Offenheit und Perspektivenwechsel |
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Ein so realistisches wie einfühlsames Porträt: Todd & Super-Stella | ||
(Foto: Nordische Filmtage Lübeck) |
Von Christel Strobel
Lübeck, die Stadt, in der man sich gleich wohlfühlt, ist alljährlich das Ziel einer »eingeschworenen« Filmszene – dieses Jahr zum 66. Mal! Was 1956 mit einem Rahmenprogramm zum Wirtschaftskongress der skandinavischen Länder in Lübeck begann, das auch skandinavische Filme enthielt, wurde im Lauf der Zeit zu einem der traditionsreichsten Filmfestivals weltweit und zudem das einzige, das sich ganz auf das skandinavische und das benachbarte baltische Filmschaffen konzentriert. Die ersten 15 Jahre vom Lübecker Filmclub ehrenamtlich organisiert und veranstaltet, übernahm 1971 Lübeck das Festival und ist seitdem in städtischer Trägerschaft (siehe auch artechock vom 18.11.2021).
Mit der »Einladung zum Weltenbummel« begrüßte Hanna Reifgerst, erfahrene Programmerin von »Young Audience« (elf Spiel-, Animations- und Dokumentarfilme
sowie vier Kurzfilmprogramme) ihr zahlreiches Publikum: »In einer Welt, in der Veränderungen und Umdenken verlangt werden, sind Offenheit und Perspektivenwechsel wichtiger denn je. Das diesjährige Programm der Sektion Young Audience lädt dazu ein, sich auf eine Reise zu begeben – einen Weltenbummel, der uns
unterschiedliche Sichtweisen, Kulturen und Lebensrealitäten näher bringt. … Es sind Filme mit Geschichten von Freundschaft, Entschlossenheit, Zusammenhalt und dem Mut, neue Wege zu beschreiten und einem Appell, den eigenen Horizont zu erweitern.«
Biru Unjárga / My Fathers Daughter: Im Film von Egil Pedersen (Regie und Drehbuch), produziert in Norwegen / Finnland / Schweden 1924, steht die 15-jährige Elvira im Mittelpunkt. Sie lebt mit ihrer samischen Mutter in Nesseby, einem langweiligen Ort in Norwegens äußerstem Nordosten, und glaubt, in einer „Fruchtbarkeitsklinik“ gezeugt worden zu sein – in ihren Tagträumen taucht der dänische Filmstar Nikolaj Coster-Waldau als ihr Vater auf. Für Elvira ist es eine herbe Enttäuschung, als eines Tages ihr wirklicher, ebenfalls samischer Vater im verschlafenen Nesseby eintrifft, denn als ganze Sámi statt der imaginierten halben Dänin fürchtet sie um ihr erwünschtes erfolgreiches Leben… Egil Perdersen hat diese Coming-of-Age-Geschichte einfühlsam und zugleich humorvoll inszeniert und man folgt Elvira gern auf ihrem Weg, mit ihrer unerwarteten Identität als „ganze Samin“ und der neuen Familiensituation zurecht zu kommen. Egil Pedersen (Regie-Studium an Den Norske Filmskolen in Lillehammer) realisiert Musikvideos, Kurzfilme, Werbespots und Industriefilme. Sein jüngster Kurzfilm, die Satire Indigenous Police (2021), setzte in der samischen Community eine öffentliche Debatte in Gang. Biru Unjárga ist sein erster programmfüllender Spielfilm.
Todd & Super Stella von Mari Monrad Vistven (Regie) und Ingvil Giske, Medienoperatoren (Produktion), Norwegen 2024. Hier geht’s um eine Super-Geschwister-Beziehung! Es gibt Situationen, da möchte der ältere Todd seine kleine Schwester Stella am liebsten verkaufen – sie will nicht teilen und nimmt sich Dinge, die sie gerade nicht nehmen soll, und miteinander spielen können sie auch nicht! Mit ihrer ausufernden Fantasie hat sich Stella für ihren Bruder etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Sie würde ihn am liebsten einfrieren und nach zwei Jahren wieder auftauen, denn immer kann er alles besser als sie! Stella kann ganz stark sein, aber auch ängstlich wegen Todds Überlegenheit. Dass diese ihre Grenzen hat, z.B. in der Schule, wo er der Langsamste ist und auch nicht so stark, weiß sie allerdings nicht. Dieser Film ist höchst vergnüglich, zeigt aber auch gut nachvollziehbar, dass es mit Geschwistern auch ganz schön schwer sein kann. Die Filmregisseurin Mari Monrad Vistven hat seit 20 Jahren für das norwegische und englische Fernsehen, im dokumentarischen und im fiktionalen Bereich, gearbeitet. Todd & Super-Stella ist ihr erster abendfüllender Dokumentarfilm, wofür sie die Geschwister über fünf Jahre mit der Kamera begleitet hat. Entstanden ist ein realistisches wie einfühlsames Porträt.
Bum! / Boom! von Marta Selecka und Andra Dorss (Regie) und Lote Eglite (Buch), eine Produktion der Picture House Productions, Lettland 2024. Die Dynamik einer Freundschaft ist das Thema dieses lettischen Films. Im neuen Schuljahr wollen Hugo und Tom – seit der ersten Klasse beste Freunde – endlich beliebt werden und legen am ersten Schultag eine Show mit ihren Skateboards hin. Das endet für Hugo schmerzlich mit einem Sturz, der einen Nasenbruch verursacht, aber auch plötzlich Superkräfte, um Gegenstände und Menschen zu beeinflussen… Prompt ist Hugo der Liebling der ganzen Schule, der mit seinen unglaublichen „Zauberkräften“ alle, auch die Angeber in den höheren Klassen, beeindruckt. Doch für Freund Tom bleibt keine Zeit mehr – und Hugo stellt fest, dass die plötzliche Popularität auch ihre Schattenseiten hat. So braucht Hugo die Hilfe seines besten Freundes. Der aber interessiert sich für Karla, die neue Schülerin in der Klasse… »Leichtfüßige Komödie über die Macht des Wünschens, Ruhm und die Höhen und Tiefen wahrer Freundschaft.«
Neurotyypit / Neurotypes von Maija Hirvonen (Regie und Buch), Mouka Filmi (Produktion), Finnland 2024. Ein berührender Film zum Thema „Autismus-Spektrum“, wovon das Mädchen Aida beeinträchtigt, trotzdem aber eine starke Persönlichkeit ist. Für die sprachlich und naturwissenschaftlich begabte Aida ist die Schule dennoch Stress und Reizüberflutung – und soziale Kontakte lösen oft Ängste aus. Inspiriert von Greta Thunberg und unterstützt von ihrer Mutter, agiert Aida – trotz ihres schwierigen Alltags – auf Kundgebungen, wendet sich an Politik und Öffentlichkeit, erklärt, wie es neurodiversen Menschen in unserer Gesellschaft geht. Aida will kein Mitleid, sondern Veränderung und ein Schulsystem, in dem neurodiverse Kinder und Jugendliche unterstützt werden und auch erfolgreich sein können. Ihr Engagement kostet sie Kraft und Geduld, doch sie findet auch Gleichgesinnte und Gemeinschaft – und hat eine überaus fürsorgliche und engagierte Mutter! Ein Film, der emotional und nachvollziehbar die Schwierigkeiten zeigt, aber auch vermittelt, welche Hilfe in einem sozialen System wie Skandinavien existiert. »Maija Hirvonens Dokumentarfilm hinterfragt unsere normierten Denkmuster: Wie gerecht ist diese Gesellschaft und für wen?« Maija Hirbonen studierte Dokumentarfilm an der Aalto-Universität in Helsinki und arbeitet als Regisseurin, Drehbuchautorin und Kamerafrau. Nach zwei Kurzfilmen ist Neurotyypit ihr erster abendfüllender Dokumentarfilm.
Dem Film Armand/Elternabend, der in der Kategorie Spielfilme auch für „ältere Jugendliche“ im Programm „Young Audience“ zu sehen war, kam ein besonderes Interesse entgegen, nicht zuletzt, weil für Regie und Drehbuch mit Halfdan Ullmann Tondel der Enkel von Liv Ullmann und Ingmar Bergman zuständig war, zudem ist sein Spielfilmdebüt mit Norwegen, Deutschland, Schweden und den Niederlanden eine beeindruckende Kooperation. Es ist ein Film mit einer düsteren Geschichte, ausgehend von einem undurchsichtigen wie fragwürdigen Vorfall in der Schule: Der sechsjährige Jon wurde weinend und mit heruntergelassener Hose angetroffen – Anlass für den Direktor, die Mutter des Schülers Armand und die Eltern von Jon aufzufordern, in der Schule zu erscheinen. Was genau passiert ist, kann nicht offen gelegt werden, ist aber plötzlich Anlass für ein Gespräch über das vermeintlich fragwürdige Privatleben der Erziehenden, das hier mit Andeutungen und Verdächtigungen verhandelt wird. Das Spielfilmdebüt zeigt, wie Vorgeschichte, Befindlichkeiten und Fantasien die Suche nach der Wahrheit beeinflussen. Die aufgeladene Atmosphäre wird durch groteske Tanzeinlagen und surreale Traumsequenzen verdichtet und ins Absurde geführt. … Mit grimmigem Blick beobachtet der Film, wie Menschen ihre Masken fallen lassen und eine Gemeinschaft wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt.
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Hier kann nur ein Ausschnitt aus der Fülle des filmischen Angebots der Nordischen Filmtage vorgestellt werden. Aber das vermittelt schon, dass in den skandinavischen Ländern der Kinder- und Jugendfilm nach wie vor einen hohen Stellenwert hat. So wird auch Lübeck nach wie vor ein wichtiger Ort für die Vermittlung dieses qualitativen und engagierten Filmschaffens bleiben. Auf Wiedersehen im nächsten Jahr!
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Der große Gewinner von »Young Audience« in Lübeck ist Lars Is Lol, der Debütfilm von Eirik Sæter Stordahl.
»Als Amanda nach den Sommerferien in die Schule zurückkommt, soll sie sich als Mentorin um den neuen Mitschüler Lars kümmern. Er hat das Down-Syndrom und Amanda fürchtet, dass er sie blamieren wird; stattdessen entsteht zwischen ihnen eine besondere Freundschaft. Die gerät in Gefahr, als sie von ihren – falschen – Freundinnen gedrängt
wird, die Freundschaft zu Lars aufzugeben. Dieser Film bewegt die Gemüter, man versteht den Konflikt, der Amanda hin- und hertreibt, und das ist sehr emotional dargestellt, bis es endlich versöhnlich für die beiden endet.«
Preis der Kinderjury: »Alle Filme waren auf ihre eigene Art sehenswert … jetzt kommen wir zu dem Film, der uns am besten gefallen hat. Einmal, da es in diesem Film viele Wendepunkte gab und die Geschichte wenig vorhersehbar war. Durch die vielschichtigen Charaktere sowie deren Themen und Probleme, mit welchen wir auch in unserem Leben konfrontiert werden, wirkt der Film sehr echt und nah. Außerdem gut gefallen hat uns, dass der Film trotz fehlender typischer Action, Szenen durch Spannung auf sozialer Ebene sichergestellt hat, dass uns nicht langweilig wurde. Die schauspielerische Leistung der beiden Hauptpersonen hat uns auch sehr überzeugt.«
Auch die Kinder- und Jugendfilmpreis-Jury hatte sich für Lars Is Lol entschieden: »Dass Handlungen Konsequenzen haben, lernt die Hauptfigur des Films für sich allein, aber auch dank ihrer Freunde. Wir folgen einer einfühlsamen Geschichte über Vertrauen, Verantwortung und über die Erkenntnis, dass die Welt schöner ist, wenn man zu sich selbst und zueinander steht. Dies erzählt uns der Film mit einem sensiblen Drehbuch, einer überragenden Inszenierung und dank eines Ensembles, das noch lange im Gedächtnis bleibt.«