21.11.2024
Cinema Moralia – Folge 338

Taube, Phoenix und die Asche

Intrige
Der auffälligste Akt der Zensur in der jüngeren Filmgeschichte: Roman Polanskis Intrige
(Foto: Weltkino)

In der Zeit der Zensur und der Idiotie sind beide nicht voneinander zu trennen. Über autoritäre Tendenzen in der Demokratie und den Zynismus der Wirklichkeit – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 338. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Kein Kino in der englisch­spra­chigen Welt, zitiert der Perlen­tau­cher Spectator-Kolumnist Nick Cohen diese Woche, würde es wagen, Roman Polanskis Film Intrige über die Dreyfus-Affäre zu zeigen.
In London lief der Film neulich an einem Tag in einem einsamen Kino in Nord-London. Und im puri­ta­ni­schen Sauber­mann­staat USA wird er schon gar nicht gezeigt. An Polanski hängt das alte wider­recht­liche und juris­tisch partei­ische Verge­wal­ti­gungs­ver­fahren sowie ein diffuser #MeToo-Geruch, der in den augen­blick­li­chen toxischen Gesell­schafts­ver­hält­nissen sozial tödlich ist. Zwar hat niemand je expressis verbis verlangt, dass sein Film nicht gezeigt wird, aber die Kino­be­treiber agieren aus »voraus­ei­lender Zensur«. Auch bei Amazon Prime oder anderen Streaming-Diensten könne man den Film nicht auf Englisch sehen, so Cohen, der kein Blatt vor den Mund nimmt, und von »auto­ri­tären Tendenzen« und »Zensur« innerhalb der Demo­kratie spricht.

Das hat womöglich auch etwas damit zu tun, dass Polanskis Film so aktuell ist wie überhaupt nur möglich. Er handelt von Anti­se­mi­tismus; von öffent­li­chen Kampagnen gegen Juden; von Fake-News und Täter-Opfer-Umkehr, und von einer Iden­ti­täts­po­litik, die in gesell­schaft­li­chen Faschismus mündet.

Dazu nochmal Cohen:
»Dass Dreyfus eindeutig unschuldig ist, spielt für die Armee, den Pöbel auf der Straße oder die rechte Presse keine Rolle. Er ist Jude und der Versuch, seinen Namen rein­zu­wa­schen, ist eine jüdische Verschwörung.« Cohens depri­miertes Fazit: »Dave Rich, der große Experte für modernen Anti­se­mi­tismus, hat fest­ge­stellt, wie Juden aus der modernen Kultur heraus­ge­schrieben werden. Er verweist auf Die Foto­grafin, Kate Winslets Darstel­lung des Lebens der Kriegs­fo­to­grafin Lee Miller. Sie war Zeugin des Holocaust, aber es gibt nur eine einzige 'explizite Erwähnung von Juden in einem Film, der mit der Befreiung von Buchen­wald seinen Höhepunkt erreicht', schreibt Rich. Nichts von dieser erbärm­li­chen Schön­fär­berei der Geschichte ist in Intrige zu sehen. Polanski konfron­tiert Rassismus und Verschwörungs­theo­rien mit einer Direkt­heit, die Liberale früher bewundert haben.«

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Auch in den deutschen Medien wurde Die Foto­grafin nur unkri­tisch und überaus ober­fläch­lich bespro­chen.

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Das Jüdische Film­fes­tival von London zeigte schließ­lich den Mut, den Arthouse-Kinos, die BBC, Channel 4 und alle Streaming-Dienste vermissen ließen, und präsen­tierte Intrige für einen einzigen Abend im Phoenix-Kino in Finchley, Nord-London.
Diese »Unter­drü­ckung der Verfil­mung von Robert Harris' Roman über die Dreyfus-Affäre (1894 bis 1906) ist der auffäl­ligste Akt der Zensur in der jüngeren Film­ge­schichte«, so der Spectator.

Und weiter: »Viele würden das alte Argument vorbringen, dass man Leben und Werk eines Künstlers trennen müsse, und dass jeder, der in den privaten Leben von Künstlern nach mora­li­scher Erbauung sucht, zwangs­läufig enttäuscht wird.
Aber die alten Argumente zählen in unserem neuro­ti­schen Zeitalter nicht mehr. Das Verbot von Intrige entbehrt jeder ratio­nalen Erklärung. Die Zensur ist ein will­kür­li­cher und geheimer Akt, getrieben von den realen und einge­bil­deten Ängsten der Medi­en­büro­kraten.
Bei der Vorfüh­rung in Finchley erklärte die Jour­na­listin Tanya Gold, die den Film einlei­tete, wir lebten in einer ›Zeit der Zensur und der Idiotie, und die beiden seien nicht vonein­ander zu trennen‹.«

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Wenn man verstehen möchte, warum heute israe­li­sche Truppen die Existenz Israels und sein Exis­tenz­recht mili­tärisch gegen arabische Terro­risten und ihre Helfers­helfer vertei­digen, muss man diesen Film sehen.
Theodor Herzl, der Begründer des Zionismus, hörte bei den Anti-Dreyfus-Demons­tra­tionen in Paris erstmals die Parole »Tod den Juden!«. Er erkannte, dass selbst die eman­zi­pier­teste Gesell­schaft Europas – die fran­zö­si­sche – für Juden nicht sicher war. Nur ein eigener jüdischer Staat würde sie aus Dauer vor dem Rassismus der Juden­hasser retten.

Aber das ist in Groß­bri­tan­nien und den USA nicht möglich.

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Und die Linken behaupten auch hier­zu­lande, »Cancel Culture« sei nur ein Mythos der Rechts­extre­misten.

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So zynisch wie die Realität ist auch das Verhalten des Amster­damer Doku­men­tar­film­festes IDFA in den ehemals liberalen Nieder­landen. Im Vorjahr hatte es auch hier einen Anti­se­mi­tismus-Skandal gegeben.
Die Antwort des syrisch-arabi­schen IDFA-Direktors, des in Berlin (wo sonst?) lebenden Orwa Nyrabia, ist das Poster der aktuellen, noch laufenden Ausgabe. Besucher des Festivals und nieder­län­di­sche Jour­na­lis­ten­kol­legen – die sich das öffent­lich zu schreiben nicht mehr trauen – haben mich auf das so abge­feimte wie skan­dalöse Festival-Poster aufmerksam gemacht.
Betreiben wir mal Bild-Analyse:

Das offi­zi­elle Poster ist voller versteckter anti­se­mi­ti­scher Symbole, von der »paläs­ti­neni­schen« Wasser­me­lone in einem roten Hamas-Dreieck, über einer Schlange und einer toten Frie­dens­taube. Nyrabia hat damit mehrere rote Linien weit über­schritten – aber bisher bleibt vor Ort die Debatte aus!

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Junge Menschen werden konser­vativ, das ist nichts Neues. Junge Menschen wählen auch rechts­extrem, das ist leider eine unan­ge­nehme Über­ra­schung, aber genau genommen auch nichts Neues. Hinzu kommt: junge Menschen, auch die, die nicht konser­vativ sind und nicht rechts wählen, wenden sich der Etikette zu: Höflich­keits­formen wie aus dem 19. Jahr­hun­dert feiern plötzlich fröhliche Urständ.

Voll­kommen unmo­ti­viert steht beispiels­weise in E-Mails ein Satz wie »Danke für deine Wert­schät­zung«. Überall gibt das Dauer­be­tonen von »Fairness« und Respekt, vor allem von Vors­tänden und CEO’s, die die so wert­ge­schätzten Unter­ge­benen dann bei nächster Gele­gen­heit eben auf respekt­volle Weise raus­werfen.

Sekkieren, aber höflich!