19.09.2024

Der Widerstand ist analog, die Macht digital

James
Oldenburg-Gewinner: Max Trains Komödie vom gestohlenen Fahrrad James
(Foto: Filmfest Oldenburg · Max Train)

Ein Filmfestival gegen die Algorithmen – Eindrücke vom Internationalen Filmfest Oldenburg

Von Rüdiger Suchsland

Das Stil­mittel der Voice-over-Erzählung ist im Kino chronisch unter­schätzt und gerade in Deutsch­land oft auch sehr gering geschätzt. Man merkt das an manchen Reak­tionen auf Filme von Dominik Graf, der in allen Phasen seines Werks immer wieder sehr gern Erzähler einsetzt.
Dabei ist das Voice-over, ob im klas­si­schen Kino, bei Welles und Preminger, in New Hollywood bei Coppola und Scorsese, im Autoren­film bei Godard und Truffaut und natürlich bei Chris Marker ein erprobtes und groß­ar­tiges Stil­mittel.

Was es weit weniger oft gibt, sind erzäh­lende Frau­en­stimmen. Genau so ein weib­li­ches Voice-over, in der unver­gleich­li­chen Stimme der einzig­ar­tigen Amanda Plummer und nicht nur hier im offenen Rekurs auf Chris Marker, prägte in diesem Jahr den Trailer beim Filmfest Oldenburg. Dieser Trailer ist jedes Jahr anders, und ähnlich wie bei der Viennale zu Zeiten von Hans Hurch eine Stel­lung­nahme des Festivals zum Stand der Dinge.

Nimmt man ihn ernst, dann gibt dieser Stand im Jahr 2024 nicht zu viel Opti­mismus Anlass. Denn im dies­jäh­rigen Trailer unter dem Titel »La Jetée rouge« ist von einer Kata­strophe die Rede, die sich hinter der Tech­no­kraten-Formel der »neuro­bio­lo­gical evolution after AI« verbirgt.

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Die künst­liche Intel­li­genz hat sich längst von der Mensch­heit eman­zi­piert, kleine Menschen leben in über­mensch­lich groß dimen­sio­nierten Räumen und die Gefühle der Menschen wurden dekon­stru­iert. Algo­rithmen dehu­ma­ni­sieren die Kultur – das ist eine der zentralen, leider sehr gegen­wär­tigen Aussagen dieses eindring­lich konstru­ierten und sinnlich über­zeu­genden Films.

Gefühlte Erin­ne­rungen wurden ausra­diert und nur wenige Menschen leben ohne einen sie beherr­schenden digitalen Schatten. Analoges Leben ist Leben im Unter­grund; der Wider­stand ist analog, die Macht digital. Aber wie kann man die KI über­winden und die Autonomie der Mensch­lich­keit wieder­ge­winnen? Diese bedeutet auch Geschichte, bedeutet Zukunft und Vergan­gen­heit jenseits des ewigen Jetzt.

Die Macher dieses Trailers – wer genau für ihn verant­wort­lich ist, weiß ich nicht – befinden sich in sehr guter Gesell­schaft mit Harmony Korine und dessen neuen Filmen, die gerade in Venedig urauf­ge­führt wurden, und die Filme jenseits des Kinos sein wollen, obwohl sie an diesem Ort gezeigt werden.

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Es sind echte Kino­bilder, die man unter Betei­li­gung von Nic Cage, Matthew Modine und anderen in diesem Trailer im Kino sehen konnte, keine compu­ter­ge­nerierten digitalen Mätzchen, sondern Schwarz-Weiß-Photo­gra­phien, auch hier im Stil des post­apo­ka­lyp­ti­schen Marker-Films.

Das Begehren nach Glück ist, so heißt es, ein anti­so­zialer Akt in dieser neuen Welt, die jener vieler Kino-Dystopien zum Verwech­seln ähnlich sieht.

Allen­falls das Kino selbst könnte das ändern. Da es in der Praxis in den Filmen selten genug Wider­s­tän­dig­keits­po­ten­tial gibt, entwirft »La Jetée rouge« eine zukünf­tige Welt, in der Deutsch­lands führendes Indie-Film­fes­tival das Zentrum eines Aufstands der Menschen wird. Ein Film­fes­tival als Ort des Wider­stands – dies ist die Utopie, die in diesem Trailer aufscheint und ihm seinen tieferen und über den Augen­blick hinaus­ge­henden Sinn gibt.
Der Wider­stand hat begonnen. In Oldenburg.

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Nach fünf Tagen ging die 31. Ausgabe des Inter­na­tio­nalen Filmfest Oldenburg am Sonntag zuende. Der Abschluss­film war Marcello mio von Chris­tophe Horoné, die Sieger waren James von Max Train (German Inde­pen­dence Award für den besten Film), der Mexikaner Santiago Mohar Volkow für seinen poeti­schen A History of Love and War (Spirit of Cinema Award), und sein Landsmann Diego Gaxiola für Nostalgia of a (Still) Alive Heart (German Inde­pen­dence Award – Bester Kurzfilm). Sowie Martina Schöne-Radunski und Lana Cooper für die konse­quente, wilde Neonazi-Komödie (?) Flieg Steil (Audacity Award). Hierzu begrün­dete die Jury: »Mit Blick auf die poli­ti­schen Kern­fragen unserer Zeit entfaltet sich eine wilde, barocke Vision, die humorvoll und frei die wunder­baren, absurden und grotesken Welten der größten Regis­seure des eigenen Landes und der inter­na­tio­nalen Szene zitiert.«

Zum mexi­ka­ni­schen Spielfilm hieß es: »Wer versucht, es jedem recht zu machen, wird es niemandem recht machen. Dieser Film hat nicht das Ziel, es irgend­je­mandem recht zu machen. Die mutigen Filme­ma­che­rinnen wagen sich furchtlos auf gefähr­li­ches poli­ti­sches Terrain und erzählen aktuelle Themen auf rohe und unge­zähmte Weise. Über­ra­schend, heraus­for­dernd, provo­kativ – kompro­miss­loses Under­ground-Kino.«

Insgesamt 12.000 Besucher sahen diese und andere Filme in den Olden­burger Kinos.