74. Berlinale 2024
Die Jury und das »Berlinale Erlebnis« |
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Die Jury bei Olaf Scholz im Kanzleramt... | ||
(Foto: Bundeskanzleramt) |
Die U-Bahn zeigt »Südkreuz« an, aber ich lese »Suizid« – acht Tage Berlinale zollen ihren Tribut.
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Die Jury war bei Olaf Scholz im Kanzleramt. Mit Claudia Roth – die Armen. Und am Tag vor dem Festivalbeginn, wo sie dann nur über Russland und Scholz' Sorgen plaudern konnten, aber nicht über Afrika und die Sorgen der Berlinale-Jury unter vier afrikanischen Filmen den Gewinner zu finden. Denn ein Afrikaner muss es wohl sein bei diesem von Tokenismus geprägten Design der Jurymitglieder.
Sie haben sich gut unterhalten, hört man, Scholz habe einen besseren Eindruck gemacht, als die ausländischen Gäste erwartet hatten.
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Vor 20 Jahren gewann Fatih Akin den Goldenen Bären. Zum letzten Mal ein deutscher Film. Auch dieses Jahr wird es nichts werden, so viel ist sicher. Mit Christian Petzold in der Jury haben, seien wir ehrlich, Andreas Dresen und Matthias Glasner keine Chance. Und das ist im ersteren Fall auch gut so.
Ich glaube, dass er keinen deutschen Filmen auswählen und prämieren möchte, denn er möchte die Berlinale-Preise schon wenn, dann schon am liebsten für sich selbst und seine Freunde behalten
– aber bestimmt bin ich da viel zu voreingenommen.
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Die Berlinale, könnte man sagen, zerstört unsere geistige Verfassung, denn sie verlangt einfach zu viel von uns: das Ansehen von mindestens allen ca. 20 Wettbewerbsfilmen, am besten noch von – sagen wir – einem Viertel der übrigen Sektionsfilme, das heißt von 50 bis 60 weiteren Filmen. Dann verlangt sie, dass wir darüber schreiben. Und dann verlangt sie, dass wir all die netten Menschen treffen, die sich gerade zwecks Berlinale in Berlin aufhalten – die, die wir dauernd treffen, und die, die wir nie treffen, außer auf der Berlinale. Zum Beispiel unsere Freunde aus der Türkei, die sich leider Cannes und Venedig in den letzten Jahren nicht mehr leisten können.
Das ist einfach zu viel für ein Menschenleben in zehn Tagen. Also bleibt nur die Wahl: Ignorieren wir die Menschen oder die Filme; ignorieren wir das Schreiben oder ignorieren wir irgendetwas anderes? Und weil wir natürlich nicht ignorant sein wollen, ignorieren wir alles ein bisschen, aber am wenigsten die Menschen; und dann schreibt man halt nicht so viel. Ich zumindest habe es einstweilen aufgegeben, viel über die Berlinale zu schreiben. Es ist immer dasselbe, auch die Filme sind fast immer dieselben, und ich zumindest habe den Eindruck, ich habe alles geschrieben in den letzten Jahren und jetzt schreiben es sowieso alle. Leider gibt es auch absolut nichts grundsätzlich Neues zu schreiben. Die Berlinale ist, wie sie ist: sie ist ein schlechtes Festival, denn sie ist überfettet und überfrachtet, sie ist geprägt vom nicht besonders guten Geschmack des Berliner Publikums und dem nicht besonders guten Geschmack der Berliner Tagespresse, die das Festival beide gekapert haben, weil die Politik und die Kunst ihnen keinen Widerstand entgegensetzt. Und weil widerständige Kunst seit Jahren konsequent auf diesem Festival ausgemerzt worden ist.
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Aber es ist einfach ein Irrtum, zu glauben, Filmfestspiele seien »für das Volk«, wie es die AfD vermutlich ausdrücken würde. Die Filme sind für die Bürger, ja! Kino ist für die Bürger und das möglichst unhierarchisch, ja! – ein Filmfest ist für die Elite der Kunst und für die Elite der Filmkritik und für die Auserwählten der Händler. Für das, was früher mal »der gemeine Mann« genannt wurde, ist ein Filmfest keineswegs.
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Dabei würde das Publikum in Berlin, also das normale Publikum auf diesem sogenannten Publikumsfestival sogar alles schlucken. Denn längst ist es so konditioniert, dass es »unsere Berlinale« (Christiane Peitz) als ein persönliches Eigentum betrachtet und einfach alles positiv nimmt, weil die Berlinale nicht aus ihren Filmen besteht und nicht aus den Gästen, sondern aus dem sogenannten »Berlinale Erlebnis«. Das bestand lange Jahre darin, fünf Stunden in der Schlange zu stehen, und dann endlich am Ticketschalter angekommen, den Film, für den man angestanden hat, nicht zu bekommen und auch die zweite und dritte Wahl nicht und sich darum die vierte Wahl anzuschauen.
Auch dieses »Berlinale Erlebnis« ist in den letzten Jahren unter Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek zerstört worden. Denn es gibt keine Ticketschalter mehr. Es gibt auch keine Tickets mehr zu kaufen. Was man kann, ist Tickets digital bestellen und digital bezahlen, was der Berlinale nicht nur mehr Personalkosten spart und nicht nur das Controlling verbessert, sondern auch dazu führt, dass größere Teile des Publikums bei diesem sogenannten Publikumsfestival schon einmal prinzipiell ausgeschlossen sind.
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Und dann ist da eben die arme Jury, die aus diesem Haufen von Filmen irgendwelche Preisträger finden muss, von denen sie selbst nicht überzeugt ist, zumindest dann nicht, wenn sie einigermaßen Geschmack hat und diesen Geschmack, den haben zumindest einige der Jury-Mitglieder. Bei Anne Hui aus China und Oksana Zabuzhko aus der Ukraine bin ich mir sicher; bei Brady Corbet und Albert Serra bin ich mir sicher und bei Christian Petzold auch einigermaßen. Bei dem bin ich mir nur sicher, dass er Andreas Dresen und Matthias Glasner überhaupt nicht mag.
Ich glaube, sie alle haben ihre Spleens und ihren persönlichen Geschmack und ihre Einschränkungen.
Spekulieren wir mal: eine gute Jury, gute interessante Jury-Mitglieder und ganz schlimme Jurymitglieder, also mit Brady Corbet einen der herausragendsten Filmemacher des letzten Jahrzehnts, und einen anständigen Menschen, der als Künstler eine gewisse Form von amerikanischer Mainstreamigkeit mit eigenwilligem Autorenkino verbindet, der nicht arrogant ist, sondern höflich, der deswegen anderen zuhören wird und wahrscheinlich den eigenen Geschmack nicht komplett in der Jury durchsetzen wird. Dann Albert Serra.
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Vieles, ja fast alles auf der Berlinale ist entweder durch Symbolpolitik zu erklären oder durch den sogenannten Tokenismus.
Martin Scorsese bekam einen ´Goldenen Ehrenbär für sein Lebenswerk. Das hat er ohne Frage sehr verdient!
Trotzdem: ich wüsste nur gar zu gerne, ob Scorsese die Auszeichnung auch bekommen hätte, wenn er nicht einer der prominentesten Unterzeichner der sogenannten Solidaritätsliste für Carlo Chatrian im vergangenen Jahr gewesen wäre.
Die Berlinale ist eine Gefangene ihres eigenen Marketing und ihrer eigenen PR, ihr Selbstlabeling als politisches Festival
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Vergangenheitsverweigerung und Schuldabwehr auch auf dem wichtigsten deutschen Filmfestival, der Berlinale:
Vor einem Jahr wurde Dominik Grafs Film über Künstler und NS nicht zur Berlinale eingeladen; in diesem Jahr RP Kahls Film über den Auschwitz-Prozess nach Peter Weiss' »Die Ermittlung«.
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Spekulieren wir mal: Wer wird gewinnen? Ich glaube Mati Diop. Assayas nicht. Der Österreicher einen großen Preis, aber nicht den Hauptpreis.
Für deutsche Filme höchstens ein Schauspielpreis für Sterben.
(to be continued)