28.11.2024

Offenheit und Perspektivenwechsel

TODD & SUPER STELLA
Ein so realistisches wie einfühlsames Porträt: Todd & Super-Stella
(Foto: Nordische Filmtage Lübeck)

Die »Young Audience«-Sektion der 66. Nordischen Filmtage Lübeck hat vor allem zum Reisen eingeladen, um unterschiedliche Sichtweisen, Kulturen und Lebensrealitäten zu verstehen

Von Christel Strobel

Lübeck, die Stadt, in der man sich gleich wohlfühlt, ist alljähr­lich das Ziel einer »einge­schwo­renen« Filmszene – dieses Jahr zum 66. Mal! Was 1956 mit einem Rahmen­pro­gramm zum Wirt­schafts­kon­gress der skan­di­na­vi­schen Länder in Lübeck begann, das auch skan­di­na­vi­sche Filme enthielt, wurde im Lauf der Zeit zu einem der tradi­ti­ons­reichsten Film­fes­ti­vals weltweit und zudem das einzige, das sich ganz auf das skan­di­na­vi­sche und das benach­barte baltische Film­schaffen konzen­triert. Die ersten 15 Jahre vom Lübecker Filmclub ehren­amt­lich orga­ni­siert und veran­staltet, übernahm 1971 Lübeck das Festival und ist seitdem in städ­ti­scher Träger­schaft (siehe auch artechock vom 18.11.2021).

Mit der »Einladung zum Welten­bummel« begrüßte Hanna Reifgerst, erfahrene Programm­erin von »Young Audience« (elf Spiel-, Anima­tions- und Doku­men­tar­filme
sowie vier Kurz­film­pro­gramme) ihr zahl­rei­ches Publikum: »In einer Welt, in der Verän­de­rungen und Umdenken verlangt werden, sind Offenheit und Perspek­ti­ven­wechsel wichtiger denn je. Das dies­jäh­rige Programm der Sektion Young Audience lädt dazu ein, sich auf eine Reise zu begeben – einen Welten­bummel, der uns unter­schied­liche Sicht­weisen, Kulturen und Lebens­rea­li­täten näher bringt. … Es sind Filme mit Geschichten von Freund­schaft, Entschlos­sen­heit, Zusam­men­halt und dem Mut, neue Wege zu beschreiten und einem Appell, den eigenen Horizont zu erweitern.«

Young Audience (Auswahl)

Biru Unjárga / My Fathers Daughter: Im Film von Egil Pedersen (Regie und Drehbuch), produziert in Norwegen / Finnland / Schweden 1924, steht die 15-jährige Elvira im Mittelpunkt. Sie lebt mit ihrer samischen Mutter in Nesseby, einem langweiligen Ort in Norwegens äußerstem Nordosten, und glaubt, in einer „Fruchtbarkeitsklinik“ gezeugt worden zu sein – in ihren Tagträumen taucht der dänische Filmstar Nikolaj Coster-Waldau als ihr Vater auf. Für Elvira ist es eine herbe Enttäuschung, als eines Tages ihr wirklicher, ebenfalls samischer Vater im verschlafenen Nesseby eintrifft, denn als ganze Sámi statt der imaginierten halben Dänin fürchtet sie um ihr erwünschtes erfolgreiches Leben… Egil Perdersen hat diese Coming-of-Age-Geschichte einfühlsam und zugleich humorvoll inszeniert und man folgt Elvira gern auf ihrem Weg, mit ihrer unerwarteten Identität als „ganze Samin“ und der neuen Familiensituation zurecht zu kommen. Egil Pedersen (Regie-Studium an Den Norske Filmskolen in Lillehammer) realisiert Musikvideos, Kurzfilme, Werbespots und Industriefilme. Sein jüngster Kurzfilm, die Satire Indi­ge­nous Police (2021), setzte in der samischen Community eine öffentliche Debatte in Gang. Biru Unjárga ist sein erster programmfüllender Spielfilm.

Todd & Super Stella von Mari Monrad Vistven (Regie) und Ingvil Giske, Medi­en­ope­ra­toren (Produk­tion), Norwegen 2024. Hier geht’s um eine Super-Geschwister-Beziehung! Es gibt Situa­tionen, da möchte der ältere Todd seine kleine Schwester Stella am liebsten verkaufen – sie will nicht teilen und nimmt sich Dinge, die sie gerade nicht nehmen soll, und mitein­ander spielen können sie auch nicht! Mit ihrer ausufernden Fantasie hat sich Stella für ihren Bruder etwas ganz Beson­deres einfallen lassen: Sie würde ihn am liebsten einfrieren und nach zwei Jahren wieder auftauen, denn immer kann er alles besser als sie! Stella kann ganz stark sein, aber auch ängstlich wegen Todds Über­le­gen­heit. Dass diese ihre Grenzen hat, z.B. in der Schule, wo er der Lang­samste ist und auch nicht so stark, weiß sie aller­dings nicht. Dieser Film ist höchst vergnüg­lich, zeigt aber auch gut nach­voll­ziehbar, dass es mit Geschwis­tern auch ganz schön schwer sein kann. Die Film­re­gis­seurin Mari Monrad Vistven hat seit 20 Jahren für das norwe­gi­sche und englische Fernsehen, im doku­men­ta­ri­schen und im fiktio­nalen Bereich, gear­beitet. Todd & Super-Stella ist ihr erster abend­fül­lender Doku­men­tar­film, wofür sie die Geschwister über fünf Jahre mit der Kamera begleitet hat. Entstanden ist ein realis­ti­sches wie einfühl­sames Porträt.

Bum! / Boom! von Marta Selecka und Andra Dorss (Regie) und Lote Eglite (Buch), eine Produk­tion der Picture House Produc­tions, Lettland 2024. Die Dynamik einer Freund­schaft ist das Thema dieses letti­schen Films. Im neuen Schuljahr wollen Hugo und Tom – seit der ersten Klasse beste Freunde – endlich beliebt werden und legen am ersten Schultag eine Show mit ihren Skate­boards hin. Das endet für Hugo schmerz­lich mit einem Sturz, der einen Nasen­bruch verur­sacht, aber auch plötzlich Super­kräfte, um Gegen­s­tände und Menschen zu beein­flussen… Prompt ist Hugo der Liebling der ganzen Schule, der mit seinen unglaub­li­chen „Zauber­kräften“ alle, auch die Angeber in den höheren Klassen, beein­druckt. Doch für Freund Tom bleibt keine Zeit mehr – und Hugo stellt fest, dass die plötz­liche Popu­la­rität auch ihre Schat­ten­seiten hat. So braucht Hugo die Hilfe seines besten Freundes. Der aber inter­es­siert sich für Karla, die neue Schülerin in der Klasse… »Leicht­füßige Komödie über die Macht des Wünschens, Ruhm und die Höhen und Tiefen wahrer Freund­schaft.«

Neuro­tyypit / Neuro­types von Maija Hirvonen (Regie und Buch), Mouka Filmi (Produk­tion), Finnland 2024. Ein berüh­render Film zum Thema „Autismus-Spektrum“, wovon das Mädchen Aida beein­träch­tigt, trotzdem aber eine starke Persön­lich­keit ist. Für die sprach­lich und natur­wis­sen­schaft­lich begabte Aida ist die Schule dennoch Stress und Reizü­ber­flu­tung – und soziale Kontakte lösen oft Ängste aus. Inspi­riert von Greta Thunberg und unter­s­tützt von ihrer Mutter, agiert Aida – trotz ihres schwie­rigen Alltags – auf Kund­ge­bungen, wendet sich an Politik und Öffent­lich­keit, erklärt, wie es neuro­di­versen Menschen in unserer Gesell­schaft geht. Aida will kein Mitleid, sondern Verän­de­rung und ein Schul­system, in dem neuro­di­verse Kinder und Jugend­liche unter­s­tützt werden und auch erfolg­reich sein können. Ihr Enga­ge­ment kostet sie Kraft und Geduld, doch sie findet auch Gleich­ge­sinnte und Gemein­schaft – und hat eine überaus fürsorg­liche und enga­gierte Mutter! Ein Film, der emotional und nach­voll­ziehbar die Schwie­rig­keiten zeigt, aber auch vermit­telt, welche Hilfe in einem sozialen System wie Skan­di­na­vien existiert. »Maija Hirvonens Doku­men­tar­film hinter­fragt unsere normierten Denk­muster: Wie gerecht ist diese Gesell­schaft und für wen?« Maija Hirbonen studierte Doku­men­tar­film an der Aalto-Univer­sität in Helsinki und arbeitet als Regis­seurin, Dreh­buch­au­torin und Kame­ra­frau. Nach zwei Kurz­filmen ist Neuro­tyypit ihr erster abend­fül­lender Doku­men­tar­film.

Dem Film Armand/Eltern­abend, der in der Kategorie Spiel­filme auch für „ältere Jugend­liche“ im Programm „Young Audience“ zu sehen war, kam ein beson­deres Interesse entgegen, nicht zuletzt, weil für Regie und Drehbuch mit Halfdan Ullmann Tondel der Enkel von Liv Ullmann und Ingmar Bergman zuständig war, zudem ist sein Spiel­film­debüt mit Norwegen, Deutsch­land, Schweden und den Nieder­landen eine beein­dru­ckende Koope­ra­tion. Es ist ein Film mit einer düsteren Geschichte, ausgehend von einem undurch­sich­tigen wie frag­wür­digen Vorfall in der Schule: Der sechs­jäh­rige Jon wurde weinend und mit herun­ter­ge­las­sener Hose ange­troffen – Anlass für den Direktor, die Mutter des Schülers Armand und die Eltern von Jon aufzu­for­dern, in der Schule zu erscheinen. Was genau passiert ist, kann nicht offen gelegt werden, ist aber plötzlich Anlass für ein Gespräch über das vermeint­lich frag­wür­dige Privat­leben der Erzie­henden, das hier mit Andeu­tungen und Verdäch­ti­gungen verhan­delt wird. Das Spiel­film­debüt zeigt, wie Vorge­schichte, Befind­lich­keiten und Fantasien die Suche nach der Wahrheit beein­flussen. Die aufge­la­dene Atmo­sphäre wird durch groteske Tanz­ein­lagen und surreale Traum­se­quenzen verdichtet und ins Absurde geführt. … Mit grimmigem Blick beob­achtet der Film, wie Menschen ihre Masken fallen lassen und eine Gemein­schaft wie ein Karten­haus in sich zusam­men­fällt.

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Hier kann nur ein Ausschnitt aus der Fülle des filmi­schen Angebots der Nordi­schen Filmtage vorge­stellt werden. Aber das vermit­telt schon, dass in den skan­di­na­vi­schen Ländern der Kinder- und Jugend­film nach wie vor einen hohen Stel­len­wert hat. So wird auch Lübeck nach wie vor ein wichtiger Ort für die Vermitt­lung dieses quali­ta­tiven und enga­gierten Film­schaf­fens bleiben. Auf Wieder­sehen im nächsten Jahr!

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Der große Gewinner von »Young Audience« in Lübeck ist Lars Is Lol, der Debütfilm von Eirik Sæter Stordahl.
»Als Amanda nach den Sommer­fe­rien in die Schule zurück­kommt, soll sie sich als Mentorin um den neuen Mitschüler Lars kümmern. Er hat das Down-Syndrom und Amanda fürchtet, dass er sie blamieren wird; statt­dessen entsteht zwischen ihnen eine besondere Freund­schaft. Die gerät in Gefahr, als sie von ihren – falschen – Freun­dinnen gedrängt wird, die Freund­schaft zu Lars aufzu­geben. Dieser Film bewegt die Gemüter, man versteht den Konflikt, der Amanda hin- und hertreibt, und das ist sehr emotional darge­stellt, bis es endlich versöhn­lich für die beiden endet.«

Preis der Kinder­jury: »Alle Filme waren auf ihre eigene Art sehens­wert … jetzt kommen wir zu dem Film, der uns am besten gefallen hat. Einmal, da es in diesem Film viele Wende­punkte gab und die Geschichte wenig vorher­sehbar war. Durch die viel­schich­tigen Charak­tere sowie deren Themen und Probleme, mit welchen wir auch in unserem Leben konfron­tiert werden, wirkt der Film sehr echt und nah. Außerdem gut gefallen hat uns, dass der Film trotz fehlender typischer Action, Szenen durch Spannung auf sozialer Ebene sicher­ge­stellt hat, dass uns nicht lang­weilig wurde. Die schau­spie­le­ri­sche Leistung der beiden Haupt­per­sonen hat uns auch sehr überzeugt.«

Auch die Kinder- und Jugend­film­preis-Jury hatte sich für Lars Is Lol entschieden: »Dass Hand­lungen Konse­quenzen haben, lernt die Haupt­figur des Films für sich allein, aber auch dank ihrer Freunde. Wir folgen einer einfühl­samen Geschichte über Vertrauen, Verant­wor­tung und über die Erkenntnis, dass die Welt schöner ist, wenn man zu sich selbst und zuein­ander steht. Dies erzählt uns der Film mit einem sensiblen Drehbuch, einer über­ra­genden Insze­nie­rung und dank eines Ensembles, das noch lange im Gedächtnis bleibt.«