel, das bläuliche Bild wird akustisch untermalt vom grol­lenden Donner, ein paar Blätter schwimmen auf dem von den Tropfen aufge­peitschten Wasser. So beginnt April, spek­ta­kulär und zugleich still und meditativ, der zweite Film der geor­gi­schen Regis­seurin Dea Kulum­be­gash­vili, dem das 73. Inter­na­tio­nale Film­fes­tival von Mannheim Heidel­berg als Center­piece große Sicht­bar­keit im Programm verschafft hat. Und in der Tat, Dea Kulum­be­gash­vili hat mit ihrem zweiten Film, in Venedig ausge­zeichnet mit dem Spezi­al­preis der Jury, ein aufse­hen­er­re­gendes Werk geschaffen.

In ruhigen Tableaus erzählt der Film die Geschichte von Nina, einer Ärztin auf der gynä­ko­lo­gi­schen Station in einem Provinz­kran­ken­haus. Ihr Job ist es, Leben auf die Welt zu bringen. Eine Totgeburt zu Beginn des Film bringt sie jedoch ins Visier des Kran­ken­haus­ma­nage­ments, eine Unter­su­chung wird einge­leitet. Anstatt dies jedoch als krimi­na­lis­ti­schen Fall aufzu­fächern, mit Befra­gungen und Unter­su­chungen, wird dies umge­leitet in eine eindring­liche Zustands­be­schrei­bung. Der Frau, der Region, der Seelen der Menschen.

Dea Kulum­be­gash­vili nennt ihren Film »eine Liebes­er­klärung«, gedreht hat sie ihn in der Region, aus der sie selbst kommt, in ihrer Heimat. Das ist auch emotional belastet. Seit ihrem ersten Film Beginning lebt sie im Berliner Exil. Im Interview in Mannheim erzählt sie mit sanfter Stimme von ihrer Arbeit, während der Sound der koffer­schie­benden Hotel­pagen sie in der fremden Umgebung fast unter­gehen lässt und sie auf dem großen Sofa fast versinkt.

»Ich kann in Georgien keine Filme mehr machen. April drehten wir heimlich, mein Drehbuch habe ich absolut vertrau­lich gehalten, viele der Mitwir­kenden wussten nicht volls­tändig, um was es geht. Jetzt habe ich mit dem Preis von Venedig eine große Aufmerk­sam­keit erregt, stärker als zuvor mit Beginning.« Wer in Georgien Filme mache, stehe unter großer Beob­ach­tung.

Nina, ihre Haupt­figur, ist das Skandalon des Films. Sie ist allein­ste­hend, ganz auf ihren Beruf konzen­triert. Nachts streckt sie auf dem Bett ihren nackten Körper der Dunkel­heit entgegen, verlässt manchmal das Haus und gabelt auf der Land­straße mit ihrem Auto einsame Männer auf, die sie zum Sex auffor­dert. »Leck mich«, sagt sie zu einem. Wumm, ihr Kopf kracht gegen das Lenkrad.
Nina ist eine Einzel­gän­gerin. Manchmal erinnert ihre Figur an A Girl Walks Home Alone At Night, Ana Lily Amirpours Erzählung von der Vampirin in der irani­schen Männer­welt. Hier ist die Welt christ­lich-orthodox und patriacha­lisch.

»Die Frauen sind in Georgien ihrer grund­le­genden Rechte beraubt. Die große Armut, die überall herrscht, überdeckt das aber. Viele Frauen können weder lesen noch schreiben. Sie haben keine Bildung und keine Fähig­keiten erhalten, um ein eigenes Leben zu führen. Von den Männern werden sie wie Eigentum behandelt.«
Und dann erzählt Kulum­be­gash­vili vom kuriosen, aber überaus ernst gemeinten Diktum des ortho­doxen Patri­ar­chen, das vorschreibt, dass die Frau dem Mann die Füße zu waschen habe. »Eine gute Frau ist in diesem Denken eine, die sich volls­tändig dem Ehemann hingibt. Wenn ein Mann seine Ehefrau tötet, droht ihm eine Strafe von sieben Jahren Haft, die er aber oft nicht absitzen muss.« Aus der Ohnmacht entstehe ein »stiller Zorn« bei den Frauen, die nicht laut aufbe­gehren können. Er sei überall spürbar, in den Häusern und in den Herzen. Die geor­gi­sche Regierung tue nichts, um die soziale Situation zu verbes­sern, bereite im Gegenteil den Femiziden frucht­baren Boden.

Nicht allein der selbst­be­stimmte Sex aber macht Nina zu einer Bedrohung für die Männer und die patriachale Ordnung. Sie nimmt außerhalb der Klinik Abtrei­bungen vor. In einem Tableau sehen wir ausge­streckt auf einem Küchen­tisch ein junges Mädchens liegen, vom Ellbogen bis zu den Ober­schen­keln von der Kamera fixiert. Immer wieder verkrampft sich ihre Hand in der ihrer Mutter, die ihr beisteht. Aus dem Off des Bildes, hors champ, reicht immer wieder die Hand von Nina herein, die mit gynä­ko­lo­gi­schem Besteck hantiert. Zu hören ist nur der schwere, unter­drückte Atem des Mädchens, minu­ten­lang, während das Bild nur eine Ahnung gibt von dem, was sich hier zuträgt.

Selbst diese zurück­hal­tende Insze­nie­rung jedoch ist in Mannheim für manche Besucher nicht auszu­halten, einige verlassen den Saal. Getrig­gert oder moralisch empört, in jedem Fall stell­ver­tre­tend für das, was die Figuren auf der Leinwand ertragen. Dabei enthält sich der Stil von Kulum­be­gash­vili der Drama­ti­sie­rung. Allein die Echtzeit der Darstel­lung jedoch, das wissen wir vom Kino, kann die Uner­träg­lich­keit einer Szene steigern.

Ia Sukhi­tash­vili, die Nina mit ruhiger Konzen­tra­tion spielt, war schon in Kulum­be­gash­vilis erstem Film Beginning dabei, wofür sie in San Sebastián den Darsteller-Preis bekam. Ihre Figur wiederum ist von einer realen Ärztin inspi­riert, die Kulum­be­gash­vili bei ihren Recher­chen getroffen hat. Sie hat mit den Frauen der Region gespro­chen und die verbor­genen Geschichten und Ängste aufge­spürt.

In vielen Szenen aber sind die Menschen abwesend. Die Dunkel­heit macht sich breit, das Land versinkt im Matsch. Der titel­ge­bende Monat wird, neben der weiten Land­schaft, zu einem weiteren Prot­ago­nisten in diesem stillen Kammer­spiel unter offenem Himmel. Hin und wieder bricht die Schönheit der Natur hervor, in den zart­ro­sa­far­benen Blüten der Apfel­bäume und dem klatsch­mohn­roten Feld.

Auf die Schönheit der Aufnahmen ange­spro­chen, die mit der unter­schwel­ligen Gewalt, die sich in den Häusern abspielt, stark kontras­tiert, sagt Kulum­be­gash­vili: »Es gibt so viel Schönheit in dieser Land­schaft. Ich liebe mein Land. Wenn der Ort nicht so eine große Schönheit in sich tragen würde, warum würden überhaupt die Menschen dort bleiben? Überall kann das Leben erspürt werden, es ist tief in die Land­schaft einge­lassen und es sieht dich in jedem Moment an. Die Land­schaft enthält die Schönheit, den Terror und den Schmerz, alles zusammen.« Dann sagt sie noch: Man solle den Blick nicht abwenden, man dürfe nicht wegsehen.

Kulum­be­gash­vili wendet den Blick nicht ab. Kame­ra­mann Arseni Khach­a­t­uran hält seine 35mm-Kamera auf den Nacht­himmel, auf den Korridor im Kran­ken­haus, auf die Dunkel­heit im Zimmer von Nina, minu­ten­lang. Ein Gewitter zuckt über den Himmel, bis es sich beruhigt hat. Fast ist es, als würde der Betrachter mit den Figuren in den Szenen festhängen, ohne Ausweg, in inten­siven, gran­diosen, bisweilen auch schwer auszu­hal­tenden Film­erfah­rungen.

Jede gefilmte Situation darf in dieser schnör­kel­losen Stil­prä­zi­sion für sich selbst sprechen, braucht keine drama­tur­gi­sche Zuspit­zung, keinen ordnenden und einord­nenden Erzähler. Man könnte auch sagen, dass April dadurch zutiefst unmo­ra­lisch ist. Kulum­be­gash­vili aber vertraut dem Kino, und auch dem Zuschauer. »Ich habe auch immenses Vertrauen in die Mensch­lich­keit, trotz des großen Horrors, den ich gesehen habe. Man muss filmische Räume schaffen, in denen der Betrachter nach­denken und sich erinnern kann, an das, was er selbst erlebt hat.« Sie findet die Freiräume des Kinos, weil sie mit ihren langen Bildern der Natur und den Menschen Zeit gibt, sich zu zeigen.

Dazu gehören auch die Geburten, auf die die Kamera ebenfalls in einem ruhigen Tableau aus Distanz draufhält. Eine Geburt am Anfang und ein Kaiser­schnitt am Ende. Und in der Mitte die Abtrei­bung. Das ist die Affaire de femmes, die Frau­en­sache, von der schon Claude Chabrol erzählt hat, bei Kulum­be­gash­vili verliert sich jedoch die speku­la­tive Note, die diesem frühen Film aus den Acht­zi­gern anhaftet. Die Geburten sind für sie der Moment, in dem man sieht, wie das Leben erwacht. Als Teil eines weiblich verstan­denen Kinos sei es wichtig, die Geburten und die Abtrei­bung zu zeigen. »Mir liegt viel daran, Filme zu machen, die das reale Leben der Frauen betreffen«, sagt sie. Dazu gehöre auch, dass die Haupt­figur Geschirr abwäscht. Das habe nicht der Phantasie männ­li­cher Produ­zenten entspro­chen, die lieber mehr Sex gesehen hätten und weniger Alltag oder gar Geburten.

Finan­ziert hat sie ihren Film ohne staat­liche Gelder. April ist eine inter­na­tio­nale Co-Produk­tion, in der auch Luca Guad­a­gnino als Produzent gewirkt hat. Sein Film Queer wurde jüngst in Istanbul gecancelt, woraufhin Mubi das Istanbul Film­fes­tival ganz absagte. »In Georgien könnte man eine Vorfüh­rung des Films noch nicht einmal planen. Es gibt wegen des neuen Anti-LGTBQ-Gesetzes keine Möglich­keit, den Film zu zeigen. Das ist nicht nur verboten, man wird auch verhaftet. Man wird verfolgt. Georgien verändert sich gerade zu einem auto­ri­tären Land. Ich habe große Angst um meine Kollegen.«

Ansonsten spricht sie lieber nicht über die Menschen, mit denen sie zusam­men­ar­beitet. Sie sind immer noch in Georgien und auf die staat­liche Kunst­för­de­rung ange­wiesen. Indirekt kriti­siert Kulum­be­gash­vili das dann aber doch: »Ich finde, allein schon still zu sein, heißt, auf eine gewisse Weise mitzu­wirken.« Es gehe nicht nur darum, die Regierung auszu­wech­seln, alle Regie­rungen hätten in der Vergan­gen­heit dazu beigetragen, dass die Situation so schlecht geworden ist. »Die Menschen sind unter­drückt und ihrer grund­le­genden Fähig­keiten und Chancen beraubt. Ihnen bleibt nichts. Sogar ihr tägliches Brot hängt von der Regierung ab. Sie haben große Angst. Es ist sehr tragisch, was mit Georgien passiert.«

Kulum­be­gash­vili zeichnet mit April diese Angst nach, die Ausweg­lo­sig­keit des Lebens, das in einem Kreislauf der Gewalt gefangen ist, der bereits bei der Geburt und oft schon bei der Zeugung einsetzt. Sie hält ihren Figuren keine Türen offen, sowie sie auch nichts von einem Arthouse-Kino hält, das gegen ein Kino­ti­cket einfache Lösungen präsen­tiert, in einer Art säkularem Ablass­handel. Gesättigt von viel Realismus und dem Idea­lismus der atem­be­rau­benden Schönheit des Lebens, einem grund­le­genden Vita­lismus inmitten des Sterbens, enthält sich April jedoch auch der Allegorie. Bis auf eine Kreatur, eine Gestalt zwischen Mutter Erde und Monster, zwischen alter Frau und Verwun­deter, gesichtslos, schwer atmend. Eine lebende Skulptur, Phantasma und Inbild des nackten Lebens und des poli­ti­schen Leids, von dem Giorgio Agamben in »Was von Auschwitz blieb« schrieb.

Kulum­be­gash­vili findet in der rätsel­haften Kreatur eine »erdige und raue Mani­fes­ta­tion des Schönen«. Eine figurale Trans­gres­sion, für die sie überhaupt Kino mache. Das Reale zu über­winden und doch von ihm zu sprechen, keine Angst vor dem Phantasma zu haben, sich aber vor der alle­go­ri­schen Erzähl­weise zu hüten: das verleiht Dea Kulum­be­gash­vili diese ganz eigene, sanfte und zugleich nach­drück­liche und insis­tie­rende Erzähl­stimme. Die sich nicht zum Schweigen bringen lässt. »Wie kann ich noch Filme machen, wenn ich alle, die mir dabei helfen, in Gefahr bringe?«, zweifelt sie. »Ich werde aber nicht aufhören, Filme zu machen.«