04.04.2024

Terror und Horror

El espejo de la bruja
El espejo de la bruja: Perfide Rache
(Foto: CineLatino | El espejo de la bruja)

Das 36. CineLatino in Toulouse zeigte in der Reihe »Horror.mx« eine Auswahl mexikanischer Horrorfilme der späten 1950er Jahre

Von Dunja Bialas

Zwischen Terror und Horror besteht bisweilen nur ein gradu­eller Unter­schied. Als das CineLa­tino, das Festival für den latein­ame­ri­ka­ni­schen Film in Toulouse sich über die ersten vorsom­mer­li­chen Früh­lings­tage freute, kam die Nachricht von einem Terror­an­schlag in der Moskauer Konzert­halle Crocus. Sie sei bis spät in die Nacht vor dem Fernseher gehangen, sagt die Pariser Kriti­ker­kol­legin hinter ihrer dunklen Sonnen­brille. Die Bilder von den erschos­senen jungen Menschen, die ein Konzert besucht hatten, hätten in ihr Erin­ne­rungen an den Bataclan-Anschlag vor fast zehn Jahren getrig­gert. Die Bilder des Terrors seien zurück­ge­kommen, als Bilder menschen­ge­machten Horrors.

Cine de terror

Terror löst Horror aus. Das Horror-Genre wird im spanisch­spra­chigen Raum »cine de terror« genannt, mit dem Akzent auf dem Gefühl der von außen herein­ge­tra­genen Angst. Das ist nur ein kleiner, aber wesent­li­cher Unter­schied zum Horror, der die Perspek­tive des wahr­neh­menden Subjekts einnimmt, das Schreck­li­ches sieht oder erlebt. Das dies­jäh­rige CineLa­tino widmete seine Retro­spek­tive »Horror.mx« dem mexi­ka­ni­schen Horror­film, mit fünf Filmen aus der Blütezeit des mexi­ka­ni­schen Kinos bis Ende 1950, und weiteren vier Werken aus nach­fol­genden Jahr­zehnten. Im mexi­ka­ni­schen Horror­film der Fünf­zi­ger­jahre kam es weit weniger zum Synkre­tismus mit indigenen Glaubens- oder mexi­ka­ni­schen Folklore-Elementen als Alejandro Jodo­row­skys ebenfalls program­mierter Santa Sangre (1989) erwarten ließe. Der mexi­ka­ni­sche Horror­film der späten Fünf­zi­ger­jahre zeigt jedoch allemal eine subver­sive Kraft, die sich gegen das damals noch vorherr­schende, leicht konsu­mier­bare und wenig vers­tö­rende, Cinéma de qualité richtet.

Genre­er­war­tungen ergeben sich durch das Themen­ar­senal. Hexen, Vampire, Gespenster und Skelette sind die liminalen Wesen zwischen der Welt der Lebenden und der Toten; um ihnen zu begegnen, muss man szien­tis­ti­sche Ratio­na­lität durch magischen Glauben heraus­for­dern. Nicht selten sind die Prot­ago­nisten der Filme männliche Wissen­schaftler, die die Gesetze der Natur über­winden und sich zum Schöpfer aufschwingen, gemäß dem Motto »Was möglich ist, ist auch erlaubt«. Magische Gegen­kräfte, über­ra­schende Verkör­pe­rungen einer impli­ziten Wissen­schafts-Ethik, hegen dann wieder die Hybris ein; die Anmaßungen der Wissen­schaft, physi­ka­li­sche und mora­li­sche Grenzen zu über­schreiten und darüber monströs zu werden, wird durch den über­na­tür­li­chen Terror sank­tio­niert.

Ein Monster namens Mann

Ein Para­de­bei­spiel für die männliche Selb­stü­ber­schät­zung und den magischen Revenge-Plot, war El espejo de la bruja (Der Spiegel der Hexe) (1960, derzeit auch auf Mubi zu sehen) von Chano Urueta, der zwischen 1928 und 1974 über hundert Filme reali­siert hat. Der Film ist eine femi­nis­ti­sche Eman­zi­pa­ti­ons­ge­schichte, wird doch dem über­grif­figen Patri­ar­chat ein krasser Denk­zettel verpasst. Die Haus­an­ge­stellte des erfolg­rei­chen Chirurgen Eduardo Ramos (Armando Calvo) kann über magische Rituale Kontakt zu Geistern und über­na­tür­li­chen Kräften herstellen, sie ist die titel­ge­bende Hexe; Elena, Eduardos Ehefrau, ist ihr Patenkind. Inter­es­san­ter­weise sind auch Sara, der Hexe, Grenzen gesetzt. Im Blick durch den magischen Spiegel erfährt sie, dass Elena durch ihren Mann getötet werden wird, um durch seine Geliebte ersetzt zu werden. Die ange­ru­fenen Geister offen­baren, dass ihr Schicksal nicht verändert werden kann, auch nicht durch magische Kraft. Sara muss also Elenas Tod hinnehmen, sinnt aber auf Rache. Immer wieder ruft sie über den Hexen­spiegel die tote Elena (Dina de Marco) aus dem Grabe wach, die dann im Haus von Eduardo Schrecken verbreitet, indem sie auf dem Klavier eine wieder­keh­rende Melodie spielt, die Eduardo schon zu Lebzeiten getrig­gert hat. Elenas Substitut, die Zweitfrau Deborah (Rosita Arenas, eine Diva des mexi­ka­ni­schen Goldenen Zeital­ters), wird für die Hexe schließ­lich zum Medium der Rache.

Selbst wenn auf den ersten Blick immer die Frau geopfert wird, ist das Geschlech­ter­ver­hältnis doch viel­sa­gend. Denn wie in anderen Filmen der Retro­spek­tive auch, zum Beispiel in Fernando Méndez’ El vampiro (1957) oder in seinen Misterios de ultra­tumba (1959) mit willen­losen oder mario­net­ten­haften Frauen, sind die Frauen auch hier puppen­haft (Deborah) oder fern­ge­steuert (Elena). Die Rache am Mann wird überdies über die Körper der Frauen vollzogen: Die eine muss sterben, die andere ihr Gesicht und die makel­losen Hände verlieren. Den Horror erleiden also in erster Linie die Frauen. Damit aber, und hier zeigt sich die perfide Ambi­va­lenz der Insze­nie­rung, gibt sich der Mann erst in seiner vollen Monströ­sität zu erkennen.

Von Händen, Beinen und Gebeinen

El esqueleto de Senora Morales
(Foto: CineLa­tino | El esqueleto de Señora Morales)

Die Frag­men­tie­rung des Körpers meint gefähr­liche Todesnähe und Ekel durch das Abjekte, etwa wenn die Hände am leben­digen Leibe verfaulen, aber auch heraus­ge­ar­bei­tete Schönheit und libidinös aufge­la­denen Fetisch. El esqueleto de la señora Morales (1960; ebenfalls auf Mubi) von Rogelio A. González zeigte in der Reihe, dass das mexi­ka­ni­sche Cine de terror trotz der genre­haften Konven­tionen durch seine Subver­si­vität auch den mexi­ka­ni­schen Autoren­film vorbe­reitet, der in den späten Fünf­zi­ger­jahren das Goldene Zeitalter ablöst. Das Drehbuch zu dem als Eheschwank lesbaren Film über den Tier­prä­pa­rator Pablo Morales (Arturo Córdova), der seine Frau Gloria (Amparo Rivelles) umbringt und sich dabei selbst zur Strecke bringt, stammt von Luis Alcoriza. Er war wie Luis Buñuel während des Spani­schen Bürger­kriegs nach Mexiko emigriert und hatte zum Zeitpunkt von El esqueleto für diesen bereits mehrere Dreh­bücher geschrieben, darunter Los olvidados (1950), Él (1952, ebenfalls mit Arturo Córdova), La ilusión viaja en tranvía (1954) und La fièvre monte à El Pao (1959). El ángel exter­mi­nador sollte zwei Jahre später folgen.

Der Buñuel­sche Bein­fe­tisch sowie die Bigot­terie der katho­li­schen Gemein­schaft schrieb Alcoriza auch González ins Drehbuch, ebenso ist der spre­chende Nachname »Morales« natürlich ein fikti­ons­i­ro­ni­sches Ausru­fe­zei­chen. Señora Morales, das spätere Giftopfer, hinkt auffällig, weshalb sie meint, dass ihr Mann sie nicht begehre, worüber sie sich bitter beim Pfarrer beklagt. Außerdem ekelt sie sich vor dem Beruf ihres tote Tiere ausstop­fenden Mannes, der sich die Hände defin­zieren muss, bevor er ihr die Pantof­feln über­streift – Kame­ra­blick auf die Beine – oder sie liebkost. Ihr Mann ist ein anar­chi­scher Lebemann, der nichts vom Klerus hält.

Die Intrige ergibt sich quasi von selbst. Die Aufnahmen in die zähne­flet­schenden Münder der Tier­ka­daver, der Blick der Ehefrau auf das Steak, das der Mann voller Lust auf dem Teller zerteilt, reichen, um den Ekel und den Horror zu insze­nieren – aller­dings nur auf der diege­ti­schen Plot-Ebene, während der Film ansonsten als vergnüg­li­cher Screwball rezi­pierbar ist.

Kinder­horror, Horror­kinder

Veneno para las hadas
(Foto: CineLa­tino | Veneno para las hadas)

El esqueleto war wohl auch deshalb mit »ado« wie »adole­s­cents«, als für Jugend­liche geeignet, gelabelt. Auch Carlos Enrique Taboadas aufse­hen­er­re­gender Veneno par las hadas (1986; dt. etwa »Gift für die Hexen«), der neben Jorge Michel Graus Kanni­ba­len­film Somos lo que hay (2010; Wir sind was wir sind) die Bestän­dig­keit des Horror-Genres für das mexi­ka­ni­sche Kino demons­trierte, war für Jugend­liche empfohlen. Die Geschichte von den zwei kleinen Mädchen Flavia und Verónica, die das titel­ge­bende Hexengift brauen wollen, ist ganz aus Kinder­per­spek­tive erzählt. Der Plot und die Insze­nie­rung, auch die softe Farb­ge­bung, erinnern an Carlos Sauras Cría cuervos (1976; Züchte Raben), seinen Abgesang auf Francos zuen­de­ge­hende Diktatur. Hier wird der Klas­sismus alter Schule zu Grabe getragen, mit seinen wohl­stand­ver­wahr­losten und auf sich selbst gestellten Kindern, denen die Erwach­senen hilflos gegenüber stehen. Wenn final auf dem Schei­ter­haufen ein grausames Opfer erbracht wird, ist die bürger­liche Ordnung zwar scheinbar wieder herge­stellt – wurde vorher aber auch nach­haltig in Unruhe gebracht.

Nur ein Teaser

Die Retro­spek­tive mit neun Filmen hätte man sich gerne noch etwas umfas­sender gewünscht. CineLa­tino, das neben Biarritz zweit­wich­tigste europäi­sche Festival für den latein­ame­ri­ka­ni­schen Film, fokus­siert stärker auf aktuelle Film­pro­duk­tionen, die in mehreren Wett­be­werben gezeigt werden. So muss »Horror.mx« ein Teaser bleiben, der große Lust auf mehr macht.

Auch das CineLa­tino-Festival insgesamt macht Lust auf mehr. Über­wie­gend findet es in der 1964 gegrün­deten und FIAF-akkre­di­tierten Ciné­ma­thèque de Toulouse statt, deren Präsi­dentin heute Agnés Jaoui ist, auch um der viert­größten Stadt Frank­reichs mehr Aufmerk­sam­keit zu geben. Das Festival ist, voraus­ge­setzt man spricht fran­zö­sisch oder spanisch (es gibt keine engli­schen Unter­titel), auf jeden Fall einen Besuch wert, auch um die kine­ma­to­gra­phi­sche Landkarte zurecht­zu­rü­cken. Denn uner­klär­li­cher­weise wurde Latein­ame­rika nach einer kurzen Boom-Zeit im europäi­schen Raum wieder zum unter­re­prä­sen­tierten Film­kon­ti­nent. Auch ange­sichts aktueller post-kolo­nialer Diskurse ist es höchste Zeit, sich mit ihm wieder stärker zu befassen.