Die Inszenierung der Konflikte |
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Eine ganz gute Wahl für einen Eröffnungsfilm: Jeanne du Barry | ||
(Foto: Cannes 2023 Media Library) |
Wenn ein Kind kurz weint, dann kann das ein trefflicher, besonders schöner Filmmoment sein. Etwa in Jeanne du Barry. Da bekommt die Mätresse vom König ein Geschenk. Das große Paket öffnet sich, erst langsam erhebt sich ein schwarzer Junge von etwa sechs Jahren. Er wird der Hofmohr der königlichen Favoritin werden, und später – aber das ist nicht im Film – wird er sie verraten, denunzieren beim Wohlfahrtsausschuss, und ausliefern an die
Guillotine mit der die Anwälte einer besseren Zukunft die Gegenwart säubern.
Aber noch hat man Mitleid, noch sieht man ein verunsichertes, angesichts der Hofgesellschaft eingeschüchtertes Kind. Ein paar Tränen kullern da über das schwarze Bäckchen. Eine herausragende Szene in einem durchschnittlichen Film.
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Libertinage, Neugier, »Grace«, also Anmut – dieser Film setzt die richtigen Zeichen. Er ist im besten Sinn unzeitgemäß.
Er zeigt das menschliche Leben als Leben, in dem es um Geld geht, um Macht und Karriere; es ist ein sehr unverblümtes menschliches Streben nach Überleben und Genuss, das nicht durch Moralornamente ummäntelt wird.
Und schon deswegen sympathisch.
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Hier aber hören die Parallelen zu größeren Vorbildern schon auf. Natürlich denkt man bei Maiwenns diesjährigem Cannes-Eröffnungsfilm Jeanne Du Barry an Barry Lyndon, aber damit hat das alles nichts zu tun; natürlich denkt man an Marie Antoinette von Sofia Coppola, aber auch damit hat es nur sehr, sehr wenig zu tun.
Ich fand den Film anständig, ich fand ihn nicht besonders, aber er ist insofern eine ganz gute Wahl für einen Eröffnungsfilm, weil er doch sehr viele interessante kleine einzelne schöne Einzelheiten hat, szenische Edelsteine, viele Details, die ganz toll sind.
Dies ist auch ein Film voller Ironie und metatextueller Kommentare, die die oberflächliche Behandlung der historischen Vorgänge kompensieren.
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Dieser Film hält in seinen besten Momenten unserer Zeit einen sehr scharfen, sehr fremden Spiegel vor: Radikales Formbewusstsein gegen die totale Formlosigkeit; Genuss gegen Puritanismus, Großzügigkeit und Menschlichkeit gegen Kleingeistigkeit und den Sansculottismus unserer Gegenwart.
»Le Bien Aimee«, den Vielgeliebten nannte man Ludwig XV. und auch, weil eben Johnny Depp diesen König spielt, sind die Parallelen sehr lustig: Ein Lebemann, ein König, der sehr viele Mätressen hat, der die Libertinage gefeiert hat, und über dessen Regime die Menschen, jedenfalls die der »besseren Kreise«, damals sagten, dass es sich um eine der glücklichsten Epochen der Menschheitsgeschichte gehandelt habe. Ludwig hat sich selbst das Leben schön gemacht, daran könnte man sich ein Beispiel nehmen. Und er hat auch dafür gesorgt, dass es seine Untertanen auch möglichst friedlich und gut hatten. Den Umständen entsprechend.
Im Film gibt es dann Momente, in denen Johnny Depp so richtig aus dem Vollen schöpft, in denen sich witzige Kontraste und Parallelen zwischen der Schauspieler-Persona und der Rolle ergeben. Hier sieht man eben auch einen Filmstar, der sich lustig macht über den Star-Betrieb und den Filmbetrieb. Der zeigt gerade auch in Cannes viele höfische Seiten.
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Alles beginnt in einer schönen idyllischen Landschaft, ein junges Mädchen wird gemalt. Männer sehen Frauen. Tja. Blöd für die Schnell-Checker, dass es sich um eine Regisseurin handelt.
Wenn nicht eine Frau das inszeniert hätte, dann würde man von einer Männerphantasie sprechen: Die Heldin ist eine Frau, die ihren Körper und ihren Geist verkauft, die alles einsetzt, um aufzusteigen, und die damit aber so gar kein Problem hat.
Die Männerphantasie wird zu einer Frauenphantasie.
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Alles ist nur Form, alles ist nur Theater, nur Performance.
Es geht hier alles um Inszenierung und alles ist große Inszenierung: Versailles selbst, der Auftritt des Königs dort und seiner Mätressen und der diversen verschiedenen Figuren bei Hofe; aber auch der Film selbst mit der Regisseurin, die auch die Hauptrolle spielt (und das zu eitel, zu überfordert) und mit Johnny Depp. Und natürlich auch die Filmfestspiele von Cannes. Insofern kann man diesen Film durchaus auch als einen Kommentar auf die Filmfestspiele begreifen.
Regisseurin und Hauptdarsteller sind für manche ein Grund, sich über den Film, und ihre Regie/Schauspielkunst zu echauffieren. Denn beide sind »umstritten«.
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»Umstritten« ist das derzeitige Codewort für »böse« und »angreifbar«. Angreifbar sind alle, die sich dem Sturm des Mainstream, dem Schwarm der Schwarmdummheit nicht fügen (wollen).
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»I can*ft do my job« jammern Einkäufer zum Auftakt im Screendaily. In Cannes herrscht Ticket-Chaos! Das schlecht funktionierende, zudem komplett überbuchte Online-Ticketing frustriert die Profi-Besucher. Es benachteiligt zudem all jene, die einfach pünktlich zum Filmstart im Kino sein wollen, aber
morgens um 7 Uhr besseres zu tun haben, als eine Stunde lang über dem Rechner zu hängen und Festivalkarten zu reservieren.
Manche Vorführungen sind dann um 7.01 Uhr ausgebucht.
Nicht wenige haben nicht mal ein einziges Ticket buchen können. Screen zitiert BFI-Mitarbeiter, die jetzt Filme online sehen müssen, wozu man nicht den Aufenthalt in Cannes bezahlt hat.
Das ganze Verfahren, das während der Pandemie etabliert, aber seitdem beibehalten wurde, weil es mehr Kontrolle durch das Festival ermöglicht, ist komplett intransparent. In vorpandemischen, vordigitalen Zeiten waren die Arbeitsbedingungen viel besser.
Das Chaos in Cannes summierte sich dann noch, weil Ticketinhaber trotzdem in den offenbar völlig überbuchten Kinos keine Plätze bekamen. Auch das kann man ausführlich bei Screen nachlesen: »Long queues formed outside the Palais du Festival for the 3pm screening of the 31-minute short in the Debussy theatre, which was followed by a Rendezvous with conversation session with Almodovar. The line stretched back to the Gare Maritime building, with patrons forced to queue in and around an open road with cars passing by. ... As well as possessing a valid ticket, many of these ticketholders had been queuing for the screening for over an hour, having arrived well within the time required for access on their tickets. ... At around 15.30, those not inside the venue were turned away regardless of whether or not they had a ticket. Patrons unable to gain access included critics from several major publications including Screen International; while some people who had been allowed into the building were subsequently removed.«
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»Die weiblichste Cannes-Ausgabe aller Zeiten« ist angekündigt. Was soll das eigentlich sein, was soll das heißen?
Zumal es zugleich in mancher Hinsicht auch die älteste Ausgabe genannt werden könnte. 68 Jahre alt, haben die Cahiers du Cinema gerade ausgerechnet, sind im Durchschnitt die männlichen Regisseure im Wettbewerb; die Frauen im Wettbewerb sind im Schnitt 48.
Schon der Eröffnungsfilm dreht sich um die Geschlechterfrage, zugleich dreht er sich auch sonst um alle möglichen, sehr aktuellen, zum Teil modischen Themen, denn man kann von diesem Film scheinbar nicht reden, ohne auf diverse Vorwürfe und Fragen der Etikette, auf die Benimmregeln heutiger Filmstars und Künstler einzugehen. Jedenfalls in Deutschland. In der ausländischen Presse habe ich all das bemühte Gewürge um Anstand und Moralfragen nicht gelesen.
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Wie ist denn das Programm zu beurteilen? Ist da die richtige Mischung aus Hollywood und Autorenkino gelungen? Cannes ist immer beides, muss immer beides sein: Spektakel und Kunst.
Am ersten Tag ist diese Frage natürlich extrem schwierig zu beantworten, denn bisher konnte man nur den Eröffnungsfilm sehen. Man kann nur über die Papierform urteilen.
Zugegeben: ich finde die Aussicht auch nicht wahnsinnig spannend, einen neuen Film von Wim Wenders zu sehen oder einen neuen Film von Aki Kaurismäki oder einen neuen Film von Ken Loach – das sind alles die Helden der 80er Jahre, vielleicht noch der 90er, also längst vergangener Zeiten. Damals war das Top of the Top, heute eher Top of the Flop.
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Zugegeben: ich freue mich schon mehr auf jüngere Namen, auf ein besseres, lebendigeres, zukünftigeres Kino, das experimenteller, auch irritierender ist und vor allem überraschender. Auf der anderen Seite heißt es ja nicht, dass wenn hier viele ältere Regisseure zu sehen sind, die alle schlechte Filme machen. Genauso wenig wie ein Film nur deswegen gut ist, weil er von einer jungen Frau stammt. Das ist alles viel zu kurz geschlossen, viel zu schlicht, so funktioniert Kino nicht
und so funktionieren schon gar nicht die Filmfestspiele von Cannes. Was man sagen kann, ist: die Mischung ist schon mal grundsätzlich ganz gut. Es sind Autorenfilme zu sehen, die sehr Verschiedenes repräsentieren.
Sonderbarerweise gibt es tatsächlich ein starkes Schwergewicht auf den 80er Jahren, nicht nur mit den erwähnten Namen, sondern auch wenn wir an Filme außer Konkurrenz denken: Almodóvar, Martin Scorsese, oder der neue Auftritt der Figur Indiana Jones.
Da muss man mal abwarten, wie diese ja nicht mehr ganz taufrischen Filmemacher dann bewertet werden. Aber Cannes inszeniert diesen Generationenkonflikt. Denn bewertet werden die Alten von Jungen. Nein, nicht deutsche Filmkritiker sind gemeint, sondern andere, wichtigere: Jury-Präsident ist Ruben Östlund, der sich auch für PCness nicht interessiert, und der auch zweimal die Goldene Palme gewonnen hat. Und Julie Ducourneau (Titane), also eine Filmemacherin, die dezidiert politisch und sehr jung ist und das Genre-Kino mag.