»Ein filmisches Vermächtnis« |
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Leben an der Grenze zwischen Israel und Gaza | ||
(Foto: Filmschoolfest) |
Von Martin Wagner
Der junge israelische Filmemacher Yaval Winner wurde am 7.10.2023 im Kibbuz Kfar Aza von Hamas-Terroristen ermordet. Fünf Wochen später, am 14.11.2023, ist sein Kurzfilm The Boy im Rahmen des 42. Filmschoolfest zu sehen, die Präsentation ist womöglich der Höhepunkt des Festivals der Filmhochschulen. Christoph Gröner, der neue Leiter des Festivals, spricht von einem »filmischen Vermächtnis«. Auf vielschichtige Weise erzählt der verstorbene Regisseur von der Aussöhnung von Avinoam, dem Vater, und seinem verlorenen Sohn Barak.
Wir blicken – wie später auch Barak – im sehr starken Eingangsbild fast drei Minuten lang auf eine schnurgerade Straße mit nur einer Spur. Sie führt Richtung Gaza. Man glaubt sowohl den Imam zu hören, wie er zum Morgengebet ruft, wie auch bedrohliche Sirenen. Am Bildrand schießt aus dem Weizenfeld eine Wassersäule empor, die immer höher steigt. Das Rauschen des Wassers schwillt an, ein Vogel quert den Morgenhimmel. Schließlich gerät ein Militärwagen ins Bild, der sich über die teilweise bereits überschwemmte Straße den aufflammenden Lichtern im Gazastreifen nähert. Cut.
In der nächsten Einstellung schrauben die Hände von Vater (Nimrod Peleg) und Sohn (Yoram Toledano) an der defekten, vielleicht sabotierten Bewässerungsanlage herum. Der Vater ist konzentriert, der Sohn in Gedanken. Nach vier vergangenen Filmminuten fallen die ersten Worte, langsam und schwer:»Barak.« – »What?« – »Can you help me?«
Barak massiert die schmerzende Schulter des Vaters, eine gut gemeinte Geste der Hilflosigkeit angesichts der massiven seelischen und materiellen Lecks, die sich zwischen den beiden aufgetan haben. Was ist passiert?
Barak ist sediert, offensichtlich traumatisiert – und todesbereit. Immer wieder zieht es den jungen Mann an den Grenzzaun, während in den TV-Nachrichten vom Besuch des Außenministers Blinken in Gaza die Rede ist und von den »palestinian refugees« und »terrified people«. Einmal verlässt Barak das Kibbuzgelände auch nachts, während eines Angriffs. Dabei bricht er weinend zusammen. Als Vater und Bruder ihn finden, können sie ihn kaum beruhigen. Er beschimpft einen israelischen Soldaten, fühlt sich von ihm bedroht: »He wants to shoot me!« Es wird versprochen, den Vorfall im Kibbuz zu klären.
Etwas zu klären: Das ist eine gern gelaubte Illusion, vielleicht genau die, deren Propagierung derzeit die Region in Atem hält. Aber auf einer anderen Ebene, der des zerbrochenen Verhältnisses von Vater und Sohn, ist die Aufgabe zumindest ansatzweise erfüllbar. Der Zusammenbruch hat etwas ausgelöst. Der Vater sagt nun nicht mehr von oben herab: »I need your help«, sondern ganz ehrlich und grundsätzlich: »I need you to come back to me, Barak.« Als der Sohn wieder seine schmerzende Schulter massiert, versteht der Vater die Geste nun als das, was sie immer schon war: als Zeichen für die Sehnsucht nach Nähe. Im vom Schein ferner Lichter erleuchteten Gesicht Avinoams (hebr. für »der freundliche Vater«) huscht ein Hauch von Glück. Im Traktor fahren sie beide nach Be’er Scheba, in die nächste Stadt, weg vom Kibbuz.
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The Boy erzählt eine höchst aktuelle Version der uralten Geschichte vom Vater und dem verlorenen Sohn, jedoch weder alttestamentarisch-religiös, noch griechisch-tragisch. Yahav Winner hat poetische Bilder gefunden, erzählt modern, offen und in reduzierten Dialogen. Er zeigt die Möglichkeit der Versöhnung im Privaten und Familiären auf, selbst in einem von extremer Spaltung geprägten Umfeld.
Inwieweit The Boy auch von der Möglichkeit der politischen Versöhnung handelt, mag sich im Auge der Betrachter entscheiden. Es gibt dafür aber auch konkrete Anhaltspunkte: Die Namen der Protagonisten Avinoam, Barak und Gideon, den Kibbuz-Schlichter, lassen sich aus dem »Buch der Richter« im Alten Testament herleiten, die dort Angehörige – Vater, Sohn und Richter – eines sich gegen die Unterdrückung erfolgreich wehrenden israelitischen Stammes sind. Barak ist aber auch ein arabischer Name. Das zentrale Interesse des Sohnes für das, was im für ihn unzugänglichen Gazastreifen vorgeht, bleibt zwar unerklärt, der Film versagt sich jedoch auch das politische Statement, trotz einer traumatisierenden Erfahrung des Regisseurs, der Zeuge eines tödlichen Angriff der Hamas auf den Vater eines Freundes wurde. Auch das vielleicht eine versöhnliche Geste.
Der Film wurde wesentlich gefördert vom Gesher Multicultural Film Fund, der insbesondere Projekte fördert, die sich dem israelisch-palästinensischen Dialog verschreiben, um verhärtete Fronten aufzuweichen.
Dieser Geist prägte die vor der Filmvorführung in der Hochschule für Fernsehen und Film stattfindende Ehrung des Verstorbenen durch seinen in München anwesenden künstlerischen Mentor und die über Zoom zugeschalteten Shaylee Atary, die Ehefrau, Ko-Produzentin und Editorin des Verstorbenen, sowie die beiden Hauptdarsteller. Der abschließende Wunsch nach Israel »We wish you peace« war der Übergang zu einem Film, der sicher jetzt eine besondere Aufmerksamkeit hat und damit – es wäre zu wünschen – befriedende Wirkung haben könnte.
The Boy ist auf dem Youtube-Kanal von »The New Yorker« im kostenlosen Stream zu sehen.