30.10.2023

Bilder von morgen und das cinephile Reservoir von gestern

Marias Wave
Beeindruckender Umwelt-Film: Marias Wave
(Foto: DOXS RUHR 2023)

Die zweite DOXS RUHR-Ausgabe vom 25.- 27. Oktober 2023 hatte sich viel vorgenommen – und ist mit einem überzeugenden Angebot an Dokuformaten für Kinder und Jugendliche in einer ehemaligen Industrieregion dem eigenen Anspruch gerecht geworden

Von Christel Strobel

»DOXS RUHR ist ein Festival, das von Bildern etwas wissen will. Daher kommen Filme auf die Leinwand, die anregen und aufregen, denen es um etwas geht: die Wirk­lich­keit. In das Doku­men­ta­ri­sche sind wir glei­cher­maßen verliebt, wie in das Kino und das Ruhr­ge­biet.
Unser Programm stammt aus Europa, unser junges Publikum aus einer Region, deren Topo­grafie das dezen­trale Festi­val­kon­zept inspi­riert und initiiert hat. … Mit unseren Partnern aus der Film- und Bildungs­szene ziehen wir kolla­bo­rativ an einem Strang und mobi­li­sieren Kinder und Jugend­liche für eine Film­kultur, die sie so noch nicht gesehen haben. Nicht in Gesell­schaft, nicht an diesen Orten.«
Gudrun Sommer, lang­jäh­rige Leiterin von »doxs! – doku­men­tar­filme für kinder und jugend­liche« / Filmwoche Duisburg, zu ihrem persön­li­chen Anspruch an ihr jüngstes Projekt DOXS RUHR (Bochum – Bottrop – Essen – Dortmund – Gelsen­kir­chen – Moers), das in diesem Jahr zum zweiten Mal als eigen­s­tän­diges Festival statt­findet. Nicht zuletzt verweist sie auf den Vorteil der Vielfalt von Spielstätten im Ruhr­ge­biet: »Vom 20er Jahre Film­pa­last bis zur umge­nutzten Indus­trie­lo­ca­tion sind Charme und Atmo­sphäre unserer Kinos so divers wie unver­wech­selbar, um junges Publikum für die Bilder von morgen und das cinephile Reservoir von gestern zu inter­es­sieren.«
Hinzu kommen ganz­jährig außer­schu­li­sche film­pä­d­ago­gi­sche Projekte. (siehe auch der Bericht über das erste Doxs Ruhr-Festival 2022).

Bereits der dies­jäh­rige Eröff­nungs­film widmet sich einem brisanten aktuellen Thema: Planet B (R: Pieter Van Eeck, Belgien 2023, 74 Min., empfohlen ab 14 J., nominiert für den ECFA DOC Award) doku­men­tiert die fanta­sie­rei­chen Aktionen junger leiden­schaft­li­cher Menschen in Brüssel, die sich für den Erhalt eines gesunden Klimas allerhand einfallen lassen. Am Beispiel der enga­gierten Schü­le­rinnen Bo und Luca, Freun­dinnen und Klima­ak­ti­vis­tinnen, wird deutlich, welche Über­zeu­gung und welche Kraft bei den Demons­tra­tionen notwendig sind, wo es auch zu Konfron­ta­tionen kommt (»We are peaceful, what are you?!«) Pieter Van Eeck vermit­telt mit Planet B ein diffe­ren­ziertes Bild und damit eine gute Grundlage für ein Gespräch nach dem Film.

Auch Maria’s Wave (R: Ligia Resende, Portugal/Deutsch­land 2019, 14 Min., empfohlen ab 8 J. im Schul­film­pro­gramm) ist ein beein­dru­ckender Umwelt-Film, der in seiner Kürze eine fantas­ti­sche Geschichte erzählt. Das Mädchen Maria lebt auf der Azoren-Insel Faial und liebt den Strand, aber »der ist einer der portu­gie­si­schen Strände mit der größten Verschmut­zung durch Plastik.« Maria will den Menschen bewusst machen, dass die Zukunft der Ozeane davon abhängt, wie sie an Land mit Plastik umgehen. Sie will eine mahnende Skulptur schaffen, was ihr mit Hilfe einer befreun­deten Künst­lerin, die den Entwurf zeichnet, und beharr­li­cher Plas­tik­müll-Sammlung auch gelingt. Maria ist besorgt, dass die Leute beim Anblick der Skulptur nicht über das Problem nach­denken und dass ihnen alles egal ist. Ande­rer­seits hofft sie, dass die Menschen, die die Skulptur sehen, verstehen werden, wie groß das Problem wirklich ist und dass sie jetzt handeln müssen. Ein kurzer, aber nach­hal­tiger Film mit einer in ihrer sanften Beharr­lich­keit über­zeu­genden Prot­ago­nistin.

Waking up in Silence (R: Mila Zhluk­tenko / Daniel Asadi Faezl, Deutsch­land/Ukraine 2023, 17 Min., empfohlen ab 10/12 J. nominiert für den ECFA DOC Award) begleitet ukrai­ni­sche Flücht­linge in Schwein­furt, die dort in einem Wohnblock aus dem Dritten Reich unter­ge­bracht wurden, was noch an den faschis­ti­schen Reliefs über den Eingängen und an Wand­ma­le­reien zu sehen ist. Die Kinder spielen, fahren Rad, schauen die Besucher aufmerksam an. Es sind schein­bare Neben­säch­lich­keiten, die anders sind, als sie es von ihrer Heimat gewohnt sind, z. B. schmeckten die Kirschen in der Ukraine besser. Der Anruf eines in der Ukraine geblie­benen Vaters bringt den Krieg wieder nahe, denn er berichtet von Rake­ten­an­griffen in ihrer Nähe. Bei der Betrach­tung der Wand­ma­le­reien in ihrem Domizil, die auch Kriegs­szenen zeigen, meint ein Junge ängstlich, dass es der Krieg in ihrer Heimat ist, wird aber beruhigt, da es sich hier um deutsche Soldaten im vergan­genen, im Zweiten Weltkrieg handelt – damals haben deutsche Soldaten russi­sches Gebiet über­fallen… So beiläufig wie eindring­lich fällt hier der Blick auf eine heikle Situation.

Ramboy (R: Matthias Joulaud / Lucien Roux, Schweiz 2022, 30 Min., empfohlen ab 10/12 J., nominiert für den ECFA DOC Award) führt in eine raue, zugleich groß­ar­tige Land­schaft an der Westküste Irlands. Cian verbringt hier die Sommer­fe­rien bei seinem Großvater, einem erfah­renen Schaf­züchter. Der Junge – immer im Fußball-Shirt und Sneakers unterwegs – wäre in den Sommer­fe­rien lieber mit seinen Freunden zusammen, als seinem Großvater zu helfen, der den Enkel fest in die Arbeit einbe­zieht. Das ist nicht leicht und es sind neue Erfah­rungen, z.B. den wilden Hund für die Schaf­herde abzu­richten, mit stör­ri­schen Schafen umzugehen, Hörner abzusägen, die Herde im Zaum zu halten. Dass Cian seine Sache gut macht, ist immer wieder auf dem Gesicht des Groß­va­ters zu sehen, der den Enkel genau beob­achtet und mit einem zuweilen schel­mi­schen Lächeln seine Zufrie­den­heit zeigt. Dieser Sommer wird für Cian zu einem uner­war­teten und viel­leicht Weichen stel­lenden Erlebnis. Ramboyvon Matthias Joulaud und Lucien Roux überzeugt durch seine visuelle Gestal­tung und eine besondere Atmo­sphäre, die sich zunehmend auf das Kino­pu­blikum überträgt.
Ramboy erhielt von der Jury den ECFA DOC Award für den besten doku­men­ta­ri­schen Kinder­film. Die inter­na­tio­nale Fachjury betont, dass dieser Film »Raum zum Nach­denken und Disku­tieren lässt. Mit starken cine­as­ti­schen Bildern und einem Augen­zwin­kern erzählt der Film zwischen den Zeilen«.

Ein inter­es­santer Film sei noch erwähnt, und zwar Chemkids (R: Julius Gintaras Blum, Deutsch­land 2021, 27 Min., empfohlen ab 16 J.), der wieder in Koope­ra­tion mit dem Arras Film Festival bei DOXS RUHR zu sehen war. Es ist das Zeit­do­ku­ment von Jugend­li­chen, die im Osten, in »Karl-Marx-Stadt«, geboren und aufge­wachsen sind und sich nach der Wende im Westen zurecht­finden mussten, wo ihr Geburtsort wieder Chemnitz hieß. Sehr genau sind hier die Befind­lich­keiten regis­triert: Ihre Bemühungen, die neuen Gege­ben­heiten zu verstehen, sie treffen sich irgendwo im leeren Gelände und verlas­senen Häusern. Geradezu poetisch formu­liert ein Mädchen diese Umbruch­zeit: »Wir nahmen uns gerne Räume und gaben ihnen eine neue Bedeutung. An diesen Orten verspra­chen wir uns große Abenteuer. Das war aufregend und diese Abende schienen uns für immer«.

Gudrun Sommer, leiden­schaft­liche Orga­ni­sa­torin von Kinder- und Jugend­film­fes­ti­vals, hat sich viel vorge­nommen und diese zweite DOXS RUHR – Ausgabe ist ein viel verspre­chendes Angebot in einer ehema­ligen Indus­trie­re­gion.

Erfreu­li­cher­weise ist die von Gudrun Sommer und Nadia Paschetto initi­ierte Festi­val­part­ner­schaft mit dem Arras Film Festival – mit Unter­s­tüt­zung des Goethe Instituts Lille – fort­ge­setzt worden. Die Vorfüh­rungen der fran­zö­si­schen Filme im Ruhr­ge­biet fanden erneut in Zusam­men­ar­beit mit dem deutsch-fran­zö­si­schen Kultur­zen­trum Essen statt. Weiterhin soll es also einen deutsch-fran­zö­si­schen Filmaus­tausch und ein gemein­sames Projekt zur jungen Film­kritik geben; voraus­ge­setzt, dass die brisanten Schließungs­pläne für eine Reihe von Goethe-Insti­tuten – so auch in Lille – von der deutschen Außen­mi­nis­terin und anderen Fürspre­chern dieser Pläne noch einmal überdacht und fallen­ge­lassen werden – im Sinne einer leben­digen Kultur­szene hier und dort.