76. Filmfestspiele Cannes 2023
Strandgut |
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Die Liebenden von Senegal: Banel e Adama | ||
(Foto: Cannes 2023 | Ramata-Toulaye Sy) |
Von Dunja Bialas
Der Strand ist meine Orientierungslinie in diesen Tagen. Jeden Morgen fahre ich auf meinem weißen Vélo de Ville kilometerlang den Strand entlang, immer geradeaus, nur der Wechsel zwischen Fahrradweg und Straße über gefährliche Zebrastreifen (wer hat noch mal behauptet, dass in Frankreich alle Autofahrer automatisch halten, wenn man sich einem solchen auch nur nähert?) bringen die Fahrt aus dem Tritt. Hinaus aus der Stadt hat man eine steile Bergsilhouette vor Augen, Hochhäuser türmen sich am Stadtrand, es sind aber keine Sozialbauten, wie sonst in der Banlieue französischer Städte. Großzügige Balkone mit Blick auf das Meer machen das Leben hier angenehm.
Das Fahrrad bringt mich zum Cinéum, das in den Ausläufen eines Industriegebiets mit gigantischen Supermärkten und riesigen Werkstätten liegt. Sogar einen kleinen Amateurflughafen gibt es hier, direkt gegen über dem Multiplex. Mittags, wenn ich mich zum Chillen oder Schreiben auf das Sonnendeck setze – es erinnert stark an Calatrava, ist aber von Rudy Ricciotti, einem Architekten aus der Region –, ist Fluglärm zu hören. Und auch das Cinéum wirkt, als wäre es hier gelandet, zumindest verströmt es Futurismus in der auf die Geschichte des Kinos bedachten Stadt. Mit dem 12-Saal-Kino und dem ersten Dolby-Atmos-Saal Europas sei die Zukunft des Kinos in die Stadt eingezogen, jubelte bei der Eröffnung vor zwei Jahren die Lokalpresse.
Radfahren ist hier ein gefährliches Unterfangen. Nicht nur kennen die französischen Autofahrer schlichtweg diese Art von Verkehrsteilnehmer nicht, auch sind die Bedingungen fürs Radfahren heftig. Man wird den Fußgängern zugeordnet, eigentlich, so finden zumindest die Autofahrer, hat man auf der Straße nichts verloren. Diesem Umstand wurde auch Festival-Chef Thierry Frémaux zum Opfer, den Polizisten mit dem Rad auf dem Trottoir aufhielten. Er hat sich mächtig darüber aufgeregt, und das Video mit dem Vorfall ging viral.
Filme sind wie Strandgut, sie werden unerwartet angespült, man nimmt sie in die Hand, behält sie oder wirft sie wieder zurück ins Wasser. Von der formalen Heterogenität des Wettbewerbs habe ich hier schon geschrieben. Zwei Filme kommen aus Afrika, sorgen mit unterrepräsentierten Kinematographien für ein wenig Erfrischung zwischen den großen Produktionen (und dann ist da ja auch noch Wang Bing…). Les Filles d’Olfa der Tunieserin Kaouther Ben Hania (man kennt sie von Der Mann, der seine Haut verkaufte) siedelt sich zwischen Performance und Reenactment an, mit dokumentarischer Grundierung.
Vier Schwestern rekonstruieren in einem neutralen Raum ihr Aufwachsen mit der alleinerziehenden, unter der Last der Tradition zu Gewaltausbrüchen neigenden Mutter Olfa, die ebenfalls an der Erinnerungsarbeit teilnimmt. Wieviel Freiheit hatten die Schwestern? Wie modern war die Mutter? Warum hat sie immer wieder zugeschlagen, mit dem Besen eine der Ältesten verprügelt, weil sie im Gothic-Look herumlief? Und warum haben sich die ältesten Schwestern schließlich dem IS angeschlossen? Bis wann waren der Islam und seine Codes noch Freiheit und Spiel, ab wann wurde es zur fanatischen Obsession? Schauspielerinnen übernehmen, wenn es triggernd wirken könnte oder die Wahrheit über das Vergangene zu weh tut. Ein beachtenswerter Film, sehr modern, der sich im Wettbewerb von Cannes sehr ungewohnt anfühlt, weil er nicht so groß ist – und auch weil er sich in die Unbestimmtheitsstelle der filmischen Sparten setzt.
In der ebenfalls im Wettbewerb laufenden Romance Banel e Adama, Debütfilm der in Frankreich lebenden Fémis-Absolventin Ramata-Toulaye Sy, verbindet sich die parabelhafte Liebesgeschichte von Banel und Adama mit Themen des Klimawandels und der Tradition. In dem abgelegenen Ort mit den Lehmhütten herrscht extreme Dürre, das Vieh stirbt, biblische Vogelschwärme wie Zeichen der Apokalypse. Banel und Adama wollen außerhalb des Dorfes in einem Steinhaus leben, täglich graben sie den Sand weg, der es unter sich vergraben hat. Die Dorfgemeinschaft aber hat anderes vorgesehen, Adama soll Dorf-Chef werden und damit die Nachfolge seines verstorbenen Vaters antreten, dafür muss er im Ort wohnen. Banel will die Liebe, die Zweisamkeit, die Ruhe von dem Dorfplatz, wo die tratschfreudigen und missbilligenden Frauen sie und ihre Steinschleuder beäugen. Da der Glaube an die heilende Kraft der Bräuche aber groß ist und die Dürre dem Aberglauben gemäß nur von der Traditionsverweigerung Adamas kommen kann, wird der Druck schließlich groß und sie fügen sich. Die eher schlichte Geschichte darf wie eine senegalesische Legende wirken. Starke Farbsymbolik wird für das Leben und die Liebe gesetzt, Banel trägt auffallend leuchtende T-Shirts, ihre Wohnung liegt hinter einem pinkfarbenen Vorhang, einmal zerfällt das von der Kamera eingefangene Licht irisierend in seine Spektralfarben, als Banel in der Sonne sitzt. Als ein Sandsturm über das Dorf hineinbricht, gibt das einen spektakulären Roland-Emmerich-Moment – davon hätte man sich in diesem Film voll magischer Bedrohlichkeit gerne noch mehr gewünscht.
Zuerst einmal Enttäuschung in den Nebensektionen, Enttäuschung auch aufrund hoher, womöglich sehr hoher Erwartungen.
Le temps d’aimer, Zeit der Liebe: Katell Quillévéré spannt in ihrem Film (Sektion: Cannes Première) nach dem herausragenden, wie mit dem Seziermesser geschriebenen Die Lebenden reparieren leider den allzu großen Bogen auf. Es geht in das Frankreich der Nachkriegsjahre, Madelaine (Anaïs Demoustier) hat sich während des Kriegs mit einem Wehrmachtssoldaten eingelassen, von dem kurzen Verhältnis wurde sie schwanger, jetzt ist sie als Nutte der boches (oder Krauts) gebrandmarkt. François (Vincent Lacoste) ist die Rettung in ihrem desolaten Leben als alleinerziehende Mutter eines Sohnes, dem sie keine Liebe schenken will. Der Archäologe schreibt seine Doktorarbeit, während sie in einem Nachtclub für die GIs arbeitet, von ihm bekommt der Sohn auf einmal Zuneigung und Aufmerksamkeit. In einem lange angebahnten »Dreier« mit einem schwarzen GI schenkt sich der Film einen tieferen Moment, in welchem er kurz kurz dem durcherzählten Period Picture entkommt. Hier, in der Mitte des Films, übernimmt das unausgesprochene Begehren, die Blicke, die Andeutungen, die Unsicherheiten die Regie und lässt eine tiefere Kraft der Inszenierung erahnen. Der Plot und seiner Konstruktion aber behält die Oberhand: alle Figuren sind mit einem Stigma versehen, dort, wo Rassismus für Rassentrennung unter den GIs sorgt, und wo Homosexualität noch unter Strafe steht. Es geht weiter mit dem Plot…
Le temps d’aimer ist ein historisch grundiertes Melodram, das weniger breit auserzählt wohl mehr Wirkung hinterlassen hätte. Quillévéré beherrscht die Skizze in wenigen Bleistiftstrichen. Sie enthält alles, warum also zwei Stunden lang so sorgfältig ausmalen?
Ein Tiefpunkt von Cannes: Claude Schmitz L'autre Laurens in der »Quinzaine des Cinéastes«, die jetzt so heißt, genderneutral (und nicht mehr »des réalisateurs«). Nach dem tollen Braquer Poitiers (2019), der mit dem Prix Jean Vigo ausgezeichnet wurde, und dem experimentellen und hochspannenden Lucie perd son cheval (2022) jetzt Policier-Klamauk und Figuren-Trash, der auf die Nerven geht. Das französische Publikum ist begeistert, ich wundere mich über das Aussehen von Rudolphe Burger, der in dem Film mitspielt. Aus der Form geraten.
Wer denkt, Picknicken am Strand sei eine gute Idee, dem sei gesagt: ist sie nicht. Auch wenn es schön ist, den Tag dort ausklingen zu lassen, während die Sonne untergeht und die Jungs ihren Fußball rausholen und man dem Leben für einen gestohlenen Moment wieder in Echtzeit zusehen kann. Denn jetzt sind auch die wie Bullterrier kräftig-muskulösen Hunde am Strand. Einer von ihnen galoppiert auf meine Pâté de Campagne zu, die ich mir gerade aufs Baguette legen will. Ich springe auf – meine dumme Angst vor Hunden – schütte im Schwung eine Ladung Sand auf meine Pâté. Das Herrchen dann: Der will ohnehin nichts fressen. Ich: Woher weiß ich das? Das Sandwich hat zwischen meinen Zähnen geknirscht.