03.08.2023

»Und dass man ohne Täuschung zu leben vermag …«

Filmfestival Locarno
Piazza Grande: 8000 vor »malerischer Kulisse«
(Foto: Locarno Film Festival)

Ein Film wie ein Gedicht, Touristifizierung der Filmkritik und Politikwashing – Notizen aus Locarno, 1. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Warum reisen wir? Auch dies, damit wir Menschen begegnen, die nicht meinen, daß sie uns kennen ein für allemal; damit wir noch einmal erfahren, was uns in diesem Leben möglich sei – Es ist ohnehin schon wenig genug.«
Max Frisch, Tagebuch 1946-1949

Wenn es die Schweiz nicht gäbe, müsste man sie erfinden. Drei Sprach­räume, damit auch drei Film­land­schaften und etwas viertes, eine eigene Identität, die nicht mit einer von den dreien deckungs­gleich ist. Ein frei­heit­li­ches, relaxetes, welt­of­fenes Land, und eine immer wieder mal auf gelassene Art auch patrio­ti­sche Gesell­schaft.

So geht es mir immer wieder, wenn ich nach Locarno fahre, mit dem Zug durch das ganze Land, auf dieses, bei allem kleinen auch von mir gele­gent­lich prak­ti­zierten Gemäkel, doch sehr relaxte und cinephile Film­fes­tival.
Und so müsste man eigent­lich auch auf Locarno schauen, wenn man sich als Film­kri­tiker ernst nimmt, wenn man sich als Teil der Film­com­mu­nity, also einer inter­na­tio­nalen, auch an Ästhetik und nicht nur an Kommerz inter­es­sierten gesel­ligen Arbeits­ge­mein­schaft wahrnimmt.

So ist es aber leider nicht, jeden­falls nicht in Deutsch­land. Die Menge der Festi­val­be­richte aus Locarno ist ziemlich groß, ich würde sagen klar über­pro­por­tional groß, wenn man es mit einem Film­fes­tival wie dem von San Sebastian vergleicht. Sie ist das leider nicht aus Wert­schät­zung für die Filme und das Programm des Film­fes­ti­vals, sondern aus der Wert­schät­zung dieses Urlaubs­ziels im August. Das Festival wird in der deutschen Festi­val­be­richt­erstat­tung touristi­fi­ziert. Stell­ver­tre­tend dafür für viele deutsche Stimmen, die das natürlich meistens nicht so öffent­lich sagen, zitieren wir mal die dpa von heute:
»Cocktails, Badespaß und Kino satt: das 76. Film­fes­tival Locarno lädt Anfang August ans Ufer des Lago Maggiore«, heißt der Titel.

Und genau: Cocktails, baden und satt werden – das ist der Blick der deutschen Film­kritik auf Locarno. Nur darum wird über dieses Festival so viel berichtet …

Ich mag es ja auch, aber … das hat Locarno nicht verdient!

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Schon wahr: Locarno besitzt die Atmo­sphäre eines Kurorts für reiche Rentner, und ist geprägt durch seine mittel­al­ter­liche Piazza, auf der die Filme vor bis zu 8000 Leuten laufen.

Immer wieder die Frage: Was genau ist Locarno? Das ist natürlich eine große Frage.

Locarno ist eher das kleinste unter den großen Festivals als das größte der kleinen. Es ist ein A-Festival, die Preise im Haupt­wett­be­werb um den Goldenen Leoparden sind wichtig und begehrt.

Gleich­zeitig ist es auch ein Festival, das darunter leidet, dass es immer weiter aufge­bläht wurde und sich diesem Wachs­tums­zwang auch zur Zeit der Pandemie nicht entziehen konnte. Es leidet darunter, dass es zwei fast gleich­be­rech­tigte Wett­be­werbe hat. Ganz lange war Locarno eindeutig ein Nach­wuchs­fes­tival. Jetzt aber gibt es einen zweiten Wett­be­werb, zwar ohne Leoparden, aber sehr gut, in dem sowieso nur Nachwuchs läuft. Und im Haupt­wett­be­werb laufen dann einer­seits ebenfalls weiterhin Nach­wuchs­fil­me­ma­cher, ande­rer­seits auch Regis­seure wie Radu Jude, der schon einen Goldenen Bär gewonnen hat, und Lav Diaz, der schon mal in Venedig den Goldenen Löwen gewann und sogar schon mal den Goldenen Leopard von Locarno – muss das sein? Man hat sonst fast nur Studenten, die mit solchen etablierten über 50- oder über 60-Jährigen Leuten um einen de facto Nach­wuchs­preis kämpfen.

Die Aufspal­tung in zwei Wett­be­werbe führt auch dazu, dass das Programm aufge­split­tert wird. Dass der Nachwuchs in einen zweiten Wett­be­werb verbannt wird. In diesem zweiten Wett­be­werb hat man dann aber die etwas radi­ka­leren, im guten Sinn unfer­ti­geren Filme – das Kino der Zukunft deutet sich hier schon an. Während das ein bisschen bravere, konven­tio­nel­lere, erwart­ba­rere Kino und das der Alten im Haupt­wett­be­werb läuft.

Als Besucher muss man sich entscheiden zwischen »schlechter« Perfek­tion und guter »Imper­fek­tion«. Und macht immer Fehler.

C'est la vie.

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Man kann in diesem Jahr nicht über Locarno schreiben, ohne über das zu schreiben, was vermut­lich nicht zu sehen sein wird: US-Ameri­ka­ni­sches.

Der aktuelle Streik in Hollywood zeigt sich schon daran, dass ein paar Ameri­kaner nicht anreisen. Und dass alle jetzt ein bisschen aufmerk­samer für die Probleme sind, die die Holly­wood­schau­spieler und -Autoren jetzt anspre­chen. Das betrifft einer­seits die Rolle der Künst­li­chen Intel­li­genz – ein Thema, über das wir jetzt in allen Bereichen reden. Was heißt das hier jetzt genau? Es geht darum, welche Rolle KI bei den Filmen spielt. Ob die Compu­ter­technik jetzt bald die Schau­spiel­kunst ersetzen wird, ob sie längst verstor­bene Schau­spieler wieder aufer­stehen lassen wird? Und ob das gut ist oder schlecht?
Und dann gibt es noch die Frage, ob der Computer bald selber Film­dreh­bücher schreiben oder gar Filme machen kann?

Auf der anderen Seite geht es auch um Arbeits­be­din­gungen: Die Frage der fairen Bezahlung, überhaupt der Fairness, der Arbeits­zeiten, die manche als zu lang, andere als zu unfle­xibel empfinden, und verschie­dene weitere Varianten von Ausbeu­tung.
Das ist natürlich auch wieder ein weites Feld, das man meiner Ansicht nach wirklich nicht nur im Bereich des Kinos und der Kunst disku­tieren sollte, wo man nicht stell­ver­tre­tend dem Kino und der Kunst etwas aufbürden sollte, das in der Gesell­schaft ansonsten voll­kommen ungelöst bleibt.

Aber ein Film­fes­tival tangiert der Streik aus diesen Gründen natürlich ganz besonders. Denn das Film­fes­tival will sich da einer­seits selber posi­tio­nieren, durch Pres­se­er­klärungen und Soli­da­ri­täts­be­kun­dungen. Aber was heißt es genau, sich hier zu posi­tio­nieren? Selbst­ver­s­tänd­lich will sich ein Festival »zugunsten der Filme­ma­cher« posi­tio­nieren. Also den Streik, die Dreh­buch­au­toren und Schau­spieler zu unter­s­tützen. So gibt es dann dazu auch entspre­chende Pres­se­mit­tei­lungen, in denen sich Locarno soli­da­risch erklärt.
Auf der anderen Seite sind Filme­ma­cher ja auch die Produ­zenten, die in der Streik­frage auf der anderen Seite stehen. Von diesem Produ­zenten will man bald wieder Filme für das Film­fes­tival haben, man möchte, dass diese Filme exis­tieren, man möchte auch, dass es den Produ­zenten gut genug geht und man weiß, dass auch sie ihre Rechte und Inter­essen haben, die voll­kommen legitim sind.
So ist ein Film­fes­tival auch zu einer diplo­ma­ti­schen Grat­wan­de­rung gezwungen.

Wir gehen viel­leicht ein bisschen zu schnell davon aus, dass ein Film­fes­tival immer »links« ist, immer da steht, wo man politisch, wenn man der Kunst­szene angehört, zu stehen hat. So ist es aber doppelt nicht. Zumal man lange darüber streiten kann, was genau »links« heißt. Aber das ist kompli­ziert, machen wir es uns lieber einfach.

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Hinzu kommt, dass ein Film­fes­tival auch selber ein Arbeit­geber ist. Also auch natürlich auf einer Seite steht, selber Arbeits­be­din­gungen zu bieten, die nicht immer fair sind, bei denen Frei­wil­lige manchmal für gar kein Geld arbeiten, oder kaum der Mindest­lohn gezahlt wird.

Man kann gut reden über die Arbeits­be­din­gungen an anderen Orten. Das wird aber schnell zum Problem, wenn man selber die eigenen Mitar­beiter noch viel schlechter behandelt als dieje­nigen, mit denen man sich per Pres­se­aus­sendung soli­da­risch erklärt.

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Die oft mise­ra­blen Arbeits­be­din­gungen sollte man übrigens den Film­fes­ti­vals nicht zu nach­drück­lich vorwerfen. Denn Film­fes­ti­vals sind selber von der öffent­li­chen Hand überaus knapp gehalten. Und die, die dafür wirklich verant­wort­lich sind, also die Kultur­po­litik, macht es sich manchmal auch viel zu einfach, indem sie irgend­welche Mindest­stan­dards einfor­dert, die von ihr finan­zierten Film­fes­ti­vals aber überhaupt nicht entspre­chend ausstattet. Wer Mindest­stan­dards will, der muss auch dafür sorgen, dass sie bezahlbar sind.

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Im kleinen und, wie gesagt, oft inter­es­san­teren Wett­be­werb in Locarno laufen in diesem Jahr übrigens gleich drei Filme, die wirklich aus Deutsch­land kommen und nicht nur deutsche Förder­gelder bekommen haben. Alle drei von jungen Frauen. Einer davon hat den schönen Titel »Und dass man ohne Täuschung zu leben vermag …« Den werde ich mir schon des Titels wegen ansehen. Ein Film wie ein Gedicht – das kann gar nicht so schlecht sein.