04.05.2023

Ein Kontinent in ganzer Farbtiefe

Atomnomaden
Eindrucksvoll und hochaktuell: Atomnomaden
(Foto: 20. Crossing Europe)

Das Linzer Filmfestival »Crossing Europe« feiert seine 20. Ausgabe

Von Katrin Hillgruber

In die elek­tro­ni­sche Musik mischt sich ein Surren und Summen, dann ist ein Ticken vernehmbar, das an einen Geiger­zähler erinnert. Vor die Silhou­ette der Kühltürme, die so bedroh­lich wie gleich­mütig in der Land­schaft stehen, schieben sich male­ri­sche Forma­tionen aus Dampf­wolken. Die Beton­ko­losse werden von weißen Wohnwagen ange­steuert, die in gehörigem Respekt parken. Amei­sen­gleich entströmen zu nacht­schla­fender Zeit die Diener der Türme: Frank­reichs soge­nannte Atom­no­maden, Leih­ar­beiter und -Arbei­te­rinnen, deren Zahl auf 33.000 geschätzt wird. Diese unsicht­bare Armee des Preka­riats hält die 56 Meiler der über­zeugten Atom­na­tion Frank­reich in Schach. Dafür pendeln die Arbeiter zwischen Orten wie Cattenom, Dampierre oder Saint Laurent, zum Teil mit ihren Familien. Haben die »Bioro­boter« im Zuge ihrer – wenn auch gutbe­zahlten – Drecks­ar­beit eine bestimmte Strah­len­dosis erreicht, werden sie ausge­tauscht und mit den gesund­heit­li­chen Folgen ihres Jobs allein­ge­lassen.

Für ihren eindrucks­vollen und hoch­ak­tu­ellen Doku­men­tar­film Atom­no­maden haben Kilian Armando Friedrich, Tizian Stromp Zargari und der Kame­ra­mann Jacob Maria Kohl, Studenten der Münchner Hoch­schule für Film und Fernsehen (HFF) im dritten Jahr, mona­te­lang selbst im Wohnwagen Frank­reich durch­kämmt. Behutsam näherten sie sich Menschen wie dem scheuen Fami­li­en­vater Jérȏme oder einem hundenär­ri­schen Paar an. Im Kontrast dazu richteten sie die Kamera mit einem stati­schen 35-Milli­meter-Objektiv auf die unbe­tret­baren Kraft­werke, wie Kohl im char­manten Linzer City-Kino erzählte.

Indem diese drei Doku­men­ta­risten eine verbor­gene euro­päi­sche Wirk­lich­keit zu Tage gefördert haben, bilden sie gleichsam die DNA des Linzer Film­fes­ti­vals Crossing Europe ab. Dieses nimmt seit seiner Gründung im Jahr 2004 durch Wolfgang Stei­ninger, damals Geschäfts­führer zweier Programm­kinos in Linz, konse­quent den gesamten Kontinent samt Ländern mit schwacher filmi­scher Infra­struktur in den Blick. Auf der anderen Seite vergisst Crossing Europe aber nie seinen oberös­ter­rei­chi­schen Anker bezie­hungs­weise Heimat­hafen an der Donau. Dieser duale Ansatz zeigt sich an der beein­dru­ckend großen Zahl einge­la­dener Produk­tionen aus Mittel- und Osteuropa, aber auch aus Armenien oder Island, und der beliebten Filmreihe »Local Artists«. Sie feiert tradi­tio­nell das Expe­ri­men­telle, stets mit Bezug zu Oberös­ter­reich. Der Leinwand-Purist Siegfried A. Fruhauf aus Grieß­kir­chen erhielt eine lobende Erwähnung für Cave Painting. Isabella Friedls Debütfilm Cloudy Memories erörtert auf berüh­rende Weise inner­fa­mi­liäre Themen wie Demenz oder den Wunsch auszu­wan­dern. Die Fragen seien wichtig, die Antworten temporär, zitierte die Filme­ma­cherin ihre 101-jährige Groß­mutter, als sie im Ursu­li­nenhof den Haupt­preis der »Compe­ti­tion Local Artists« entge­gen­nahm. Ihre Kollegin Selma Doborac, ausge­zeichnet für die Monolog-Collage De facto zur soge­nannten Vergan­gen­heits­be­wäl­ti­gung, lobt die »Konti­nuität der Beglei­tung und Werk­ent­wick­lung«, die sie vom Festival erfahren habe. Dieses begreift sich als insti­tu­tio­na­li­sierten Schub für das regionale Film­schaffen, nicht zuletzt durch die Zusam­men­ar­beit mit der Kunst­uni­ver­sität und dem Lentos-Museum, beide direkt am Donauufer gelegen. Das bringt einen 11-minütigen Kurzfilm wie 850 000 Trümmer der Erin­ne­rung von Sabrina Kern und Martin Weich­sel­baumer auf die Leinwand, eine ästhe­tisch bestri­ckende Demontage des Mythos der öster­rei­chi­schen Trüm­mer­frau. Während im Off mehr­stimmig Bitt­briefe ehema­liger Natio­nal­so­zia­lis­tinnen verlesen werden (»Ich kann nicht glauben, dass der Führer umsonst gelebt hat«), macht sich eine Schau­spie­lerin am Wiener »Trüm­mer­frauen-Denkmal« zu schaffen. Dabei trägt sie einen Catsuit, der exakt in der beige-bläu­li­chen Maserung des Denkmal-Steins gehalten ist.

Wie bei der »Viennale« und der »Grazer Diagonale« ist bei Öster­reichs drittem großen Film­fes­tival eine landes­ty­pi­sche unbe­dingte Liebe zum Kino zu spüren, eine ausge­prägte und mitreißende Neugier auf Unbe­kanntes. »Europa, wir müssen reden!«, hatte sich die 20. Jubiläums­aus­gabe von Crossing Europe vorge­nommen – und alle Prospekte, Tüten und Schau­fenster der früh­lings­fri­schen Linzer Innen­stadt rund um den barocken Haupt­platz in dunkles Magen­ta­pink getaucht. Zwei »Anni­ver­sary Pic(k)s« verdeut­lichten wiederum den zwei­fa­chen Ansatz: Eröff­nungs­film des ersten Festivals war Über eine Straße, den Edith Stauber und Michaela Mair 2003 über die viel­be­fah­rene Linzer Dametz­straße drehten. Heute noch imponiert die Nähe dieses zeit­ge­schicht­li­chen Dokuments zu seinen Prot­ago­nisten, sei es auf dem Zollamt, beim Loblied auf eine west­fä­li­sche Wasch­ma­schine, das in einer Behin­derten-WG ange­stimmt wird, oder im multi­na­tio­nalen Handyshop, was die Behaup­tung vom »reinen Öster­reich« widerlege, wie ein Zuschauer meinte.

Ebenfalls anläss­lich des Jubiläums wieder­holt wurde der Omnibus-Film Lost and Found. Dazu hatte Crossing Europe vor zwanzig Jahren, kurz vor dem eupho­risch erwar­teten EU-Beitritt mehrerer ost- und südo­st­eu­ro­päi­scher Länder, Regie­ta­lente wie den Rumänen Cristian Mungiu, die Bulgarin Nadejda Koseva oder den Serben Stefan Arseni­jević einge­laden. Der Blick nach Osteuropa sei nach wie vor unter­re­prä­sen­tiert, meinte Sabine Gebets­roi­ther: »Aufgabe unseres Festivals ist es, diese Film­kul­turen zu präsen­tieren.« Eine der schönsten Stellen in diesem farb­tiefen 35-Milli­meter-Film ist die, in der in Mungius Episode »Turkey Girl« ein heimlich vor dem Schlachter geret­teter zahmer Truthahn seiner Besit­zerin unver­mutet wieder vor die Füße flattert, und zwar vor dem gigan­ti­schen Ceauṣescu-Palast in Bukarest.

Die seit einem Jahr amtie­renden Festi­val­lei­te­rinnen Katharina Riedler und Sabine Gebets­roi­ther konnten 16.000 Besu­che­rinnen und Besucher in den sechs betei­ligten Innen­stadt-Kinos begrüßen, deutlich mehr als im noch von Corona verun­si­cherten Vorjahr. Das Publikum verteilte sich auf 139 Spiel-, Doku­mentar- und Expe­ri­men­tal­filme aus 45 Ländern, deren Sprachen aller­dings wie so oft von dem ubiqui­tären, leider viele Diskus­sionen verfla­chenden Flughafen-Englisch über­la­gert wurden. Das zeigte sich exem­pla­risch bei der Diskus­sion »Das Unzeig­bare zeigen«, die auf den zutiefst erschüt­ternden ukrai­ni­schen Doku­men­tar­film Shidniy front (Eastern Front) folgte. Darin ist unter anderem ein ster­bender Soldat im Rettungs­wagen zu sehen, gedreht von Yevhen Titarenko, der sich einem ukrai­ni­schen Sani­täts­ba­taillon ange­schlossen hat. Co-Regisseur ist der renom­mierte Vitaly Mansky, 1963 in Lwiw geboren, aber bis zu seiner Emigra­tion nach Riga in Russland ansässig. Auf Russisch las er nun dem ach so verständ­nis­vollen Westen die Leviten. Nach einer Vorfüh­rung sei er einmal gefragt worden: »Wir helfen doch schon der Ukraine. Warum zeigen Sie uns dieses Inferno?« Ein Film über den der Ukraine aufge­zwun­genen Über­le­bens­kampf müsse all dessen Dreck und Eiter, aber auch das Leid der unbe­tei­ligten Tiere zeigen, so Mansky: »Im Krieg gibt es keine Heiligen.«

An die bedrü­ckenden Bilder von Butscha und anderen Massen­grä­bern in der Ukraine lässt unwill­kür­lich Jan Baum­gart­ners Doku­men­tar­film The DNA of Dignity denken. Der 35-jährige Berner hat eine zweite Heimat in Sarajewo gefunden. In Bosnien gelten nach dem 1999 beendeten Balkan­krieg immer noch rund 11.000 Menschen als vermisst. Baum­gartner zeigt in ruhigen, Respekt und Würde vermit­telnden Einstel­lungen die Arbeit des örtlichen Teams der »Inter­na­tio­nalen Kommis­sion für vermisste Personen« (ICMP). Die Gerichts­me­di­zi­nerin Dragana und ihre Kollegen sortieren mit Hingabe aufge­fun­dene Knochen, Zähne und persön­liche Gegen­s­tände, um die Identität der Toten fest­zu­stellen. Ange­sichts der Schönheit des mensch­li­chen Skeletts erscheint es umso unver­ständ­li­cher, was Menschen sich unter­ein­ander antun. Beinahe meditativ geraten die Aufnahmen der bosni­schen Land­schaft von einem Kran aus (Kamera: Lukas Nicolaus). Sie meide Spazier­gänge im Wald, sagt die Mutter zweier vermisster Söhne, da sie die Land­schaft als Komplizin des Verges­sens empfinde.

Wie Atom­no­maden gewährt Jan Baum­gart­ners Film Einblicke in eine schwer zugäng­liche Welt. Allen zugäng­lich war hingegen die öffent­liche Biblio­thek im Zentrum Birming­hams, bis sie trotz Protesten abge­rissen wurde. Dem bruta­lis­ti­schen Beton­pa­last von John Madin setzt Andy Howlett mit Paradise Lost: History in the Unmaking ein fein­sin­niges essay­is­ti­sches Denkmal. Die Biblio­thek sehe aus, als ob dort Bücher verbrannt, aber nicht aufbe­wahrt würden, zitiert Howlett ein Bonmot von Prinz Charles. Und tritt den Beweis an, dass rund um das erra­ti­sche Bauwerk in Form einer auf den Kopf gestellten Stufen­py­ra­mide (»ziggurat«) allerhand öffent­li­cher Raum war, dessen Benutzung nichts kostete. Das sei im post­ka­pi­ta­lis­ti­schen Birmingham mit seiner neurei­chen Glitter-Archi­tektur und dem Stadt­motto »Forward« nicht vorge­sehen, so das ernüch­ternde Fazit. Zu erleben war dieses kultur­ge­schicht­liche Kleinod in der Linzer Reihe »Archi­tektur und Gesell­schaft«.

Sozi­al­kri­ti­sche Themen domi­nierten das Festival, auch bei den Wett­be­werbs­sie­gern. Der Spielfilm Petites (Little Ones) von Julie Lerat-Gersant führt in ein fran­zö­si­sches Heim für minder­jäh­rige Mütter, zwischen denen es erwar­tungs­gemäß schroff bis warm­herzig zugeht. Den Haupt­preis in der Kategorie »Best Fiction Film« gewann Damian Kocurs Chleb i sól (Bread and Salt), dem Münchner Publikum eventuell schon durch das »Mittel­punkt Europa Filmfest« vom März bekannt. Das sensible Provinz­drama rund um plötzlich aufkei­mende Frem­den­feind­lich­keit wird von den Laien­dar­stel­lern Tymoteusz und Jacek Bies getragen. Ebenfalls nach Polen ging der Preis für den besten Doku­men­tar­film: Silent Love von Marek Koza­lie­wicz. Er beob­achtet eindring­lich Aga, die nach dem Tod ihrer Mutter in die Provinz zurück­kehrt, um ihren halb­wüch­sigen Bruder groß­zu­ziehen. Vom Tanz­lehrer zu »männ­li­chem Benehmen« ange­halten, reagiert der 14-Jährige zunächst irritiert, als die offen lesbische Freundin seiner Schwester bei ihnen einzieht. In einem streng katho­li­schen bis reak­ti­onären Umfeld raufen sich die drei zu einer unge­wöhn­li­chen Familie zusammen, mit offenem Ausgang. In Roberta Torres Le favolose (The fabulous ones) beklagt eine Runde von Trans-Diven im Anklei­de­zimmer mit herrlich italie­ni­schem Pathos ihr Schicksal zwischen Gewalt­er­fah­rung auf dem Strich und verlet­zender Verleug­nung durch die Familie. Allein, die gute Absicht macht noch keinen guten Film.

So viel harte Wirk­lich­keit ruft nach filmi­schen Fluchten in die Phantasie, zumindest späta­bends. Wann werden Fami­li­en­fotos zu Waisen­bil­dern, fragt sich Jan Peters in seinem erqui­ckend redse­ligen Film-Essay Eigent­lich eigent­lich Januar, der auch beim Münchner DOK.fest läuft. Am schönsten zum Jubiläums-Magenta von »Crossing Europe« passte das hyste­ri­sche Mutter-Sohn-Drama La Piedad von Eduardo Casanova, eine spanisch-argen­ti­ni­sche Kopro­duk­tion. Ihre Prot­ago­nisten huschen in rosa Seiden­ge­wän­dern über schwarz­weiß­ge­ma­serte Marmor­böden, zu sehen in der von Markus Keusch­nigg kura­tierten Reihe »Nacht­sicht«, einer weiteren Inspi­ra­tion dieses Film­fes­ti­vals, das Europa wahrlich zu feiern versteht.