04.04.2024

Lateinamerikanisches Kino pur in Toulouse

Valentina o la serenidad von Angeles Cruz
Valentina o la serenidad von Angeles Cruz: ein bei aller Traurigkeit lichterfüllter Film aus Mexiko.
(Foto: Cinélatino – Rencontres de Toulouse)

Das seit 1989 bestehende Filmfestival Cinélatino in Toulouse widmet sich in engagierter und enthusiastischer Weise dem unabhängigen lateinamerikanischen Kino. Auch die 36. Ausgabe im März 2024 bot wieder ein lebendiges Bild der jungen lateinamerikanischen Filmszene

Von Wolfgang Lasinger

Toulouse, die tradi­ti­ons­reiche Stadt im Vorland der Pyrenäen im Süden Frank­reichs, zwischen der atlan­ti­schen aqui­ta­ni­schen und der medi­ter­ranen okzita­ni­schen Zone des Südens gelegen, war immer schon eine Stadt, in der Exilanten aus dem iberi­schen Sprach­raum Zuflucht suchten. So hatten hier in den Jahren der Fran­co­zeit die sozia­lis­ti­sche Arbei­ter­partei PSOE und die Gewerk­schaft UGT ihre Zentralen einge­richtet, in derselben Straße in der Altstadt, in der auch das Festival Cinéla­tino seine Adresse hat.

Die Tradition des poli­ti­schen Enga­ge­ments für eman­zi­pa­to­ri­sche Bewe­gungen setzte sich fort in den 70er und 80er Jahren in den linken Soli­da­ri­täts­be­kun­dungen mit den latein­ame­ri­ka­ni­schen Revo­lu­tions- und Wider­stands­gruppen gegen dikta­to­ri­sche Regimes. Daraus erwuchs dann ein Film­fes­tival, das sich ausschließ­lich dem unab­hän­gigen latein­ame­ri­ka­ni­schen Kino zugewandt hat. Dabei legt das Festival großen Nachdruck auf die Förderung von Film­pro­duk­tionen unter prekären Bedin­gungen (darunter auch vielen Debüt­filmen), was sich in der 2002 geschaf­fenen Plattform »Cinéma en cons­truc­tion« nieder­schlug. Hier wird Filme­ma­cher*innen für die Fertig­stel­lung von bereits begon­nenen Projekten in der Phase des Rohschnitts unter die Arme gegriffen. Anlass, diese Plattform für Post­pro­duk­ti­ons­hilfen zu schaffen, war Israel Adrián Caetanos Film­pro­jekt Bolivia, das ins Stocken geraten war. Der Regisseur bat das Festival 1999, auf dem er mit seinem Vorgän­ger­film Pizza, birra, faso schon einen Preis gewonnen hatte, um Hilfe. Solche spontanen Umgangs­formen zeigen ganz die Atmo­sphäre auf diesem Festival, die bis heute so warm­herzig und freund­schaft­lich geblieben ist. Aus der erfolg­rei­chen Unter­s­tüt­zung für Caetano entwi­ckelte sich die mitt­ler­weile fest etablierte Plattform »Cinéma en cons­truc­tion«, und zwar von Anfang an in Koope­ra­tion mit dem Film­fes­tival von San Sebastián auf der anderen Seite der Pyrenäen und dessen latein­ame­ri­ka­ni­scher Reihe. Die dieses Jahr ausge­wählten Projekte sind Jepotá von Carlos Papá Guarani und Augusto Canani, eine brasi­lia­nisch-fran­zö­si­sche Kopro­duk­tion, und Horizonte (Kolumbien, Frank­reich, Luxemburg, Chile) von César Augusto Acevedo. Diese Filme kann man sich also schon mal vormerken.

Neben den diversen Kurz-Film- und Doku­mentar-Sektionen, den Retro­spektiv- und Wieder­auf­nah­me­r­eihen histo­ri­scher und heraus­ra­gender Filme der letzten Jahre ist es vor allem das Programm des Wett­be­werbs der fiktio­nalen Langfilme mit mindes­tens fran­zö­si­schen Premieren, das das Prunk­stück des Festivals ausmacht. Hier laufen dann auch die Debüt- und zweiten Filme, die dem Festival die Weiter­ent­wick­lung ermög­li­chen. Cinéla­tino Toulouse schafft es dabei, den Zusam­men­halt und die Konti­nuität aus den früheren Ausgaben aufrecht­zu­er­halten und dabei offen zu bleiben für solche, die neu hinzu­kommen. So vermi­schen sich die Stamm­gäste mit Neulingen, die sich hier sofort dazu­gehörig fühlen dürfen. Ein Spirit der Gemein­sam­keit, der getragen wird auch von den vielen ehren­amt­li­chen Helfer*innen, den an die 200 »bénévoles«, die von der Verpfle­gung in der »cantina« bis zu den Über­set­zungen bei den Film­ge­sprächen eine anste­ckende Stimmung der alle erfas­senden Begeis­te­rung verbreiten.

Zu sehen waren dieses Jahr unter anderem latein­ame­ri­ka­ni­sche Filme, die auf der Berlinale ihre Welt­pre­miere wie Cidade; campo von Juliana Rojas, Betânia von Marcelo Botta, Yo vi tres luces von Santiago Lozano Álvarez und Memorias de un cuerpo que arde von Antonella Sudasassi Furniss.

Regisseur*innen wie Juliana Rojas und Santiago Lozano Álvarez waren mit früheren Filmen schon in Toulouse vertreten und ihre jetzt präsen­tierten Filme durch »Cinéma en cons­truc­tion« gefördert. Yo vi tres luces negras, ein düster oszil­lie­render Grenzgang eines Schamanen und Heilers zwischen den Welten und Fronten der gewalt­samen Gegenwart in Kolum­biens Regenwald in der Pazi­fik­re­gion, erhielt den Grand Prix Coup de Cœur, den Haupt­preis des Festivals, der mit einer Verleih- und Unter­ti­telungs­för­de­rung für Frank­reich dotiert ist.

Unter den ersten und zweiten Spiel­filmen, die in Toulouse Welt­pre­miere oder fran­zö­si­sche Premiere hatten und teilweise von »Cinéma en cons­truc­tion« gefördert wurden, ragten einige sehr sensible Arbeiten heraus, die dem Schicksal von Kindern und Jugend­li­chen galten und die insbe­son­dere schmerz­hafte Verluste und die Trauer darüber behan­delten.

Valentina o la serenidad von Ángeles Cruz, einer aus über 20 Filmen bekannten Schau­spie­lerin in Mexiko, die hier ihren zweiten eigenen Langfilm präsen­tiert, zeigt die verschie­denen Phasen des Umgangs der neun­jäh­rigen Valentina mit dem plötz­li­chen Tod ihres Vaters. Von der trotzigen Leugnung bis hin zur aggres­siven Abwehr der Wirk­lich­keit zeichnet die Regis­seurin mit ihrer unglaub­lich sicheren und authen­ti­schen Darstel­lerin Danae Ahuja Aparicio einen ergrei­fenden Reife­pro­zess des Kindes nach, der schließ­lich in die verste­hende Akzeptanz des Unwi­der­ruf­li­chen mündet. Dabei verbindet sie die intime Erkundung des kind­li­chen Alltags in der mixte­ki­schen Community in Oaxaka mit Einbli­cken in die Kultur einer entwur­zelten Ethnie. Wie nebenbei lässt sie animis­ti­sche Natur­be­trach­tungen ganz über­zeu­gend aus der Figu­ren­psy­cho­logie erwachsen. Valentina sucht den Kontakt zu dem im Fluss ertrun­kenen Vater immer wieder im Element des Wassers und in den Bäumen am Ufer. Bei all der schweren Thematik bleibt der Film dabei immer sehr luzide und leicht, geradezu lich­ter­füllt.

Der Debütfilm Sariri von Laura Donoso (es ist ihr Abschluss­film der Film­hoch­schule in Santiago de Chile) besticht ebenfalls durch eine sehr einfühl­same Figu­ren­zeich­nung in einem sehr spezi­fi­schen Milieu und Naturraum. Hier ist es ein kleiner karger Ort in der Wüste im Norden Chiles, einer Region, die durch die Arbeit der Männer in den Minen geprägt ist. In einer Welt des Aber­glau­bens und der patri­ar­chalen Vorbe­halte gegen die Frauen versuchen die 16-jährige verhei­ra­tete Dina und ihre jüngere Schwester Sariri Formen weib­li­cher Selbst­be­haup­tung zu finden. Dina sieht ihre Hoff­nungen auf eine Ausbil­dung durch die von ihrem Mann begrüßte Schwan­ger­schaft gefährdet, Sariri muss sich anläss­lich des ersten Einset­zens der Regel dem befremd­li­chen Ritual einer Verban­nung in die Wüste unter­ziehen. Abgesehen von ein paar Unent­schie­den­heiten, was den Einsatz magisch-mythi­scher Elemente betrifft, gelingt Laura Donoso eine eindring­liche Skizze über erdrü­ckende Verhält­nisse. Das offene Ende mit den ange­ris­senen Flucht­mög­lich­keiten entlässt die Figuren in eine durchaus ungewisse Zukunft.

Der mexi­ka­ni­sche Film Sujo, als Europa-Premiere in Toulouse, ist die zweite gemein­same Arbeit von Astrid Rondero und Fernanda Valadez. Bereits ihr erster Film Was geschah mit Bus 670? (Sin señas parti­cu­lares), der auch in Deutsch­land im Kino war, handelte von den Folgen der von den Drogen­kar­tellen ausge­henden Gewalt in Mexiko, wo eine Mutter nach dem verschol­lenen Sohn suchte. Auch Sujo ist, in Anspie­lung auf Los olvidados von Luis Buñuel, den »Verwaisten dieses Landes in Flammen« gewidmet und möchte Auswege aus dem Rache- und Gewalt­zu­sam­men­hang aufzeigen. Der Vater von Sujo ist ein Killer und wird selbst ermordet. Sujo wächst versteckt bei seiner Tante auf, die ihn so dem Zugriff der Bande zunächst entziehen kann. Doch der Heran­wach­sende droht zusammen mit seinen Zieh­brü­dern Jaibo und Jeremy wieder in den Strudel der blutigen Gewalt gezogen zu werden. Mit spröden und ellip­ti­schen Sequenzen schafft es dieser Film immer wieder, die außerhalb der Bilder statt­fin­dende Gewalt bedroh­lich zu evozieren, aber doch einen Schutz­raum für seine Figur zu bewahren. Der Weg aus der Provinz Michoacán nach Mexiko City soll schließ­lich die Rettung bringen, doch scheint Sujo auch hier die fatale Vergan­gen­heit auf den Fersen zu bleiben. Ob ihm der Ausstieg aus dem Herkunfts­mi­lieu und das Streben nach Bildung gelingen können, das ihm im letzten Teil die Univer­si­täts­do­zentin Susan aufzeigt, muss wohl offen bleiben. Einen Schimmer Zuver­sicht vermag der Film jeden­falls auszu­strahlen, auch wenn einige Dreh­buch­stich­worte über Deter­mi­nismus und freien Willen in diesem Zusam­men­hang etwas hölzern anmuten. Der meta­pho­ri­sche Bezug auf das unbändige wilde Pferd, dem der Junge den Namen Sujo verdankt, wirkt dabei letztlich zu bemüht, auch wenn er dem Film einige der eindrück­lichsten Bilder beschert.

Auffällig stark machte sich Mexiko mit einem weiteren Film bemerkbar: No nos movirán von Pierre Saint-Martin Castel­lanos erhielt unter anderem den Publi­kums­preis und den Preis der fran­zö­si­schen Film­kritik. Hier geht es um die Aufar­bei­tung der gewalt­samen Nieder­schla­gung der Studenten- und Gewerk­schafts­pro­teste des Jahres 1968 in Mexiko City durch Soldaten und Polizei. Die alte Anwältin Socorro (Luisa Huertas) glaubt, nach über 50 Jahren endlich auf die Spur des Mörders ihres Bruders gestoßen zu sein. Sie setzt einen verbre­che­ri­schen Plan der Vergel­tung in Gang, um den Poli­zei­be­amten zur Rechen­schaft zu ziehen. Die Frage nach Gerech­tig­keit und Über­win­dung der Gewalt mag hier über­deut­lich thema­ti­siert werden. Der Film in Schwarz-Weiß greift in seiner expli­ziten Ästhetik auch zu einer eher aufdring­li­chen Symbolik mit schwarzer Katze und weißer Taube. Doch die humo­ris­ti­sche Brechung durch die schräge Figu­ren­per­spek­tive Socorros und die Perfor­mance der Darstel­lerin Luisa Huertas sorgen immer wieder für sarkas­ti­sche Entlas­tung.