Kinderkritiker*innen vor! |
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Eva und Adam hat die jungen Zuschauer überzeugt | ||
(Foto: Nordische Filmtage Lübeck) |
Von Christel Strobel
Lübeck, allgemein bekannt für Marzipan, ist seit 63 Jahren im November auch ein Treffpunkt für begeisterte Kinogänger und ein aktives Fachpublikum. Wobei die Gründung eines der ältesten Filmfestivals Europas und eines von nur zweien, das sich auf den nordischen Raum spezialisiert hat, etwas anders verlief.
Es begann 1956 mit einem Rahmenprogramm zum Wirtschaftskongress von Vertretern der skandinavischen Länder. Rolf Hiller, Inhaber einer Apotheke in Travemünde und Vorsitzender des Lübecker Filmclubs, holte dazu skandinavische Filme nach Lübeck. Ermuntert durch den Publikumserfolg wurde daraus ein jährliches Filmfestival, das auch schon früh Filme von Ingmar Bergman präsentierte. Hiller leitete 15 Jahre die Nordischen Filmtage, besuchte im Urlaub die skandinavischen Hauptstädte für die Filmauswahl, bis die Vorbereitung und Durchführung des Festivals die Kapazitäten des ehrenamtlichen Lübecker Filmclubs überstieg.
Seit 1970 ist die Hansestadt Lübeck Veranstalter der Nordischen Filmtage, die im Laufe der Jahre immer umfangreicher und professioneller geworden sind. Zum beachtlichen Filmangebot aus den skandinavischen kamen Produktionen aus den baltischen Ländern hinzu. Während der gesamten Zeit gab es lediglich vier Personen in der künstlerischen Leitung (Bernd Plagemann, Andrea Kunsemüller, Linde Fröhlich und über viele Jahre Hauke Lange-Fuchs). In diesem Jahr, 2021, wurde Thomas Hailer (vormals Berlinale) für diesen Posten berufen. Und Herr Hiller, ein unermüdlicher Filmfan, nahm bis 2019 Anteil und saß zur Preisverleihung bei der Filmnacht als Ehrengast in der ersten Reihe des Theaters.
Kinder- und Jugendfilme haben auch eine beachtliche Tradition bei den Nordischen Filmtagen, die von Anfang an alljährlich an sechs Tagen über das erste Wochenende im November stattfinden.
Bereits 1979 wurde die erstaunliche Zahl von annähernd 30 Spiel- und Kurzfilmen aus der skandinavischen Produktion vorgestellt und regelmäßig mit Filmgesprächen und Seminaren des Bundesverbands Jugend und Film begleitet. So entwickelte sich Lübeck im Laufe der Zeit auch zu einem
»Mekka« der Kinderfilmszene.
Nach der Corona-Pause im vergangenen Jahr heißt es 2021 »Willkommen zurück!« – das Programm ist wieder live im Kino zu sehen: 13 Langfilme und 5 Kurzfilme. »Schwierige Themen kindgerecht inszeniert, hochklassiges Family-Entertainment, unorthodoxer Umgang mit vermeintlich feststehenden Werten und Rollenmodellen: All das ist charakteristisch für den skandinavischen Kinder- und Jugendfilm«, so beschreibt Franziska Kremser-Klinkertz, Leiterin der Kinder- und Jugendfilm-Sektion, die aktuelle Auswahl.
Begleitet und begutachtet wurde das Programm mit Filmkritiken und Interviews von acht Lübecker Jugendlichen, 14 bis 17 Jahre alt, einige ganz neu dabei, andere bereits erfahrene Kino-Experten.
Die »Jungen Festival-Blogger« sind ein Projekt der Nordischen Filmtage Lübeck und finden in Kooperation mit den Lübecker Nachrichten, dem NDR u.a. statt. Die Ergebnisse sind auf der Webseite der Nordischen Filmtage unter Projekte / Junge Festival-Blogger 2021 veröffentlicht.
Birta (Island 2021, Regie: Bragi Bór Hinriksson, Drehbuch: Helga Amardóttir, empfohlen ab 10 J.) hat alles, was die Qualität des skandinavischen Familienfilms ausmacht. Birta, 11 Jahre, lebt mit ihrer Mutter und der kleinen Schwester Kata eigentlich ganz zufrieden. Nur, dass ihre Mutter viel arbeitet und es doch am Geld für ein schönes Weihnachtsfest mangelt. Was sie aus einem leise geführten Telefonat der Mutter beiläufig erfährt, beunruhigt sie. Birta wird aktiv und bekommt die Summe, die sie bei dem Gespräch gehört hat, mit einer originellen und jahreszeitgemäßen Aktion – Fischverkauf »für einen guten Zweck« – zusammen. Kata hilft ihr dabei, auch Freund Kim und die alte Greta aus der Nachbarschaft haben noch ein paar Ideen. Doch das läuft nicht alles glatt – und als sich am Weihnachtstag die belauschte Summe als Missverständnis herausstellt, nimmt dieses Weihnachten für Birta einen unerwarteten, aber glücklichen Verlauf. Dass Weihnachten nicht nur ein »Fest der Geschenke« ist, sondern auch an Menschen in Not, hier Patienten in einem Kinderkrankenhaus, gedacht wird – das ist ein Schluss, der ins allzu Moralische abgleiten kann, was aber durch das unbefangene Spiel von Birta und der kleinen Kata (übrigens die Tochter der Drehbuchautorin) zum Glück nicht der Falll ist. Auch ein schöner Weihnachtsfilm, der vermutlich in unsere Kinos kommen wird (Weltrechte liegen bei Studio Hamburg).
Buster (Dänemark 2021, R: Martin Miehe-Renard, B: Jesper Nicolaj Christiansen, empfohlen ab 9 J.) – Unter dem Titel »Buster, der Zauberer« nach dem Buch »So einen wie mich kann man nicht von den Bäumen pflücken, sagt Buster« des dänischen Jugendbuchautoren Bjarne Reuter kam schon einmal eine Verfilmung – Buster, der Zauberer, Regie: Bille August, Drehbuch: Bjarne Reuter, 1984 – mit großem Erfolg in unsere Kinos. Der neue Buster ist eine flotte Neuverfilmung mit einem liebenswerten Jungen, dem aber viel aufgebürdet wird. Der Elfjährige, ein leidenschaftlicher Zauberer, der unbedingt Sieger der Talentshow in seiner kleinen Siedlung werden möchte, hat mit Simon-Olaf einen fiesen Rivalen, zudem einen Vater, der als Erfinder und Chaot für Aufregung sorgt, und er kümmert sich rührend um seinen Mentor, einen alten, schwerkranken Herrn, und muntert seine kleine, sanfte Schwester auf, die wegen ihres zu kurzen Beins immer wieder gehänselt wird. Da braucht es schon etwas Magie, um ans Ziel seiner Wünsche zu kommen. Dieser temporeiche Film könnte eine Bereicherung auch des hiesigen Kinderkinos sein.
Sihja – Die Rebellische Elfe (Kapinaa Ilmassa, Finnland/Niederlande/Norwegen 2021, R: Marja Pyykko, B: Kirsikka Saari, Jenni Toivoniemi, empfohlen ab 6 J.) ist ein Kinderfilm zum Thema Natur- und Umweltschutz, um das sich inzwischen immer mehr Filme bemühen – jüngstes Beispiel Die Pfefferkörner und der Schatz der Tiefsee
(Deutschland 2020). Die rebellische Elfe Sihja, mit Flügeln auf dem Rücken, die sie nach der Landung auf der Erde im Rucksack versteckt, taucht plötzlich beim Naturkind Alfred im Wald auf. Beide haben auf ihre Weise gewöhnungsbedürftige Eigenschaften. Doch als Alfred immer mehr tote Vögel am Boden findet, gehen sie gemeinsam diesen verstörenden Entdeckungen nach und kommen einem kriminellen Umweltskandal auf die Spur. Ein großes Thema, das jüngeren Kindern mit märchenhaften,
zuweilen aber auch holprigen Trick- und Fantasie-Elementen nahegebracht wird.
Zum Lübecker Kinderfilmprogramm gehörten auch die beiden sehenswerten und bereits vorgestellten Filme Der erste Schnee (Ensilum, Finnland 2020), das Langfilmdebüt des finnisch-iranischen Regisseurs Hamy Ramezan – siehe Any Day Now, Generation Kplus / Berlinale 2021, und der Animationsfilm Affenstern (Apstjärnan, Regie: Linda Hambäck, Dänemark / Schweden / Norwegen 2021) – siehe The Ape Star, Kinderfilmfest München 2021.
Hello World (Hei Verden, Norwegen / Schweden 2021, R / B: Kenneth Elvebakk, empfohlen ab 14 J.), ein dokumentarischer Film, der mit großer Selbstverständlichkeit in die queere Szene führt. Kenneth Elvebakk porträtiert zwei lesbische und zwei schwule Jugendliche, Runa, Dina, Viktor und Joachim, und begleitet sie drei Jahre. Anfangs sind sie 13 und 14 Jahre, sie sprechen über die Schwierigkeiten des Coming outs, über Reaktionen in
Schule und Öffentlichkeit, auch über die Unterstützung ihrer Familie und Freunde, über Enttäuschung und Zuneigung auf dem Weg, so zu leben wie es einem mitgegeben wurde.
Die beiden Filmkritikerinnen Mia (17) und Lovisa (15) schreiben in ihrem Blog: »Das Schöne an dem Film ist, dass gezeigt wird, dass man anders sein darf. Wir mochten den Film sehr gerne, weil klargemacht wird, dass es okay ist, wenn man lesbisch oder gay ist. Was auch super an dem Film ist: Dass die vier Teenager
sehr offen vor der Kamera über sich und ihre Gefühle sprechen. Das erfordert ja auch sehr viel Mut und ist nicht selbstverständlich. Weil das Thema wichtig ist, würden wir den Film für Kinder und Jugendliche ab 12 oder 13 Jahren empfehlen. Man kann den Film aber auch schon mit 10 Jahren verstehen.« Der Film erhielt eine Lobende Erwähnung der Jugendjury.
Ein Film, der in jeder Weise aus dem Rahmen dieser Programmreihe fällt, nicht zuletzt mit der Altersempfehlung ab 16: Goodbye Sowjetunion (Hüvasti Nsvl, Estland / Finnland 2020, R / B: Lauri Randia) erzählt über den Prozess des schmerzhaften, gewalttätigen wie befreienden gesellschaftlichen Umbruchs in der UdSSR hauptsächlich aus der Sicht eines Jungen. Im Stil einer schrillen Satire beginnt es schon mit der Geburt von Johannes:
»In der Sowjetunion«, sagt die energische Krankenschwester im großen Kreissaal zu seiner wehklagenden Mutter, »gebären Frauen schweigend!« Die Familie gehört einer finnischsprachigen Minderheit an und zieht nach Estland. Johannes’ Mutter geht in den Westen zum Arbeiten, was nicht immer den erwünschten Geldsegen, aber immerhin Pakete mit raren Dingen wie Bananen bringt. Der Junge hat sich mittlerweile in das Mädchen verliebt, mit der er schon den Brutkasten teilte, wird aber
von deren Bruder rüde behandelt und verfolgt. Langsam kommen in Estland Forderungen nach Unabhängigkeit auf, und aus Nachbarn werden Feinde. »Lauri Randlas autobiografisch inspirierte Satire begegnet dem grauen Alltag der letzten Jahre der Sowjetunion in knallbunten Farben und blickt mit jungen Augen auf einen historischen Moment.«
Der 16-jährige Filmkritiker Alessandro beschreibt seine Widersprüche: »Ich weiß nicht, was ich genau von diesem Film halten soll. Die ersten zehn
Minuten sind mehr eine Erzählung als ein Film. … Aber ich will sehen, wie es passiert. … Oft dachte ich mir, dass bestimmte Szenen unnötig dramatisch waren. … Es gab aber auch sehr gute Sachen. … Ich fand es großartig gemacht, wie Johannes’ Verzweiflung gezeigt wurde. Dass er langsam an seiner Familie und an der Ideologie der Sowjetunion zu zweifeln beginnt, war herrlich dargestellt. … Der Film ist wirklich gut gemacht und ab der Mitte des Films wird
es meiner Meinung nach besser.«
Im gut besetzten Kino stellten dementsprechend mehr junge Erwachsene das Publikum, die sich auf Inhalt und Gestaltung sichtlich mit großem Vergnügen einließen.
Den Kinder- und Jugendfilmpreis der Fachjury (dotiert mit 5.000 Euro) erhielt der schwedische Film Nelly Rapp, Monsteragentin (Schweden 2020, R: Amanda Adolfsson)
»Das Mädchen Nelly Rapp verbringt die Ferien in einer riesigen alten Villa bei ihrem Onkel Hannibal. Schon am zweiten Tag findet Nelly etwas Besonderes heraus: Monster gibt es doch! Während ihrer Ferien lernt sie die Welt der Monster kennen und … entdeckt etwas Wichtiges. Auch Monster sind menschlich und lebenswert. Nellys Erkenntnis spiegelt für mich übrigens stark das Problem mit Rassismus wider und zeigt somit auch Jüngeren das Problem der heutigen Gesellschaft. … Nelly
Rapp ist ein ganz klarer Kinderfilm, der seiner Altersempfehlung ab 12 absolut gerecht wird.«
Filmkritik von Jonas, 14 J.
Die Kinderjury (sieben Kinder aus Lübeck) vergab ihren Preis (ebenfalls mit 5.000 Euro dotiert) an den schwedischen Film Eva & Adam von Caroline Cowan.
Eva & Adam (Schweden 2021, R: Caroline Cowan, B: Måns Gahrton, Johan Unenge, empfohlen ab 12) – der Preis der Kinderjury zeigt, dass dieser
einfühlsam und auch mit einem liebevollen Blick auf verwirrende Phasen von Heranwachsenden inszenierte Film bei der »Zielgruppe« ankommt.
Es ist die Geschichte von Adam, der vom Land, wo er seine – ein bisschen in ihn verliebte – Freundin Molly verlassen und in die große Stadt Göteborg umziehen muss. Hier, in der neuen Schule, lernt er Eva kennen, die in die gleiche Klasse geht. Beide sehen sich gern, Gefühle füreinander kommen ins Spiel. Allerdings hat Eva ihrer engsten
Freundin schwören müssen, dass sie die Jungen weder ansehen noch mit ihnen sprechen wird– ein Anti-Jungs-Pakt sozusagen. Die Situation wird heikel, als eines Tages die verliebte Molly nichtsahnend und erwartungsvoll zu Adam auf Besuch kommt. Und was ist, wenn Eva, die eine radikale Tierschützerin und auch gegen die Haltung von Haustieren ist, sein Kaninchen entdeckt! Aber die Gefühle lassen sich nicht unterdrücken, und das scheint auf Gegenseitigkeit zu
beruhen.
Filmkritiker Jonas, 14, war von Eva & Adam überzeugt: »Ein Film über Liebe und dann auch noch mit diesem Titel klingt für dich zu kitschig? Das war auch mein erster Gedanke, als ich im Kino saß. Sobald ich mich jedoch auf den Film eingelassen hatte, merkte ich, dass er kaum kitschig ist. Zwar setzt er viel auf Freundschaft und Liebe, hat jedoch auch eine Menge amüsanter Szenen und ist durchgehend spannend. Wer das gleichnamige Buch von Måns
Gahrton und Johan Unenge schon kennt und mag, wird den Film sehr wahrscheinlich auch mögen. Doch auch für jemanden, der das Buch nicht kennt, ist dieser schwedische Film von Caroline Cowan auf jeden Fall sehenswert und für so ziemlich alle Altersklassen geeignet.«
»Ich freue mich, dass wir in meinem ersten Jahr die Nordischen Filmtage erfolgreich zurück in die Hände der Zuschauerinnen und Zuschauer legen konnten. Viele Filmemacher haben Lübeck genutzt, sich wieder mit dem Publikum zu treffen, die wechselseitige Freude daran hat das diesjährige Festival geprägt. Aufgegangen ist auch die Verkleinerung des Programms. Mehr Aufmerksamkeit für weniger Filme!«, so der neue Festivalleiter Thomas Hailer.
Was immer schon eine sympathische
Besonderheit der Nordischen Filmtage war, zeigte sich glücklicherweise auch wieder in diesem Jahr: Überall auf der »Kinomeile« sah man ins Gespräch vertiefte Gruppen und Grüppchen, d.h. Lübeck ist nach wie vor das Ziel einer »Fortbildungsreise« für Filmclubs. Von einem Filmclub ging ja schließlich die Gründung der Nordischen Filmtage aus.
Und zur Zukunft noch ein Wort von Thomas Hailer:
»Wir arbeiten bereits an der Erweiterung der Nordischen Filmtage für Lübecker Schulen. Aus einer Backlist mit Filmen, die in den vergangenen Jahren erfolgreich in Lübeck gelaufen sind, entsteht ein Katalog mit einem Angebot für Kinobesuche zwischen den Festivals. Ergänzend zu den Filmen gibt es medienpädagogisches Begleitmaterial, aufgezeichnete Gespräche mit Filmemacher*innen und bei Bedarf auch praktische
Unterstützung im Bereich Filmvermittlung und medienpädagogische Begleitung. Das ganze geht Anfang Februar 2022 in eine erste Testphase mit ausgewählten Lübecker Schulen, ab dann wird der Angebotskatalog über zwei Jahre hinweg – in Kooperation mit dem Bundesverband Jugend und Film – sukzessive bis zu einer Anzahl von ca. 50 Filmen erweitert.«