12.10.2023

Vitrina

Los delincuentes
Eine Reflexion über Freiheit, wie man sie sich elegischer kaum wünschen kann: Los delincuentes
(Foto: Filmfest Hamburg)

Die Sektion der spanisch-und portugiesischsprachigen Filme auf dem 31. Filmfest Hamburg

Von Eckhard Haschen

»Eine verläss­liche Größe auf dem Filmfest Hamburg ist seit über zehn Jahren die Sektion Vitrina, in der spanisch- und portu­gie­sisch­spra­chige Filme laufen« – habe ich im vergan­genen Jahr an dieser Stelle geschrieben. Genau genommen ist sie dies seit nunmehr 18 Jahren unter der kura­to­ri­schen Leitung des argen­ti­ni­schen Film­kri­ti­kers Roger Koza – also fast die gesamte, jetzt zu Ende gegangene Ära Wieder­spiel.

Das Schöne an dieser Sektion ist, dass Koza im Unter­schied zu den Kuratoren der meisten Latein- oder Ibero­ame­ri­ka­ni­schen Filmtage, die meist auf »sichere« Titel setzen, ein beson­deres Faible für ästhe­ti­sche Wagnisse hat sowie auf Filme, die auf den großen A-Festivals aus den unter­schied­lichsten Gründen nicht die Beachtung erhalten, die sie verdienen.

Immerhin eine gewisse Beachtung hatte bereits in Cannes der argen­ti­ni­sche Regisseur Rodrigo Moreno für Los delin­cuentes, einen Gangs­ter­film der beson­deren Art, erhalten. Besonders allein schon wegen seiner Länge von drei Stunden und dem fast völligen Fehlen von Gewalt­szenen. Genre­ty­pisch ist darin allein der Ausgangs­punkt der Geschichte: Ein kleiner, in seiner Routine gefan­gener Bank­an­ge­stellter – man mag an Edward G. Robinson in Fritz Langs Scarlet Street denken – stiehlt genau das Doppelte des Gehalts, das ihm bis zu seiner Rente zusteht, geht dann frei­willig für drei­ein­halb Jahre ins Gefängnis, um schließ­lich ein sorgen­freies Leben zu genießen. Inspi­riert wurde Moreno zu seinem Film von dem ebenfalls gezeigten Apenas un delin­cuente, einem lange verges­senen argen­ti­ni­schen Film Noir von Hugo Fregonese aus dem Jahr 1949, der diese Ausgangs­si­tua­tion in genre­ty­pi­scher Manier durch­spielt. Aber was Moreno daraus macht, ist eine Reflexion über Freiheit, wie man sie sich elegi­scher kaum wünschen kann. In seiner Erzähl­weise weist Los delin­cuentes eine gewisse Verwandt­schaft zu dem im vergan­genen Jahr in dieser Reihe gezeigten Trenque Lauquen von Laura Citarella auf. Für mich der Höhepunkt der Sektion, waren dies darin aber bei weitem nicht die einzigen heraus­ra­genden Arbeiten.

Einer davon war Cerrar los ojos, der erste lange Film, den Victor Erice – berühmt für Der Geist des Bienen­stocks – seit 30 Jahren reali­sieren konnte. Schon nach wenigen Minuten dieser knapp dreis­tün­digen Reflexion über Erin­ne­rung, Identität und die Macht des Kinos ist klar, dass Erice nichts von seinem Können verlernt hat. Ein Schau­spieler, der vor vielen Jahren bei Dreh­ar­beiten an einer Felsküste spurlos verschwunden ist, wird von seinem damaligen Regisseur wieder­ge­funden, kann sich aber an gar nichts mehr erinnern…

Ein weiterer war Un amor von Isabel Coixet, in dem Laia Costa als Über­set­zerin zu sehen ist, die von der Großstadt in die spanische Provinz zieht und dort eine obsessive Affäre mit ihrem Nachbar, einem Hand­werker beginnt, der von allen nur el alemán, »der Deutsche« genannt wird. Wenn auch klas­si­scher in seiner Anlage als die oben genannten Filme, entwi­ckelt sich die Geschichte jedoch auch hier alles andere als konven­tio­nell.

Und schließ­lich: der brasi­lia­ni­sche Doku­men­tar­film A invenção do outro von Bruno Jorge, der die Begegnung von Weißen mit einigen der letzten von der modernen Zivi­li­sa­tion unberührt lebenden indigenen Bewohner des Amazonas-Urwalds zeigt, und dem es wie nur wenigen ethno­gra­fi­schen Doku­men­tar­filmen bisher gelingt, uns sehr fremde Vorstel­lungen vom Mensch­sein erfahrbar zu machen.