12.10.2023

Kaleidoskopisches TIFF

About Dry Grasses
Dreiteiliger Konflikt über das Wesen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit: Nuri Bilge Ceylans About Dry Grasses
(Foto: TIFF Toronto)

Trotz des zu diesem Zeitpunkt weiterhin währenden Streiks der Filmindustrie in Hollywood fand das 48. Toronto International Film Festival (TIFF) vom 7. bis 17. September 2023 wie geplant statt und unterstrich nicht nur durch die Programmierung einmal mehr seinen multikulturellen Ansatz

Von Bidhan Rebeiro

Wenn ich mir die Liste der Filme, die ich gesehen habe, und die übrigen Filme des Festivals ansehe, wird deutlich, dass das TIFF versucht, sich als eine Art bunte Karawane der meist­be­spro­chenen und meist­ge­prie­senen Filme anderer renom­mierter Festivals zu präsen­tieren. Unter diesem Gesichts­punkt hat das TIFF einen beson­deren Stel­len­wert. Eine der Haupt­ka­te­go­rien ist zum Beispiel das zeit­genös­si­sche Weltkino, auch wenn es dieses Mal in „Center­piece“ umbenannt wurde. Diese Sektion ist die Haupt­at­trak­tion des Festivals. Ich habe dort neun von 47 Filmen aus 45 Ländern gesehen, darunter den viel­leicht stärksten Film, Nuri Bilge Ceylans About Dry Grasses. In diesem Film präsen­tiert der Regisseur einen drei­tei­ligen Konflikt über das Wesen von Gerech­tig­keit und Unge­rech­tig­keit, die Notwen­dig­keit und Unnö­tig­keit einer Ideologie und das Tabu einer Lehrer-Schüler-Beziehung. Und wer Ceylans andere Werke gesehen hat, weiß, wie subtil dieser Regisseur die Stimmung in seinen Filmen erzeugt. Wenn ich die Namen von zwei weiteren Filmen der Sektion „Center­piece“ erwähnen müsste, würde ich The Reeds von Cemil Ağacı­koğlu und The Breaking Ice von Anthony Chen nennen. Dieje­nigen, die das Genre des reinen Kunst­films schätzen, werden diese beiden Filme lieben.
Eine weitere wichtige Sektion des TIFF ist „Discovery“. Die Filme junger Filme­ma­cher, die den Anschein erwecken, dass sie in die Geschichte des Weltkinos eingehen könnten, hat das TIFF in eben diese Kategorie aufge­nommen. Ich habe fünf Filme aus der Discovery-Sektion gesehen. Von ihnen hat mir der iranische Film Achilles am besten gefallen. Es ist der Debütfilm von Farhad Delaram. Es handelt sich um ein hoch­po­li­ti­sches und alle­go­ri­sches Kunstwerk. Ein weiterer beein­dru­ckender Film ist der erste Film des saudi-arabi­schen Filme­ma­chers Ali Kalthami, Mandoob, der wie viele andere Filme aus dieser Region, es nach ihren Festi­val­prä­sen­ta­tionen wohl kaum einmal in die Kinos der weiten Welt schaffen werden. Die Ausnahme sind natürlich Filme aus dem Iran, die dank des irani­schen Kultur­zen­trums sogar in Bangla­desch einen festen Screening-Platz haben. Für den saudi-arabi­schen Film­ver­trieb gilt dies jedoch nicht.

Zusätz­lich zu „Center­piece“ und „Discovery“ habe ich Filme aus den TIFF-Kate­go­rien „Gala“, „Platform“, „Special Presen­ta­tions“, „Docs and Lumi­na­ries“, „Prime Time“, „Wave Length“ und „Premium“ gesehen. Die südko­rea­ni­schen Filme waren wieder einmal perfekte Beispiele für das, was ich als „mittlere Kino­schiene“ bezeichnen würde. Die drei besten Filme, die ich in den oben genannten Kate­go­rien gesehen habe, waren zwei­fellos Evil Does Not Exist, The World is Family und Nyad gewesen.
Hier kam ich dann auch mit Anand Patwa­rdhan, dem Regisseur des Doku­men­tar­films The World is Family ins Gespräch und konnte dadurch einige Vorur­teile abbauen; dabei half mir aller­dings auch Anands beson­deres Interesse an Bangla­desch, das jedoch nicht nur auf diese Region beschränkt ist und ihn allein schon durch seinen univer­salen Blick­winkel, auch in seinen Filmen, zu einem der bemer­kens­wer­testen poli­ti­schen Doku­men­tar­filmer, nicht nur auf dem indischen Subkon­ti­nent, macht.

Abgesehen von Anands Doku­men­tar­film haben die anderen indischen Filme kaum Spuren hinter­lassen, auch wenn Dear Jassie den Platt­form­preis erhalten hat. Der Held des Films, Yugam Sood, erschien zusammen mit dem Regisseur Tarsem Singh Dhandwar zur Preis­ver­lei­hung für einen Film, der auf einer wahren Bege­ben­heit beruht und das Thema »Ehrenmord« aufgreift. Der Regisseur bat bei der Preis­ver­lei­hung jedoch darum, dass niemand den Film als Ehrenmord-Film bezeichnet, weil er glaubt, dass mit dieser Begriff­lich­keit die invol­vierte Bruta­lität verharm­lost wird. Ich denke aller­dings, dass »Ehrenmord« durchaus funk­tio­niert, um die Art des Mordes aus konzep­tio­neller Sicht zu beschreiben.

Der Haupt­preis des TIFF, der People’s Choice Award, ging an Cord Jeffer­sons Film American Fiction. Da ich meine Liste auf das asia­ti­sche Kino beschränkt hatte, habe ich diese US-Produk­tion nicht gesehen, die von der Frus­tra­tion eines schwarzen Schrift­stel­lers handelt. Robert McCallums Doku­men­tar­film Mr. Dressup: The Magic of Make-Believe gewann den People’s Choice Award in der Kategorie Bester Doku­men­tar­film. Diese beiden Preise sind die wich­tigsten Auszeich­nungen des TIFF, die durch eine Publi­kums­ab­stim­mung bestimmt werden. Das TIFF legt größten Wert auf sein Publikum. So war denn auch der Wett­be­werbs­jingle, der vor Beginn jeder Vorfüh­rung gespielt wurde, eine Dankes­bot­schaft an das Publikum.

Das TIFF hat eine weitere wichtige Kategorie, die TIFF Classics, die dieses Jahr auch meinen Lieb­lings­re­gis­seur, Ousmane Sembène und seinen Film Xala zeigten. Ein weiterer sene­ga­le­si­scher Regisseur, Djibril Diop Mambéty und sein Touki Bouki – Die Reise der Hyäne, wurden ebenfalls präsen­tiert. Außerdem liefen Jacques Rivettes L’Amour fou, Brigitte Bermans Artie Shaw: Time Is All You’ve Got und Chen Kaiges Lebewohl, meine Konkubine.

Kommen die Leute nur zum TIFF, um Filme zu sehen? Natürlich nicht, geht es auch hier darum, Leute zu treffen und Kontakte zu knüpfen und zwei­fels­ohne spielt der Markt eine wichtige Rolle für das Festival. Die großen Verleiher kommen, um neue Filme auf dem TIFF zu sehen, und wenn ihnen ein Film gefällt, kontak­tieren sie die Produ­zenten und bespre­chen die Veröf­fent­li­chung in den Kinos der verschie­denen Länder. Das TIFF hat einen eigenen Zweig für diesen Handel mit Filmen, nämlich, das soge­nannte Market Screening.

Abgesehen vom Handel ist die Inter­ak­tion zwischen den Film­lieb­ha­bern auf dem Festival unüber­troffen, vor allem die langen Gespräche vor und nach jedem Film.

Das TIFF-Haupt­ge­bäude, die Lightbox, hat einen Laden im Erdge­schoss, und ich war von der kleinen Auswahl an Büchern sehr angetan. Es gibt Bücher über Filme zu den verschie­densten und nicht nur film­re­le­vanten Themen und eine umfang­reiche Sammlung von Büchern, die auf Inter­views mit Filme­ma­chern basieren. Auch ein paar Bücher über Philo­so­phie sind darunter. Aller­dings musste ich fest­stellen, dass die Bücher ein Schat­ten­da­sein fristen und die Festival-Souve­nir­ab­tei­lungen erheblich besser besucht waren, ohne Zweifel ein globaler Trend.

Zwei weitere Aspekte des TIFF sollten noch erwähnt werden – zum einen gab es während de ersten vier Tage jeden Abend ein Musik­kon­zert rund um das TIFF und dann ein Straßen­fest, bei dem verschie­dene kleine Geschäfte zahl­reiche Attrak­tionen und Speisen anboten und von Straßen­händ­lern flankiert wurden, die Sonder­aus­gaben von Variety, Screen, Hollywood Report und Backstage verteilten.

Das TIFF ist das viert­wich­tigste Film­fes­tival der Welt und wie bei bei anderen, vergleich­baren Festivals gibt es auch hier einen roten Teppich mit dem üblichen Star­auf­lauf; trotzdem ist beim TIFF alles ein wenig anders, überzeugt das Festival weniger durch seinen Glamour als seine Aufrich­tig­keit und Offen­her­zig­keit. Denn die Art und Weise, wie hier Jour­na­listen, Film­au­toren, Regis­seure und Kritiker aus der ganzen Welt empfangen und hofiert werden, ist beein­dru­ckend. Denn erst dadurch entsteht ja die Möglich­keit, die vielen Menschen, Kasten und Haut­farben aus Europa, Afrika und Asien, und jene, die z.T. dauerhaft in Nordame­rika leben und am TIFF teil­nehmen, wirklich kennen­zu­lernen. Ein Novum, auf das bei anderen Festivals heut­zu­tage leider kaum mehr Wert gelegt wird.

Bidhan Rebeiro ist ein benga­li­scher Schrift­steller, Film­wis­sen­schaftler, Film­kri­tiker, Doku­men­tar­film-Regisseur und CEO der Konver­genz­me­dien-Plattform Songbad Prokash. Er lebt und arbeitet in Dhaka, Bangla­desch.