23.02.2024
74. Berlinale 2024

Die Jury und das »Berlinale Erlebnis«

Die Jury beim Kanzler
Die Jury bei Olaf Scholz im Kanzleramt...
(Foto: Bundeskanzleramt)

Spekulieren wir mal: Wer gewinnt? Mati Diop, Veronika Franz und Corinna Harfouch; wetten dass? – Berlinale-Tagebuch, Folge 3

Von Rüdiger Suchsland

Die U-Bahn zeigt »Südkreuz« an, aber ich lese »Suizid« – acht Tage Berlinale zollen ihren Tribut.

+ + +

Die Jury war bei Olaf Scholz im Kanz­leramt. Mit Claudia Roth – die Armen. Und am Tag vor dem Festi­val­be­ginn, wo sie dann nur über Russland und Scholz' Sorgen plaudern konnten, aber nicht über Afrika und die Sorgen der Berlinale-Jury unter vier afri­ka­ni­schen Filmen den Gewinner zu finden. Denn ein Afrikaner muss es wohl sein bei diesem von Toke­nismus geprägten Design der Jury­mit­glieder.

Sie haben sich gut unter­halten, hört man, Scholz habe einen besseren Eindruck gemacht, als die auslän­di­schen Gäste erwartet hatten.

+ + +

Vor 20 Jahren gewann Fatih Akin den Goldenen Bären. Zum letzten Mal ein deutscher Film. Auch dieses Jahr wird es nichts werden, so viel ist sicher. Mit Christian Petzold in der Jury haben, seien wir ehrlich, Andreas Dresen und Matthias Glasner keine Chance. Und das ist im ersteren Fall auch gut so.
Ich glaube, dass er keinen deutschen Filmen auswählen und prämieren möchte, denn er möchte die Berlinale-Preise schon wenn, dann schon am liebsten für sich selbst und seine Freunde behalten – aber bestimmt bin ich da viel zu vorein­ge­nommen.

+ + +

Die Berlinale, könnte man sagen, zerstört unsere geistige Verfas­sung, denn sie verlangt einfach zu viel von uns: das Ansehen von mindes­tens allen ca. 20 Wett­be­werbs­filmen, am besten noch von – sagen wir – einem Viertel der übrigen Sekti­ons­filme, das heißt von 50 bis 60 weiteren Filmen. Dann verlangt sie, dass wir darüber schreiben. Und dann verlangt sie, dass wir all die netten Menschen treffen, die sich gerade zwecks Berlinale in Berlin aufhalten – die, die wir dauernd treffen, und die, die wir nie treffen, außer auf der Berlinale. Zum Beispiel unsere Freunde aus der Türkei, die sich leider Cannes und Venedig in den letzten Jahren nicht mehr leisten können.

Das ist einfach zu viel für ein Menschen­leben in zehn Tagen. Also bleibt nur die Wahl: Igno­rieren wir die Menschen oder die Filme; igno­rieren wir das Schreiben oder igno­rieren wir irgend­etwas anderes? Und weil wir natürlich nicht ignorant sein wollen, igno­rieren wir alles ein bisschen, aber am wenigsten die Menschen; und dann schreibt man halt nicht so viel. Ich zumindest habe es einst­weilen aufge­geben, viel über die Berlinale zu schreiben. Es ist immer dasselbe, auch die Filme sind fast immer dieselben, und ich zumindest habe den Eindruck, ich habe alles geschrieben in den letzten Jahren und jetzt schreiben es sowieso alle. Leider gibt es auch absolut nichts grund­sätz­lich Neues zu schreiben. Die Berlinale ist, wie sie ist: sie ist ein schlechtes Festival, denn sie ist über­fettet und über­frachtet, sie ist geprägt vom nicht besonders guten Geschmack des Berliner Publikums und dem nicht besonders guten Geschmack der Berliner Tages­presse, die das Festival beide gekapert haben, weil die Politik und die Kunst ihnen keinen Wider­stand entge­gen­setzt. Und weil wider­s­tän­dige Kunst seit Jahren konse­quent auf diesem Festival ausge­merzt worden ist.

+ + +

Aber es ist einfach ein Irrtum, zu glauben, Film­fest­spiele seien »für das Volk«, wie es die AfD vermut­lich ausdrü­cken würde. Die Filme sind für die Bürger, ja! Kino ist für die Bürger und das möglichst unhier­ar­chisch, ja! – ein Filmfest ist für die Elite der Kunst und für die Elite der Film­kritik und für die Auser­wählten der Händler. Für das, was früher mal »der gemeine Mann« genannt wurde, ist ein Filmfest keines­wegs.

+ + +

Dabei würde das Publikum in Berlin, also das normale Publikum auf diesem soge­nannten Publi­kums­fes­tival sogar alles schlucken. Denn längst ist es so kondi­tio­niert, dass es »unsere Berlinale« (Chris­tiane Peitz) als ein persön­li­ches Eigentum betrachtet und einfach alles positiv nimmt, weil die Berlinale nicht aus ihren Filmen besteht und nicht aus den Gästen, sondern aus dem soge­nannten »Berlinale Erlebnis«. Das bestand lange Jahre darin, fünf Stunden in der Schlange zu stehen, und dann endlich am Ticket­schalter ange­kommen, den Film, für den man ange­standen hat, nicht zu bekommen und auch die zweite und dritte Wahl nicht und sich darum die vierte Wahl anzu­schauen.

Auch dieses »Berlinale Erlebnis« ist in den letzten Jahren unter Carlo Chatrian und Mariette Rissen­beek zerstört worden. Denn es gibt keine Ticket­schalter mehr. Es gibt auch keine Tickets mehr zu kaufen. Was man kann, ist Tickets digital bestellen und digital bezahlen, was der Berlinale nicht nur mehr Perso­nal­kosten spart und nicht nur das Control­ling verbes­sert, sondern auch dazu führt, dass größere Teile des Publikums bei diesem soge­nannten Publi­kums­fes­tival schon einmal prin­zi­piell ausge­schlossen sind.

+ + +

Und dann ist da eben die arme Jury, die aus diesem Haufen von Filmen irgend­welche Preis­träger finden muss, von denen sie selbst nicht überzeugt ist, zumindest dann nicht, wenn sie eini­ger­maßen Geschmack hat und diesen Geschmack, den haben zumindest einige der Jury-Mitglieder. Bei Anne Hui aus China und Oksana Zabuzhko aus der Ukraine bin ich mir sicher; bei Brady Corbet und Albert Serra bin ich mir sicher und bei Christian Petzold auch eini­ger­maßen. Bei dem bin ich mir nur sicher, dass er Andreas Dresen und Matthias Glasner überhaupt nicht mag.

Ich glaube, sie alle haben ihre Spleens und ihren persön­li­chen Geschmack und ihre Einschrän­kungen.

Speku­lieren wir mal: eine gute Jury, gute inter­es­sante Jury-Mitglieder und ganz schlimme Jury­mit­glieder, also mit Brady Corbet einen der heraus­ra­gendsten Filme­ma­cher des letzten Jahr­zehnts, und einen anstän­digen Menschen, der als Künstler eine gewisse Form von ameri­ka­ni­scher Main­strea­m­ig­keit mit eigen­wil­ligem Autoren­kino verbindet, der nicht arrogant ist, sondern höflich, der deswegen anderen zuhören wird und wahr­schein­lich den eigenen Geschmack nicht komplett in der Jury durch­setzen wird. Dann Albert Serra.

+ + +

Vieles, ja fast alles auf der Berlinale ist entweder durch Symbol­po­litik zu erklären oder durch den soge­nannten Toke­nismus.

Martin Scorsese bekam einen ´Goldenen Ehrenbär für sein Lebens­werk. Das hat er ohne Frage sehr verdient!
Trotzdem: ich wüsste nur gar zu gerne, ob Scorsese die Auszeich­nung auch bekommen hätte, wenn er nicht einer der promi­nen­testen Unter­zeichner der soge­nannten Soli­da­ri­täts­liste für Carlo Chatrian im vergan­genen Jahr gewesen wäre.

Die Berlinale ist eine Gefangene ihres eigenen Marketing und ihrer eigenen PR, ihr Selbst­la­be­ling als poli­ti­sches Festival

+ + +

Vergan­gen­heits­ver­wei­ge­rung und Schuld­ab­wehr auch auf dem wich­tigsten deutschen Film­fes­tival, der Berlinale:

Vor einem Jahr wurde Dominik Grafs Film über Künstler und NS nicht zur Berlinale einge­laden; in diesem Jahr RP Kahls Film über den Auschwitz-Prozess nach Peter Weiss' »Die Ermitt­lung«.

+ + +

Speku­lieren wir mal: Wer wird gewinnen? Ich glaube Mati Diop. Assayas nicht. Der Öster­rei­cher einen großen Preis, aber nicht den Haupt­preis.
Für deutsche Filme höchstens ein Schau­spiel­preis für Sterben.

(to be continued)