25.05.2023
76. Filmfestspiele Cannes 2023

Strandgut

Banel e Adama
Die Liebenden von Senegal: Banel e Adama
(Foto: Cannes 2023 | Ramata-Toulaye Sy)

Aufgesammeltes aus den Cannes-Tagen: Tunesien und Senegal im Wettbewerb und Filme in den Nebensektionen

Von Dunja Bialas

Der Strand ist meine Orien­tie­rungs­linie in diesen Tagen. Jeden Morgen fahre ich auf meinem weißen Vélo de Ville kilo­me­ter­lang den Strand entlang, immer geradeaus, nur der Wechsel zwischen Fahr­radweg und Straße über gefähr­liche Zebra­streifen (wer hat noch mal behauptet, dass in Frank­reich alle Auto­fahrer auto­ma­tisch halten, wenn man sich einem solchen auch nur nähert?) bringen die Fahrt aus dem Tritt. Hinaus aus der Stadt hat man eine steile Berg­sil­hou­ette vor Augen, Hoch­häuser türmen sich am Stadtrand, es sind aber keine Sozi­al­bauten, wie sonst in der Banlieue fran­zö­si­scher Städte. Groß­zü­gige Balkone mit Blick auf das Meer machen das Leben hier angenehm.

Das Fahrrad bringt mich zum Cinéum, das in den Ausläufen eines Indus­trie­ge­biets mit gigan­ti­schen Super­märkten und riesigen Werks­tätten liegt. Sogar einen kleinen Amateur­flug­hafen gibt es hier, direkt gegen über dem Multiplex. Mittags, wenn ich mich zum Chillen oder Schreiben auf das Sonnen­deck setze – es erinnert stark an Calatrava, ist aber von Rudy Ricciotti, einem Archi­tekten aus der Region –, ist Fluglärm zu hören. Und auch das Cinéum wirkt, als wäre es hier gelandet, zumindest verströmt es Futu­rismus in der auf die Geschichte des Kinos bedachten Stadt. Mit dem 12-Saal-Kino und dem ersten Dolby-Atmos-Saal Europas sei die Zukunft des Kinos in die Stadt einge­zogen, jubelte bei der Eröffnung vor zwei Jahren die Lokal­presse.

Radfahren ist hier ein gefähr­li­ches Unter­fangen. Nicht nur kennen die fran­zö­si­schen Auto­fahrer schlichtweg diese Art von Verkehrs­teil­nehmer nicht, auch sind die Bedin­gungen fürs Radfahren heftig. Man wird den Fußgän­gern zuge­ordnet, eigent­lich, so finden zumindest die Auto­fahrer, hat man auf der Straße nichts verloren. Diesem Umstand wurde auch Festival-Chef Thierry Frémaux zum Opfer, den Poli­zisten mit dem Rad auf dem Trottoir aufhielten. Er hat sich mächtig darüber aufgeregt, und das Video mit dem Vorfall ging viral.

Tunesien, Senegal: starke Frauen im Wett­be­werb

Filme sind wie Strandgut, sie werden uner­wartet angespült, man nimmt sie in die Hand, behält sie oder wirft sie wieder zurück ins Wasser. Von der formalen Hete­ro­ge­nität des Wett­be­werbs habe ich hier schon geschrieben. Zwei Filme kommen aus Afrika, sorgen mit unter­re­prä­sen­tierten Kine­ma­to­gra­phien für ein wenig Erfri­schung zwischen den großen Produk­tionen (und dann ist da ja auch noch Wang Bing…). Les Filles d’Olfa der Tunie­serin Kaouther Ben Hania (man kennt sie von Der Mann, der seine Haut verkaufte) siedelt sich zwischen Perfor­mance und Reenact­ment an, mit doku­men­ta­ri­scher Grun­die­rung.

Les filles d’olfa
Setting der Rekon­struk­tion (Foto: Kaouther Ben Hania | Cannes 2023)

Vier Schwes­tern rekon­stru­ieren in einem neutralen Raum ihr Aufwachsen mit der allein­er­zie­henden, unter der Last der Tradition zu Gewalt­aus­brüchen neigenden Mutter Olfa, die ebenfalls an der Erin­ne­rungs­ar­beit teilnimmt. Wieviel Freiheit hatten die Schwes­tern? Wie modern war die Mutter? Warum hat sie immer wieder zuge­schlagen, mit dem Besen eine der Ältesten verprü­gelt, weil sie im Gothic-Look herumlief? Und warum haben sich die ältesten Schwes­tern schließ­lich dem IS ange­schlossen? Bis wann waren der Islam und seine Codes noch Freiheit und Spiel, ab wann wurde es zur fana­ti­schen Obsession? Schau­spie­le­rinnen über­nehmen, wenn es triggernd wirken könnte oder die Wahrheit über das Vergan­gene zu weh tut. Ein beach­tens­werter Film, sehr modern, der sich im Wett­be­werb von Cannes sehr ungewohnt anfühlt, weil er nicht so groß ist – und auch weil er sich in die Unbe­stimmt­heits­stelle der filmi­schen Sparten setzt.

In der ebenfalls im Wett­be­werb laufenden Romance Banel e Adama, Debütfilm der in Frank­reich lebenden Fémis-Absol­ventin Ramata-Toulaye Sy, verbindet sich die para­bel­hafte Liebes­ge­schichte von Banel und Adama mit Themen des Klima­wan­dels und der Tradition. In dem abge­le­genen Ort mit den Lehm­hütten herrscht extreme Dürre, das Vieh stirbt, biblische Vogel­schwärme wie Zeichen der Apoka­lypse. Banel und Adama wollen außerhalb des Dorfes in einem Steinhaus leben, täglich graben sie den Sand weg, der es unter sich vergraben hat. Die Dorf­ge­mein­schaft aber hat anderes vorge­sehen, Adama soll Dorf-Chef werden und damit die Nachfolge seines verstor­benen Vaters antreten, dafür muss er im Ort wohnen. Banel will die Liebe, die Zwei­sam­keit, die Ruhe von dem Dorfplatz, wo die tratsch­freu­digen und miss­bil­li­genden Frauen sie und ihre Stein­schleuder beäugen. Da der Glaube an die heilende Kraft der Bräuche aber groß ist und die Dürre dem Aber­glauben gemäß nur von der Tradi­ti­ons­ver­wei­ge­rung Adamas kommen kann, wird der Druck schließ­lich groß und sie fügen sich. Die eher schlichte Geschichte darf wie eine sene­ga­le­si­sche Legende wirken. Starke Farb­sym­bolik wird für das Leben und die Liebe gesetzt, Banel trägt auffal­lend leuch­tende T-Shirts, ihre Wohnung liegt hinter einem pink­far­benen Vorhang, einmal zerfällt das von der Kamera einge­fan­gene Licht irisie­rend in seine Spek­tral­farben, als Banel in der Sonne sitzt. Als ein Sandsturm über das Dorf hinein­bricht, gibt das einen spek­ta­kulären Roland-Emmerich-Moment – davon hätte man sich in diesem Film voll magischer Bedroh­lich­keit gerne noch mehr gewünscht.

Anatomie der Liebe: Katell Quil­lé­véré

Zuerst einmal Enttäu­schung in den Nebensek­tionen, Enttäu­schung auch aufrund hoher, womöglich sehr hoher Erwar­tungen.

Le temps d’aimer, Zeit der Liebe: Katell Quil­lé­véré spannt in ihrem Film (Sektion: Cannes Première) nach dem heraus­ra­genden, wie mit dem Sezier­messer geschrie­benen Die Lebenden repa­rieren leider den allzu großen Bogen auf. Es geht in das Frank­reich der Nach­kriegs­jahre, Madelaine (Anaïs Demoustier) hat sich während des Kriegs mit einem Wehr­machts­sol­daten einge­lassen, von dem kurzen Verhältnis wurde sie schwanger, jetzt ist sie als Nutte der boches (oder Krauts) gebrand­markt. François (Vincent Lacoste) ist die Rettung in ihrem desolaten Leben als allein­er­zie­hende Mutter eines Sohnes, dem sie keine Liebe schenken will. Der Archäo­loge schreibt seine Doktor­ar­beit, während sie in einem Nachtclub für die GIs arbeitet, von ihm bekommt der Sohn auf einmal Zuneigung und Aufmerk­sam­keit. In einem lange ange­bahnten »Dreier« mit einem schwarzen GI schenkt sich der Film einen tieferen Moment, in welchem er kurz kurz dem durch­er­zählten Period Picture entkommt. Hier, in der Mitte des Films, übernimmt das unaus­ge­spro­chene Begehren, die Blicke, die Andeu­tungen, die Unsi­cher­heiten die Regie und lässt eine tiefere Kraft der Insze­nie­rung erahnen. Der Plot und seiner Konstruk­tion aber behält die Oberhand: alle Figuren sind mit einem Stigma versehen, dort, wo Rassismus für Rassen­tren­nung unter den GIs sorgt, und wo Homo­se­xua­lität noch unter Strafe steht. Es geht weiter mit dem Plot…

Le temps d’aimer ist ein histo­risch grun­diertes Melodram, das weniger breit auser­zählt wohl mehr Wirkung hinter­lassen hätte. Quil­lé­véré beherrscht die Skizze in wenigen Blei­stift­stri­chen. Sie enthält alles, warum also zwei Stunden lang so sorg­fältig ausmalen?

Bull­ter­rier auf dem Strand

Ein Tiefpunkt von Cannes: Claude Schmitz L'autre Laurens in der »Quinzaine des Cinéastes«, die jetzt so heißt, gender­neu­tral (und nicht mehr »des réali­sa­teurs«). Nach dem tollen Braquer Poitiers (2019), der mit dem Prix Jean Vigo ausge­zeichnet wurde, und dem expe­ri­men­tellen und hoch­span­nenden Lucie perd son cheval (2022) jetzt Policier-Klamauk und Figuren-Trash, der auf die Nerven geht. Das fran­zö­si­sche Publikum ist begeis­tert, ich wundere mich über das Aussehen von Rudolphe Burger, der in dem Film mitspielt. Aus der Form geraten.

Rudolphe Burger
r.: Rudolphe Burger (Foto: privat)

Wer denkt, Pick­ni­cken am Strand sei eine gute Idee, dem sei gesagt: ist sie nicht. Auch wenn es schön ist, den Tag dort ausklingen zu lassen, während die Sonne untergeht und die Jungs ihren Fußball rausholen und man dem Leben für einen gestoh­lenen Moment wieder in Echtzeit zusehen kann. Denn jetzt sind auch die wie Bull­ter­rier kräftig-muskulösen Hunde am Strand. Einer von ihnen galop­piert auf meine Pâté de Campagne zu, die ich mir gerade aufs Baguette legen will. Ich springe auf – meine dumme Angst vor Hunden – schütte im Schwung eine Ladung Sand auf meine Pâté. Das Herrchen dann: Der will ohnehin nichts fressen. Ich: Woher weiß ich das? Das Sandwich hat zwischen meinen Zähnen geknirscht.

Strand
(Foto: privat)