Vitrina |
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Eine Reflexion über Freiheit, wie man sie sich elegischer kaum wünschen kann: Los delincuentes | ||
(Foto: Filmfest Hamburg) |
Von Eckhard Haschen
»Eine verlässliche Größe auf dem Filmfest Hamburg ist seit über zehn Jahren die Sektion Vitrina, in der spanisch- und portugiesischsprachige Filme laufen« – habe ich im vergangenen Jahr an dieser Stelle geschrieben. Genau genommen ist sie dies seit nunmehr 18 Jahren unter der kuratorischen Leitung des argentinischen Filmkritikers Roger Koza – also fast die gesamte, jetzt zu Ende gegangene Ära Wiederspiel.
Das Schöne an dieser Sektion ist, dass Koza im Unterschied zu den Kuratoren der meisten Latein- oder Iberoamerikanischen Filmtage, die meist auf »sichere« Titel setzen, ein besonderes Faible für ästhetische Wagnisse hat sowie auf Filme, die auf den großen A-Festivals aus den unterschiedlichsten Gründen nicht die Beachtung erhalten, die sie verdienen.
Immerhin eine gewisse Beachtung hatte bereits in Cannes der argentinische Regisseur Rodrigo Moreno für Los delincuentes, einen Gangsterfilm der besonderen Art, erhalten. Besonders allein schon wegen seiner Länge von drei Stunden und dem fast völligen Fehlen von Gewaltszenen. Genretypisch ist darin allein der Ausgangspunkt der Geschichte: Ein kleiner, in seiner Routine gefangener Bankangestellter – man mag an Edward G. Robinson in Fritz Langs Scarlet Street denken – stiehlt genau das Doppelte des Gehalts, das ihm bis zu seiner Rente zusteht, geht dann freiwillig für dreieinhalb Jahre ins Gefängnis, um schließlich ein sorgenfreies Leben zu genießen. Inspiriert wurde Moreno zu seinem Film von dem ebenfalls gezeigten Apenas un delincuente, einem lange vergessenen argentinischen Film Noir von Hugo Fregonese aus dem Jahr 1949, der diese Ausgangssituation in genretypischer Manier durchspielt. Aber was Moreno daraus macht, ist eine Reflexion über Freiheit, wie man sie sich elegischer kaum wünschen kann. In seiner Erzählweise weist Los delincuentes eine gewisse Verwandtschaft zu dem im vergangenen Jahr in dieser Reihe gezeigten Trenque Lauquen von Laura Citarella auf. Für mich der Höhepunkt der Sektion, waren dies darin aber bei weitem nicht die einzigen herausragenden Arbeiten.
Einer davon war Cerrar los ojos, der erste lange Film, den Victor Erice – berühmt für Der Geist des Bienenstocks – seit 30 Jahren realisieren konnte. Schon nach wenigen Minuten dieser knapp dreistündigen Reflexion über Erinnerung, Identität und die Macht des Kinos ist klar, dass Erice nichts von seinem Können verlernt hat. Ein Schauspieler, der vor vielen Jahren bei Dreharbeiten an einer Felsküste spurlos verschwunden ist, wird von seinem damaligen Regisseur wiedergefunden, kann sich aber an gar nichts mehr erinnern…
Ein weiterer war Un amor von Isabel Coixet, in dem Laia Costa als Übersetzerin zu sehen ist, die von der Großstadt in die spanische Provinz zieht und dort eine obsessive Affäre mit ihrem Nachbar, einem Handwerker beginnt, der von allen nur el alemán, »der Deutsche« genannt wird. Wenn auch klassischer in seiner Anlage als die oben genannten Filme, entwickelt sich die Geschichte jedoch auch hier alles andere als konventionell.
Und schließlich: der brasilianische Dokumentarfilm A invenção do outro von Bruno Jorge, der die Begegnung von Weißen mit einigen der letzten von der modernen Zivilisation unberührt lebenden indigenen Bewohner des Amazonas-Urwalds zeigt, und dem es wie nur wenigen ethnografischen Dokumentarfilmen bisher gelingt, uns sehr fremde Vorstellungen vom Menschsein erfahrbar zu machen.