Der Widerstand ist analog, die Macht digital |
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Oldenburg-Gewinner: Max Trains Komödie vom gestohlenen Fahrrad James | ||
(Foto: Filmfest Oldenburg · Max Train) |
Das Stilmittel der Voice-over-Erzählung ist im Kino chronisch unterschätzt und gerade in Deutschland oft auch sehr gering geschätzt. Man merkt das an manchen Reaktionen auf Filme von Dominik Graf, der in allen Phasen seines Werks immer wieder sehr gern Erzähler einsetzt.
Dabei ist das Voice-over, ob im klassischen Kino, bei Welles und Preminger, in New Hollywood bei Coppola und Scorsese, im Autorenfilm bei Godard und Truffaut und natürlich bei Chris Marker ein erprobtes und
großartiges Stilmittel.
Was es weit weniger oft gibt, sind erzählende Frauenstimmen. Genau so ein weibliches Voice-over, in der unvergleichlichen Stimme der einzigartigen Amanda Plummer und nicht nur hier im offenen Rekurs auf Chris Marker, prägte in diesem Jahr den Trailer beim Filmfest Oldenburg. Dieser Trailer ist jedes Jahr anders, und ähnlich wie bei der Viennale zu Zeiten von Hans Hurch eine Stellungnahme des Festivals zum Stand der Dinge.
Nimmt man ihn ernst, dann gibt dieser Stand im Jahr 2024 nicht zu viel Optimismus Anlass. Denn im diesjährigen Trailer unter dem Titel »La Jetée rouge« ist von einer Katastrophe die Rede, die sich hinter der Technokraten-Formel der »neurobiological evolution after AI« verbirgt.
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Die künstliche Intelligenz hat sich längst von der Menschheit emanzipiert, kleine Menschen leben in übermenschlich groß dimensionierten Räumen und die Gefühle der Menschen wurden dekonstruiert. Algorithmen dehumanisieren die Kultur – das ist eine der zentralen, leider sehr gegenwärtigen Aussagen dieses eindringlich konstruierten und sinnlich überzeugenden Films.
Gefühlte Erinnerungen wurden ausradiert und nur wenige Menschen leben ohne einen sie beherrschenden digitalen Schatten. Analoges Leben ist Leben im Untergrund; der Widerstand ist analog, die Macht digital. Aber wie kann man die KI überwinden und die Autonomie der Menschlichkeit wiedergewinnen? Diese bedeutet auch Geschichte, bedeutet Zukunft und Vergangenheit jenseits des ewigen Jetzt.
Die Macher dieses Trailers – wer genau für ihn verantwortlich ist, weiß ich nicht – befinden sich in sehr guter Gesellschaft mit Harmony Korine und dessen neuen Filmen, die gerade in Venedig uraufgeführt wurden, und die Filme jenseits des Kinos sein wollen, obwohl sie an diesem Ort gezeigt werden.
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Es sind echte Kinobilder, die man unter Beteiligung von Nic Cage, Matthew Modine und anderen in diesem Trailer im Kino sehen konnte, keine computergenerierten digitalen Mätzchen, sondern Schwarz-Weiß-Photographien, auch hier im Stil des postapokalyptischen Marker-Films.
Das Begehren nach Glück ist, so heißt es, ein antisozialer Akt in dieser neuen Welt, die jener vieler Kino-Dystopien zum Verwechseln ähnlich sieht.
Allenfalls das Kino selbst könnte das ändern. Da es in der Praxis in den Filmen selten genug Widerständigkeitspotential gibt, entwirft »La Jetée rouge« eine zukünftige Welt, in der Deutschlands führendes Indie-Filmfestival das Zentrum eines Aufstands der Menschen wird. Ein Filmfestival als Ort des Widerstands – dies ist die Utopie, die in diesem Trailer aufscheint und ihm seinen tieferen und über den Augenblick hinausgehenden Sinn gibt.
Der Widerstand hat
begonnen. In Oldenburg.
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Nach fünf Tagen ging die 31. Ausgabe des Internationalen Filmfest Oldenburg am Sonntag zuende. Der Abschlussfilm war Marcello mio von Christophe Horoné, die Sieger waren James von Max Train (German Independence Award für den besten Film), der Mexikaner Santiago Mohar Volkow für seinen poetischen A History of Love and War (Spirit of Cinema Award), und sein Landsmann Diego Gaxiola für Nostalgia of a (Still) Alive Heart (German Independence Award – Bester Kurzfilm). Sowie Martina Schöne-Radunski und Lana Cooper für die konsequente, wilde Neonazi-Komödie (?) Flieg Steil (Audacity Award). Hierzu begründete die Jury: »Mit Blick auf die politischen Kernfragen unserer Zeit entfaltet sich eine wilde, barocke Vision, die humorvoll und frei die wunderbaren, absurden und grotesken Welten der größten Regisseure des eigenen Landes und der internationalen Szene zitiert.«
Zum mexikanischen Spielfilm hieß es: »Wer versucht, es jedem recht zu machen, wird es niemandem recht machen. Dieser Film hat nicht das Ziel, es irgendjemandem recht zu machen. Die mutigen Filmemacherinnen wagen sich furchtlos auf gefährliches politisches Terrain und erzählen aktuelle Themen auf rohe und ungezähmte Weise. Überraschend, herausfordernd, provokativ – kompromissloses Underground-Kino.«
Insgesamt 12.000 Besucher sahen diese und andere Filme in den Oldenburger Kinos.