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In Kooperation mit der Ludwig-Maximilians-Universität und dem Filmschoolfest Munich
Electrician turned politician – 1990 wird Lech Wałęsa zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten Polens. Jahre später beziehen Elektriker Wiktor und seine Familie eine Wohnung, in der der populäre Nationalheld einst lebte. Ein inspirierendes Vermächtnis, das Wiktor jedoch rasch zum existenzkriselnden Verhängnis wird. Triste, von kahl-weißem Licht durchflutete Tableaux und eine abrupte Schnittführung zeigen den disharmonischen Alltag eines Mannes, der es weder vermag, die Schatten unerfüllter Sehnsüchte zu überwinden, noch den hochtrabenden Ansprüchen seiner Ehefrau zu genügen: »Be somebody.« Ein komödiantisch anmutender Spielfilm, dem es in emotional anrührenden Close-ups fast spielerisch gelingt, die Ernsthaftigkeit einer der wohl universellsten Existenzfragen zu ergründen: Wer will ich sein? – Jaël Gallert
Neue Wohnung, neues Glück? Ein besonderer Umzug ist für den jungen polnischen Regisseur Michal Toczek Anlass, sich mit der philosophischen Frage nach der menschlichen Identität zwischen Gewöhnlichkeit und dem Streben nach Besonderheit zu befassen. In seinem Kurzfilm Be Somebody zieht eine vierköpfige Familie, ohne es zu wissen, in die Wohnung des berühmten – heutzutage auch kontroversen – Nationalhelden Lech Wałęsa ein. Ab da dreht sich ihr Leben mehr und mehr um das Abliefern einer Performance für Tourist*innen. Spärliche Beleuchtung und Close-ups verdeutlichen, wie sich das Paar durch Wiktors Versuch, ein Held für seine Familie zu sein, immer mehr vereinzelt und verliert. Doch es gibt auch unzählige Momente des Schmunzelns. Zum Glück erkennt das Paar schließlich, dass man sich nicht selbst opfern muss, um jemand zu sein. Schlussendlich wird Lech Walesa durch die Renovierung der altertümlichen Wohnung endgültig zur Geschichte. – Veronika Wagner
Was passiert, wenn deine Wohnung zum Museum wird? Im Film schlüpft die Familie von Wiktor widerwillig in die Rolle von Gastgebern für Touristen, die die ehemalige Wohnung von Lech Wałęsa bestaunen wollen. Zunächst scheint der Plan aufzugehen: finanzielle Entlastung und ein Hauch von Abenteuer ziehen ein. Doch als Wiktor seinen eigenen Wert erkennt, steht die Familie vor der Herausforderung, sich neu zu definieren. Mit polnischer Punkmusik und einer gehörigen Portion Situationskomik zeigt der Film, wie aufregend – und chaotisch – es sein kann, in eine fremde Rolle zu schlüpfen. Eine clevere und unterhaltsame Mischung aus Gesellschaftssatire und Familienporträt. – Lisa Islinger
Voyeurismus bis die Maske fällt. Als Wiktor und seine Familie in die Wohnung eines polnischen Nationalhelden ziehen, erkennt seine Frau sofort ein lukratives Geschäft. Schnell stehen touristische Touren und geschauspielerte Nacherzählungen auf der Tagesordnung – zum wachsenden Unmut Wiktors. Dass dieser, genau wie der Nationalheld Lech Wałęsa, ein Elektriker ist, ist dabei nur eine von vielen gekonnt eingesetzten Ironien. Wiktor-Schauspieler Sebastian Stanjiewicz bringt seine Kabarett-Karriere in den Film ein und macht aus einem Familiendrama eine Komödie, bei der wir Mäuschen spielen dürfen. Mit Shots durch Türrahmen und hinter Köpfen begleitet man die Familie bei ihrer emotionalen Achterbahnfahrt durch Familienglück und Verletztheit, welche durch den Einsatz von Farbstimmungen und Musik unerwartet 'heavy' unter die Haut gehen. – Franziska Merk
Cura Sana
Spanien 2024 · R: Lucía G. Romero · Int. Programm 1 · ESCAC – Escola Superior de Cinema i Audiovisuals de Catalunya
Können Kinder nicht einfach Kinder sein? Diese Frage geht einem durch den Kopf, während man dem Alltag der beiden Mädchen in Lucía G. Romeros Kurzfilm zusieht. Sie leben am Existenzminimum, beide Eltern müssen ununterbrochen arbeiten. Jessica übernimmt nicht nur die Mutterrolle für ihre kleine Schwester Alma, sondern auch weitere elterliche Pflichten. Dazu kommt die Angst vor dem gewalttätigen Vater, und sie wird insgesamt ihrer Jugend beraubt. Die Liebe zu erforschen und Zeit mit Freunden zu verbringen scheint für sie unmöglich. Der Film präsentiert ein unzertrennliches Band zwischen den beiden Schwestern, das stärker ist als alle Widrigkeiten und das sie am Schluss einen kurzen, hoffnungsvollen Augenblick der Unbeschwertheit erleben lässt. In seinem letzten Atemzug schreit der Film: »Gebt den Kindern ihre Kindheit zurück!« – Jannik Janetzko
Dou
Vereinigtes Königreich, China 2024 · R: Jing Zhao · Int. Programm 4 · LFS – London Film School
Vergeltung aus dem Jenseits. In dieser zeitgenössischen Adaption eines alten chinesischen Volksmärchens steht die Klavierlehrerin Dou im Mittelpunkt, die von ihrem gewalttätigen Ehemann terrorisiert wird. Ihr Leid erreicht einen tragischen Höhepunkt, als sie im Streit von ihm ermordet wird. Doch mit ihrem Tod endet ihre Geschichte nicht: Dou kehrt zurück – in der Gestalt eines Fuchses – und ist nun nicht mehr machtlos. Die bedrückenden Bilder entfalten
sich in langen, meisterhaft komponierten Einstellungen. Untermalt von einem präzise eingesetzten Sounddesign, verstärkt die starke Bildsprache die wachsende Tragik der Erzählung.
Dou ist weit mehr als eine übernatürliche Geschichte über Vergeltung – es ist ein kraftvolles Porträt der Unterdrückung und Hilflosigkeit von Frauen im modernen China. – Joschua Schulte
Wie verteidigt man sich, wenn man nicht kommunizieren kann? Diese Frage stellt sich Hubble’s Law, eine Adaption einer Kurzgeschichte der litauischen Autorin Lina Simutytė. Protagonist Feliksas ist stumm und scheitert auch in nonverbalen zwischenmenschlichen Interaktionen. Auf seiner Arbeit hat sich ein schwerer Unfall ereignet; danach mehren sich die Stimmen, die laut fragen, welche Rolle er wohl dabei gespielt haben könnte. Durch Kameraeinstellungen und das hervorragende Sounddesign überträgt sich das Gefühl der Hilflosigkeit und der Isolation der auf den Zuschauer. Man möchte Feliksas förmlich anschreien, für sich selbst einzustehen. Ein optisch ansprechender Film über die Frage nach Schuld und der Rolle von Kommunikation in sämtlichen Formen. – Lisa Islinger
I See Them Bloom
Deutschland 2023 · R: Mykyta Gibalenko · Int.Programm 4 · HFF – Hochschule für Fernsehen und Film München
Zwischen Krieg und knarzenden Matratzen. Eugenia und Nastya fliehen vor dem Krieg in der Ukraine nach München. Doch der Neuanfang gestaltet sich für die Schwestern unterschiedlich: Nastya sieht die Chancen und versucht, ihren Platz in der neuen Umgebung zu finden. Eugenia hingegen empfindet das Glück der Menschen um sie herum als kaum erträglich – für sie ist es »zum Kotzen«, während in ihrer Heimat großes Leid herrscht. Der Film beleuchtet die gegensätzlichen Perspektiven mit bemerkenswerter Feinfühligkeit. Auf einer knarzenden Matratze, umgeben von First-World-Problems wie einer verschwundenen Katze und Beziehungsproblemen, entsteht ein eindringliches Porträt, die der Regisseur, von den Erfahrungen seiner Schwestern inspiriert, mit großer Authentizität auf die Leinwand bringt. – Joschua Schulte
Ich könnte so kotzen! Dieser Satz begleitet Miranda Siegel in einer ihrer bipolaren Phasen, welche sie in ihrem Kurzfilm dokumentiert. Basierend auf dem Druck, in der heutigen Hustle-Gesellschaft funktionieren zu müssen, manifestieren sich ihre unterdrückten Emotionen in unaufhörlichem Erbrechen. Schnell wird klar: Es ist keine Lösung, Gefühle permanent hinunterzuschlucken. Auf einer Reise über etwa zwei Monate werden wir durch spontane Handyaufnahmen und ohne Beschönigungen in ihren knallharten Alltag hineingezogen. Gezeigt wird der tägliche Kampf und das Leben in einer psychiatrischen Einrichtung und damit der Bipolarität mehr Sichtbarkeit gegeben. Fröhliche Musik balanciert – und relativiert – die Schwere der Thematik durch eine humorvolle Atmosphäre. Mit authentischen Einblicken trägt der Kurzfilm gekonnt zum Bewusstsein über mentale Krankheiten bei. – Veronika Wagner
Dinge, die man für sich behalten sollte: sensible Daten und den eigenen Mageninhalt. Dass sich letzterer in Miranda Siegels Dokumentation wiederholt seinen würgenden Weg ans Tageslicht bahnt, scheint auf den ersten Blick das Resultat perfider Schocklust zu sein. Von einem schwarzen Bildrahmen umgeben, mit grellgelben Untertiteln versehen und von verspielten Melodien begleitet, übergibt sich Siegel minutenlang vor laufender Kamera. Schwallartig entblößt die Regisseurin so allerdings nicht nur die Überreste vorangegangener Mahlzeiten, sondern legt die Auswirkungen ihrer bipolaren Störung auf bewundernswert verletzliche Art und Weise dar. Indem er verschluckt geglaubte Gefühle nach außen kehrt, geht Siegels Kurzfilm daher nicht ohne Grund selten intensiv unter die Haut. – Jaël Gallert
Gefangen in einem fremden Krieg. – Regisseur Sachin erzählt in seinem Dokumentarfilm davon, wie die indische Bevölkerung eine historische Ungerechtigkeit im Zuge des ersten Weltkriegs erleiden musste. Unter dem Kommando der britischen Kolonialmacht wurden 1,4 Millionen Inder eingezogen, um in Flandern zu kämpfen. Hineingezogen in einen fremden Krieg haben sie selbst keine Macht darüber, wann oder ob sie jemals nachhause zurückkehren. Dabei werden durch eine Komposition verschiedenster Medien, die von alten Archivaufnahmen bis hin zu persönlichen Briefen reichen, die Schrecken des Krieges deutlich, die sie erlebten. Obwohl wir ihre Namen nicht kennen, wird durch diese mediale Vielstimmigkeit eine beängstigende Nähe zu den Soldaten erzeugt. Es ist eine Hilf- und Machtlosigkeit, die man aufgrund der gelungenen Inszenierung am eigenen Leib miterleben muss. – Jannik Janetzko
Vergessene Helden im Rampenlicht. Der Film widmet sich einem oft übersehenen Kapitel der europäischen Geschichte: den 1,4 Millionen indischen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg für die britische Kolonialmacht kämpften. Durch alte Briefe, Lieder und Archivaufnahmen werden die anonymen Soldaten eindrucksvoll zum Leben erweckt. Künstlerisch ist der Film brillant umgesetzt, mit einer atmosphärischen Gestaltung, die die Tragik und Bedeutung dieses Themas einfängt. Leider fehlt es jedoch an Kontext, der das historische Geschehen für ein breiteres Publikum greifbarer machen könnte. Dadurch wirkt der Film stellenweise etwas langatmig. Trotzdem ist er ein wertvolles Werk, das ein wichtiges, oft übersehenes Kapitel der Geschichte beleuchtet. – Lisa Islinger
Tropfen, Seen und Ozeane: Wasser erzeugt Assoziationen wie Freiheit, Leichtigkeit und Reinheit. Dies dominiert den portugiesischen Kurzfilm von Ainá Xisto, der seinem experimentellen Stil dokumentarische Elemente hinzufügt und so (traumatische) Erfahrungen auf vielen Ebenen reflektiert. Gerahmt ist das Bild von Männern, welche zum Teil unscharf, in Froschperspektive und mit hämischem Lächeln gezeigt werden, was extreme Unheimlichkeit erzeugt. Dem gegenüber stehen Bilder in der Natur, wobei das Vorherrschen von Wasser in diversen Formen auffällt. Durch hektische Bewegungen, abstrakte Bilder sowie Unschärfe und Körnung wird das Seherlebenis überaus intensiv – bis zur Überstimulierung der auditiven und visuellen Elemente, was auf das Erleben von sexuellem Missbrauch andeutet. Leider immer noch ein fast universelles Erleben. – Veronika Wagner
Wogen, Wasser, Wellen, so weit das Kameraauge reicht. Blaugrau sickern Flüsse, Mangroven und Meere auf der Leinwand vorbei und begleiten die portugiesische Regisseurin Ainá Xisto für rund 11 Minuten auf einer filmischen Heilungsreise. Ein Voice Over erzählt von sexueller Gewalt, Verletzungen, einer Nahtoderfahrung sowie dem weiblichen Uterus und beschwört so einschneidende Erinnerungen an traumatische Erlebnisse herauf, die sich einer Verbegrifflichung entziehen. Ihr bildlich-abstraktes Äquivalent sind undurchsichtige, flimmernde Shots, elliptische Cuts und abrupte Übergänge, die nichtsdestotrotz ein klares, audiovisuelles Plädoyer für das Selbstbestimmungsrecht eines jeden Individuums aussprechen: Da ist noch immer so viel sanft plätscherndes Leben, das darauf wartet, entdeckt zu werden. – Jaël Gallert
Zwischen Lust, Glaube und Schmerz. Der junge Elias ist dabei, seine Sexualität zu entdecken, doch seine Lust ist untrennbar mit seinem strengen Glauben und dem Bedürfnis nach Schmerz verbunden. Dies führt ihn in eine Abwärtsspirale der Selbstverletzung, die die Zuschauer*innen an die Grenzen des Ertragbaren treibt. Sie mündet in eine Schlüsselszene, die den Höhepunkt seiner masochistischen Selbstbestrafung darstellt. Diese wird zwar nicht explizit gezeigt, aber durch die herausragende Inszenierung und das meisterhafte Sounddesign spielt sich der Horror im Kopf ab und wird somit unausweichlich. Zusätzlich brilliert der Film mit exzellentem Schauspiel und einem beeindruckenden Gespür für kraftvolle Momente. Eine klare Empfehlung – dennoch nichts für schwache Nerven oder Mägen. – Joschua Schulte
Gotteslästerung oder Gottesbefriedigung? Elías steht auf Jesus. Oder, nein, er will Jesus sein. Ein Schnitt am Finger, Sperma auf dem Jesukreuz, eine blutige Nase, das verschluckte Kreuz. Eine Käseraspel. Elías ist verzweifelt. Elías weiß nicht, wohin mit sich, seiner Sexualität, seiner Lust, seiner überwältigenden Obsession mit Jesus. Da hat wohl jemand mehr abgebissen, als er kauen kann. Die Religion ist für ihn alles, was noch da ist.
Mit bilderbuchähnlichen
Bildwelten und sehr realistischen, fast unerträglich haptischen Szenen und Geräuschen berührt dieser Film und erzeugt Reaktionen, die man schon lange nicht mehr beim Schauen eines Films gespürt hat. Mathé erzählt von junger Adoleszenz, Selbstverletzung, Homosexualität und Religion als gefährlicher Gratwanderung. Absturz inbegriffen. – Harriet Dierks
Wo Trigger-Warnungen an ihre Grenzen stoßen. Der Spanier Alejandro Mathé erschafft mit El Mártir einen fesselnden, kontroversen Kurzfilm, der die Grenzen zwischen Spiritualität und körperlicher Begierde auflöst. In der flirrenden Hitze Andalusiens trifft religiöser Fanatismus auf masochistische Sehnsucht – eine polarisierende Mischung, die das Publikum beim 43. Filmschoolfest sichtbar verstörte. Schreie, ungläubiges Lachen und Schock waren nur einige der Reaktionen auf diese radikale Erzählung, die ästhetisch an die Schmerzlust von Fifty Shades of Grey erinnert, zugleich aber biblische Motive provokant neu interpretiert. Mathé stellt in seinem 34-minütigen Film Tabus in Frage, fordert das Publikum emotional heraus und lässt es mit einem bitteren Nachgeschmack über Glauben und Begehren zurück. – Yola Savic
Coming-of-age mit Jesus. Der junge Erwachsene Elías wächst in einem kleinen andalusischen Dorf auf, stark geprägt von Religion. Die halbnackten Darstellungen von Jesus faszinieren ihn, helfen ihm, seinen Körper und seine Sexualität zu erkunden. Dabei geht seine Besessenheit so weit, dass er gefährlich nahe an die Grenzen der Selbstzerstörung stößt, indem er versucht, sein Idol nachzuahmen. Diese masochistische Neigung steigert sich so dramatisch, bis hin zum entscheidenden Moment des Films, dem man sich als Zuschauer:in nicht entziehen kann – ob man möchte oder nicht. Der Kurzfilm von Alejandro Mathé schockt und geht wortwörtlich unter die Haut. Schmerz und Blut sind in seinem Film wesentliche Elemente und dieser somit nichts für schwache Nerven. Die herausragende schauspielerische Leistung von Elías (Rafa Sambruno) macht den Film zu einem klaren Highlight. – Anna-Lena Weber
Wenn Erfahrungen in Träumen sprechen. Regisseurin Mariana Mendivil erschafft mit ihrem experimentellen animierten Dokumentar-Kurzfilm eine atmosphärische Collage, die das Gefühl von Nichtzugehörigkeit eindrucksvoll näherbringt. Mit handgefertigten Fotoschnipseln, mystischen Tiermotiven, animierten Bildern vor realen Hintergründen und einer begleitenden Stimme, die die Geschichte einer immigrierten Person erzählt, entsteht ein visuelles Tagebuch, das Erinnerungen und Identität erkundet. Der warme Vintage-Look und die träumerische Erzählweise machen das Werk zu einer fast schon meditativen Reise, die wie ein Traum wirkt. Sich den klassischen Mustern einer Dokumentation entziehend, nimmt der Film das Publikum mit auf eine biografische Reise von der Geburt bis zur Gegenwart und stellt die Reflexion über Identität und Migration in eine außergewöhnliche Perspektive. – Polina Weiser
Die Orientierung verlieren. Das erzeugt der experimentelle Kurzfilm von Miranda Mendivil. Ausgeschnittene Bilder von Babys, Bäumen, Schlangen, Silhouetten und vielem mehr werden zu visuell ansprechenden Bildern zusammengesetzt. Eine angenehme Off-Stimme versetzt uns schließlich in eine traumhafte, fast schon übernatürliche Atmosphäre. Durch ihren hypnotisierenden Rhythmus gepaart mit den abstrakten Bilder fühlt man sich verloren, als würde man schweben, ohne jeglichen Halt zur irdischen Welt. Kurz gesagt: ein neunminütiger Trip. Basierend auf ihren Tagebucheinträgen, verarbeitet die Regisseurin nach ihrer Migration Gefühle der Unzugehörigkeit auf eine ästhetische und melancholische Art. Durch diese emotionalen Einblicke entsteht das Gefühl von Intimität und Authentizität, was mich berührt zurücklässt. Auch die außergewöhnlichen und wunderschönen Collagen bleiben noch lange im Kopf. – Veronika Wagner
Open Water
Vereinigtes Königreich, Deutschland 2023 · R: Miguel Temme · DACH Programm 3 · Fachhochschule Dortmund
Swim your swim. Das ist das Motto der Open-Water-Schwimmerin Nikki. Sie ist über fünfzig, entspricht nicht dem typischen Bild einer Athletin und erzielt dennoch beeindruckende Höchstleistungen. Der Dokumentarfilm begleitet sie bei ihren sportlichen Projekten und ihrer persönlichen Weiterentwicklung als Trainerin, in deren Rolle sie die Generation ihres Sohnes für den Sport begeistern möchte. Erzählt wird eine nahbare Geschichte, die – untermalt durch eindrucksvolle Wasseraufnahmen und aufschlussreiche Voiceover – einen Einblick in Nikkis Gedankenwelt gibt. Doch nicht nur ihre sportlichen Erfolge beeindrucken: Besonders ihre Lebensphilosophie inspiriert dazu, die eigene Komfortzone zu verlassen und sich nicht von Stereotypen aufhalten zu lassen. Ihre sympathische und bescheidene Art wird in den Interviews hervorragend eingefangen und macht den Film zu einem echten Highlight. – Joschua Schulte
»A good life is not necessarily an easy Life.« Wie wir alle, lebt auch Nikki auf der Erde – doch so wirklich Leben verspürt sie nur im Wasser. Open Water zeigt eine Frau, die kompromisslos das macht, was ihr gut tut, und fast nebenbei den Ärmelkanal durchschwimmt. Sie lebt das, was sie träumt. Worum es wirklich geht? Um die Verbindung und das Spüren.
Begleitet von Slomo-Wasseraufnahmen und Caspar-David-Friedrich-ähnlichen
Horizonten, in denen der Himmel mit dem Wasser verschmilzt, wirkt die Kurzdokumentation inspirierend und motivierend, wenn durch die tiefe Verbindung zum Wasser eine eigene Philosophie erkennbar wird. Hier der aufrichtige und weitgreifende Appell der Ärmelkanalschwimmerin an alle: »Swim your swim.« – Harriet Dierks
Orchid in a frenzy
Frankreich 2024 · Elisa Andrade Fonseca · Int. Programm 5 · EEC – École Emile Cohl
Wenn Ölfarben sich bewegen könnten, dann würden sie tanzen: Rote, schwarze, beige und weiße Pinselstriche winden sich auf der Leinwand, gemalte Bilder zucken, oszillieren eigenwillig zum Takt dröhnend-treibender Musik. Die filmisch adaptierten Konturen von Victoria Mas' »The Mad Women’s Ball« nehmen in wenigen Frames Gestalt an, während sie vermeintlich verrückte Frauen zu den Belustigungsobjekten einer sensationslüsternen Oberschicht machen. Das hämische Kichern der Bourgeoisie wird dabei zur bedrückenden Soundkulisse eines Animationsfilms, der beinah ganz ohne Worte auskommt. In nur vier Minuten malt Orchid in a Frenzy die ergreifenden Impressionen einer weiblichen Unterdrückungsgeschichte und gewährt befreiende Einblicke in die Gefühlswelt einer Frau, die tanzt, als würde ihr niemand zusehen. – Jaël Gallert
Just Dance! Nach diesem Motto lebt der französische Kurzfilm von Elisa Andrade Fonseca. Im leidenschaftlichen Tanzen findet eine junge Frau in einer Nervenheileinstalt ihren Ausgleich – abseits von alltäglichen Lästereien und rigiden Regeln. Denn im 19. Jahrhundert wurden Frauen etwa für ihre vermeintliche Hysterie von der Gesellschaft isoliert. Animationen im Stil eines Ölgemäldes hauchen der Protagonistin, welche von der berühmten Jane Avril inspiriert wurde, sowie dem eigentlich tristen Ort Leben ein. Passend zu ihren energetischen Bewegungen manifestieren dynamische Pinselstriche, ausdrucksstarke Musik sowie farbenfrohe Gestaltung ihre Leidenschaft fürs Tanzen. Damit lädt der Film in kürzester Zeit dazu ein, in die Welt der rebellischen Tänzerin einzutauchen. – Veronika Wagner
Dunkelrote Korridore in Öl. Der Duktus intensiv, ein Gemälde, das tanzt. In nur vier Minuten schafft es die Regisseurin Elisa Andrade Fonseca das Publikum mit sich zu reißen, indem sie eine eigentlich stillstehende Leinwand zur Anstalt, zum Ballsaal und schließlich zum Zirkus werden lässt. Ausgestellt wie ein wildes Tier finden wir dort Jane Avril, den späteren Star des Moulin Rouge, und begleiten sie zum Madwomen’s-Ball. Ausdrucksstarke Kontraste heben sie vom höllischen Rot der Anstalt ab und setzen sie in Szene. Gezeigt wird ein fast emanzipatorischer Akt, der Pathologie durch Tanz befreit. Eindruckvolle Musik, die die Stimmen der eingelieferten Frauen widerspiegelt, und Pinselstriche die uns wie Wellen erfassen, lassen diesen Animationsfilm selbst zu einem Meisterwerk werden. – Franziska Merk
Wenn Tanz zur Rebellion wird, entsteht Magie. Orchid in a Frenzy entführt uns in die Welt von Jane Avril, die in einer Nervenheilanstalt in Paris kleinen Momenten der Freiheit erlebt. Inspiriert ist der Film vom berüchtigten »Mad Women’s Ball«. Mit visuell ansprechender Ästhetik und einer kraftvollen Botschaft gelingt es dem Film, in nur vier Minuten ein eindringliches Porträt von Avril zu schaffen. Die in Ölfarben gemalte Animation ist unglaublich schön und fängt sowohl die düsteren als auch die befreienden Momente perfekt ein. Die fließenden Tanzbewegungen der Protagonistin stehen im Kontrast zu den starren Regeln ihrer Umgebung und symbolisieren kleine Siege der Freiheit. Eine kurze, aber unvergessliche Ode an die Stärke der Kunst und die Sehnsucht nach Selbstbestimmung. – Lisa Islinger
Fußball ist nicht das einzige, das verbindet. – Die Teenagerin Olivia will, begleitet von einer Freundin und ihrer Mutter, ihren Fußballschwarm Passarinho im Stadion treffen. Doch dieser Plan rückt in den Hintergrund, als sie ihre erste Periode bekommt. Eine Erfahrung, die jede Frau durchleben hat, aber deshalb nicht weniger beängstigend ist. Die Inszenierung bringt die Liebe für den Fußballsport in Mexiko zum Ausdruck. Doch es wird deutlich, dass das Band zwischen Mutter und Tochter, das durch dieses bindende Ereignis zur Geltung kommt, letzten Endes überragt: »For Messi but above all for my mum.« Die Regisseurin Natalia García Agraz zeigt hier ein gutes Gespür für Comedic-Timing. Dabei gelingt es dem Film auch, sein rasantes Pacing mit Heist-Movie-ähnlichen Sequenzen in den emotionalen Szenen zu unterbrechen, damit diese ihre volle Wirkung entfalten können. – Jannik Janetzko
Einmal ihrem Schwarm, dem Fussballspieler Passarinho ganz nahe sein. Davon träumen die beiden Freundinnen Olivia und Laura. Dafür haben sie einen in ihren Augen handfesten Plan geschmiedet. Doch ihr Tag verläuft ganz anders als geplant. In einer rasanten Mischung aus Komödie und Herz beleuchtet der Film universelle Themen wie Freundschaft, Girlhood, Mutter-Tochter-Beziehungen und des Erwachsenwerdens. Besonders erwähnen möchte ich die detailreich gestalteten Schauplätze und Requisiten, die eine lebendige Atmosphäre schaffen, sowie das starke Schauspielensemble, das die Figuren authentisch und liebenswert macht. Ein wunderbarer Kurzfilm, der mit Humor und Gefühl begeistert und am Ende vielleicht sogar die ein oder andere Träne in die Augen treibt. – Lisa Islinger
Paul and Paul
Niederlande 2023 · R: Hugo Drechsler · Int. Programm 1 · NFA – Netherlands Film Academy
Paul und Paul sind Brüder – und das ist längst nicht das kurioseste an ihrer außergewöhnlichen Familiengeschichte. Diese ist so absurd, dass sie fast wie Fiktion wirkt. Doch Hugo Drechslers Film ist ein Dokumentarfilm, der die Wiederannäherung zweier sehr verschiedener Brüder einfängt. Sie manifestiert sich, wenn sie ein Fahrrad stehlen, Arschgeweih tätowieren oder einfach nur miteinander sprechen. Das ergibt eine beeindruckende Balance aus humorvollen und tragischen Momenten sowie herzerwärmenden und herzzerreißenden Szenen. Die Absurdität der Familie wird unterhaltsam dargestellt, ohne den respektvollen Umgang mit den Brüdern aus den Augen zu verlieren. Das Resultat ist ein zutiefst berührender Film über Brüderlichkeit und Liebe, aber auch über Streit und Verlust – voller authentischer Einblicke und ehrlicher Worte. – Joschua Schulte
Eine skurrile Liebe zwischen Brüdern. – Die Idee für diese Dokumentation kam dem Regisseur Hugo Drechsler spontan, als er das einzigartige Band der Brüderlichkeit zwischen dem kürzlich aus der Haft entlassenen sowie sterbenskranken Paultje und seinem Bruder Paul kennenlernte. Denn trotz der düsteren inzestuösen Familiengeschichte, könnte ihre Zuneigung zueinander nicht skurriler und herzerwärmender sein. Der Film zeigt auf authentische Weise die Tiefen, aber vor allem auch die Höhen ihrer Beziehung, die am besten mit dem Wort Hassliebe beschrieben werden kann. Diese reicht von ausartenden trivialen und fast schon komödiantischen Streitereien bis hin zu emotionalen Liebesbekundungen. Dabei bewegt sich der in schwarz-weiß gedrehte Film auf einem schmalen Grad zwischen Drama und Komödie, bei dem man nie weiß, ob man gerade lachen oder weinen soll. – Jannik Janetzko
Versöhnte Söhne. Eine Dokumentation der anderen Art. Ein einsamer Mann in einem einsamen Raum, ein kranker Mann mit Partyhut und das »6008 Care System«. Paul und Paul erzählt die rührende Geschichte von zwei Brüdern, welche ihre Beziehung teils gewollt, teils ungewollt wieder aufleben lassen. Auf eine sehr rohe Art und Weise und in schwarz und weiß zeichnet sich sich das Ende und der Anfang dieser neuen Zeit ab. Im Angesicht des Todes ändert sich vieles. Doch zwei Sachen sind von Beständigkeit: Der Humor (nicht zu unterschätzen!) und, natürlich, die Liebe. Diese kurios-bizarre und unfassbar ästhetische Dokumentation lässt einen glauben, sie sei Fiktion, doch wenn sie eines ist, dann ist sie die Realität. Das Leben scheint wohl doch noch einige Tricks parat zu haben. Ein Hoch auf Geschwister, ein Hoch auf den Humor, ein Hoch auf die Seriösität und, natürlich, ein Hoch auf die Liebe. – Harriet Dierks
Polaroid
Spanien 2024 · R: Irene Corts Curto · Int. Programm 4 · ECIB – Escola de Cinema de Barcelona
Wahrheit oder Pflicht. Das Spiel wird zum Auslöser einer ersten Annäherung zwischen Marta und Julia: Ein spielerischer Kuss bringt die beiden während eines Sommerwochenendes mit ihrer alten Freundesgruppe in einem idyllischen Landhaus näher. Daraufhin liegt eine unausgesprochene Spannung in der Luft. Die Regisseurin fängt mit ausgesprochenem Feingefühl diesen Moment ein: das Zögern vor einer mutigen Entscheidung, um herauszufinden, ob mehr als Freundschaft zwischen ihnen besteht. Besonders die Chemie der beiden Hauptdarstellerinnen überzeugt und macht die romantische Spannung zwischen ihnen sowie die aufkeimende Sehnsucht spürbar. Am Ende bleibt nur die Erinnerung – eine Momentaufnahme, wie auf einem Polaroid: flüchtig, intensiv und voller unausgesprochener Gefühle. – Joschua Schulte
Wenn Liebe durch den Magen geht: Die komplexe Beziehung zwischen einer Mutter und ihrer Tochter, die am selben Tag Geburtstag feiern. Statt Freude dominieren Konflikte: Die Tochter Lili lebt in ständiger Spannung zwischen dem unvermeidlichen Einfluss ihrer dominanten Mutter Juli und ihrem inneren Widerstand, den sie entwickelt. Die inszenierte Dynamik zwischen Mutter und Tochter offenbart sich in erschreckend intimen Details – Lili kann das Essen ihrer Mutter nicht im Magen behalten und versteckt die Essensreste in der ganzen Wohnung. Die Kamera begleitet die beklemmenden Szenen der angespannt verlaufenden Feier mit nüchternen, von trüben Blautönen geprägten Bildern, die Lilis emotionalen Stillstand und die inneren Konflikte unterstreichen. Der Kurzfilm bleibt jedoch nicht in der Dunkelheit gefangen. Am Ende funkelt ein Hoffnungsschimmer durch: Mutter und Tochter liegen innig beieinander– ein leiser, berührender Akt des Verständnisses und vielleicht sogar der Vergebung? – Polina Weiser
Was haben fettiges Essen und Familie gemeinsam? Beides kann großes Unbehagen auslösen. Anlässlich des Geburtstags von Lili und ihrer Mutter wird die ganze Verwandtschaft zu einem großen Festessen eingeladen. Schließlich ist in der winzigen Küche kaum noch Platz für all die Leckereien. Anfänglicher Genuss schwingt jedoch rasend schnell in Ekel über, denn Lili schafft es kaum, die Kost ihrer Mutter hinunterzubekommen. Close-ups der Verwandten beim »großen Fressen« erzeugen
eine Widerlichkeit, die jeden Appetit vergehen lässt.
Dadurch gelingt es dem Film, Lilis Abneigung gegenüber ihrer Familie spürbar zu machen. Allerdings stehen dem toxischem Verhalten – wenn auch nur wenige – fürsorgliche Momente gegenüber. Auch ihre Mutter scheint Opfer ihrer eigenen Erziehung zu sein. Somit wird nachdrücklich die Schwere und Komplexität von transgenerationalen Beziehungen betont. Pragma ist definitiv sehenswert, Menschen
mit sensiblem Magen sollten sich jedoch in Acht nehmen! – Veronika Wagner
Das Erfahren der subjektiven Realität. – Die Maya glauben neben den vier bekannten Himmelsrichtungen zusätzlich an eine fünfte: das innere Zentrum des Menschen. Die eigene Wahrnehmung, die auf die äußere Welt reagiert. Auf diese Reise des subjektiven Erlebens nimmt uns der Regisseur Matthias Schüpbach mit, indem er uns mittels einer Komposition von 3D-Scans eine fragmentierte Realität präsentiert. Dabei sind die einzelnen Bilder, die sich ständig neu anordnen und nie stillstehen, für den Betrachter nicht eindeutig zuzuordnen und wirken surreal. Genau dadurch gelingt es, das Unterbewusstsein des Menschen zu veranschaulichen und die Welt so zu zeigen, wie sie wirklich ist. Nämlich nicht als eine objektive und klar zu erfassende Realität, sondern als eine, die man selbst immer wieder konstruieren und dekonstruieren muss. Eine Welt, die subjektiv gelebt und erfahren wird. – Jannick Janetzko
Wie ein schlechter Drogentrip. Der Experimentalfilm beginnt in Egoperspektive in einer unfertigen digitalen Landschaft, die stark an Videospiele aus den 90er-Jahren erinnert. Ein klares Narrativ fehlt, stattdessen wird man mit skurrilen Objekten und deformierten Menschen konfrontiert – oder besser gesagt, Menschenteilen. Oft sind nur einzelne Körperteile wie Füße oder Gesichter zu erkennen, die verschwimmen oder in sich zusammenfallen. Der Film bietet eine surreale Erfahrung, die durch verstörende und unangenehme Geräusche an einen schlechten Drogentrip erinnert. Die Abfolge der Szenen wirkt oft willkürlich, so dass ein tieferer Sinn zunächst schwer zu erkennen ist – woraus sich aber vielfältige Interpretationsansätze ergeben. – Joschua Schulte
Wenn Menschen durchsichtig wären, wären wir alle gleich. Manche Dinge sind so einfach zu verstehen, dass sie keine große Erklärung brauchen. Genau so ist es auch bei dem animierten Kurzfilm von Szymon Ruczyński, der mit beachtlichem Sounddesign, klaren, einfachen Zeichnungen und einer auffälligen (aber nicht anstrengenden!) Leere arbeitet.
Und eigentlich gibt es in diesem Film auch nicht wirklich viel zu sagen, da er durch seine visuelle Kraft und die Geräusche für
sich selbst spricht. Und obwohl Grenzen trennen sollten, scheinen sie doch zu verbünden. Das Ende? Ein Weg, der ins Nichts führt. Ein kraftvolles politisches Statement, welches ganz ohne Sprache vielsagend im Raum steht. Danke! – Harriet Dierks