20.11.2023

»Ein filmisches Vermächtnis«

The Boy
Leben an der Grenze zwischen Israel und Gaza
(Foto: Filmschoolfest)

Das Filmschoolfest zeigte The Boy, der an der Grenze zum Gazastreifen spielt – mit einem Hoffnungsschimmer am Horizont, obwohl den Film ein dramatisches Schicksal begleitet

Von Martin Wagner

Der junge israe­li­sche Filme­ma­cher Yaval Winner wurde am 7.10.2023 im Kibbuz Kfar Aza von Hamas-Terro­risten ermordet. Fünf Wochen später, am 14.11.2023, ist sein Kurzfilm The Boy im Rahmen des 42. Film­school­fest zu sehen, die Präsen­ta­tion ist womöglich der Höhepunkt des Festivals der Film­hoch­schulen. Christoph Gröner, der neue Leiter des Festivals, spricht von einem »filmi­schen Vermächtnis«. Auf viel­schich­tige Weise erzählt der verstor­bene Regisseur von der Aussöh­nung von Avinoam, dem Vater, und seinem verlo­renen Sohn Barak.

Wir blicken – wie später auch Barak – im sehr starken Eingangs­bild fast drei Minuten lang auf eine schnur­ge­rade Straße mit nur einer Spur. Sie führt Richtung Gaza. Man glaubt sowohl den Imam zu hören, wie er zum Morgen­gebet ruft, wie auch bedroh­liche Sirenen. Am Bildrand schießt aus dem Weizen­feld eine Wasser­säule empor, die immer höher steigt. Das Rauschen des Wassers schwillt an, ein Vogel quert den Morgen­himmel. Schließ­lich gerät ein Mili­tär­wagen ins Bild, der sich über die teilweise bereits über­schwemmte Straße den aufflam­menden Lichtern im Gaza­streifen nähert. Cut.

In der nächsten Einstel­lung schrauben die Hände von Vater (Nimrod Peleg) und Sohn (Yoram Toledano) an der defekten, viel­leicht sabo­tierten Bewäs­se­rungs­an­lage herum. Der Vater ist konzen­triert, der Sohn in Gedanken. Nach vier vergan­genen Film­mi­nuten fallen die ersten Worte, langsam und schwer:»Barak.« – »What?« – »Can you help me?«

Barak massiert die schmer­zende Schulter des Vaters, eine gut gemeinte Geste der Hilf­lo­sig­keit ange­sichts der massiven seeli­schen und mate­ri­ellen Lecks, die sich zwischen den beiden aufgetan haben. Was ist passiert?

Barak ist sediert, offen­sicht­lich trau­ma­ti­siert – und todes­be­reit. Immer wieder zieht es den jungen Mann an den Grenzzaun, während in den TV-Nach­richten vom Besuch des Außen­mi­nis­ters Blinken in Gaza die Rede ist und von den »pales­ti­nian refugees« und »terrified people«. Einmal verlässt Barak das Kibbuz­gelände auch nachts, während eines Angriffs. Dabei bricht er weinend zusammen. Als Vater und Bruder ihn finden, können sie ihn kaum beruhigen. Er beschimpft einen israe­li­schen Soldaten, fühlt sich von ihm bedroht: »He wants to shoot me!« Es wird verspro­chen, den Vorfall im Kibbuz zu klären.

Etwas zu klären: Das ist eine gern gelaubte Illusion, viel­leicht genau die, deren Propa­gie­rung derzeit die Region in Atem hält. Aber auf einer anderen Ebene, der des zerbro­chenen Verhält­nisses von Vater und Sohn, ist die Aufgabe zumindest ansatz­weise erfüllbar. Der Zusam­men­bruch hat etwas ausgelöst. Der Vater sagt nun nicht mehr von oben herab: »I need your help«, sondern ganz ehrlich und grund­sätz­lich: »I need you to come back to me, Barak.« Als der Sohn wieder seine schmer­zende Schulter massiert, versteht der Vater die Geste nun als das, was sie immer schon war: als Zeichen für die Sehnsucht nach Nähe. Im vom Schein ferner Lichter erleuch­teten Gesicht Avinoams (hebr. für »der freund­liche Vater«) huscht ein Hauch von Glück. Im Traktor fahren sie beide nach Be’er Scheba, in die nächste Stadt, weg vom Kibbuz.

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The Boy erzählt eine höchst aktuelle Version der uralten Geschichte vom Vater und dem verlo­renen Sohn, jedoch weder alttes­ta­men­ta­risch-religiös, noch grie­chisch-tragisch. Yahav Winner hat poetische Bilder gefunden, erzählt modern, offen und in redu­zierten Dialogen. Er zeigt die Möglich­keit der Versöh­nung im Privaten und Fami­liären auf, selbst in einem von extremer Spaltung geprägten Umfeld.

Inwieweit The Boy auch von der Möglich­keit der poli­ti­schen Versöh­nung handelt, mag sich im Auge der Betrachter entscheiden. Es gibt dafür aber auch konkrete Anhalts­punkte: Die Namen der Prot­ago­nisten Avinoam, Barak und Gideon, den Kibbuz-Schlichter, lassen sich aus dem »Buch der Richter« im Alten Testament herleiten, die dort Angehö­rige – Vater, Sohn und Richter – eines sich gegen die Unter­drü­ckung erfolg­reich wehrenden israe­li­ti­schen Stammes sind. Barak ist aber auch ein arabi­scher Name. Das zentrale Interesse des Sohnes für das, was im für ihn unzu­gäng­li­chen Gaza­streifen vorgeht, bleibt zwar unerklärt, der Film versagt sich jedoch auch das poli­ti­sche Statement, trotz einer trau­ma­ti­sie­renden Erfahrung des Regis­seurs, der Zeuge eines tödlichen Angriff der Hamas auf den Vater eines Freundes wurde. Auch das viel­leicht eine versöhn­liche Geste.

Der Film wurde wesent­lich gefördert vom Gesher Multi­cul­tural Film Fund, der insbe­son­dere Projekte fördert, die sich dem israe­lisch-paläs­ti­nen­si­schen Dialog verschreiben, um verhär­tete Fronten aufzu­wei­chen.

Dieser Geist prägte die vor der Film­vor­füh­rung in der Hoch­schule für Fernsehen und Film statt­fin­dende Ehrung des Verstor­benen durch seinen in München anwe­senden künst­le­ri­schen Mentor und die über Zoom zuge­schal­teten Shaylee Atary, die Ehefrau, Ko-Produ­zentin und Editorin des Verstor­benen, sowie die beiden Haupt­dar­steller. Der abschließende Wunsch nach Israel »We wish you peace« war der Übergang zu einem Film, der sicher jetzt eine besondere Aufmerk­sam­keit hat und damit – es wäre zu wünschen – befrie­dende Wirkung haben könnte.

The Boy ist auf dem Youtube-Kanal von »The New Yorker« im kosten­losen Stream zu sehen.