30.03.2023

Mitten im Zentrum

Black Night
Berauschende Bilder, bitterböse Geschichte: Black Night (Copyright)
(Foto: Türkische Filmtage München | ArtHood Entertainment)

Die 34. Türkischen Filmtage München feiern ihre Rückkehr ins Herz der Landeshauptstadt – mit einem Programm, das ganz wohlvertraut vor zentralen Fragen der menschlichen Existenz nicht zurückschreckt

Von Sedat Aslan

Auch wenn der Umbau des Gasteigs mit mehr Frage­zei­chen als je zuvor versehen ist, kann sich das Team vom Sine­maTürk Film­zen­trum darüber freuen, mit den Türki­schen Filmtagen wieder da ange­kommen zu sein, wo es hingehört: Zum ersten Mal seit der 30. Festi­val­aus­gabe im Jahre 2019, der abgesagte, rein online abge­hal­tene oder ins HP8 ausge­la­gerte Editionen folgten, ist die kura­tierte Schau des türki­schen Kinos zurück im Zentrum der Stadt. Anders als das DOK.fest wird das Event nicht in hybrider Form fort­ge­führt: das altehr­wür­dige Rottmann-Kino – eine ehemalige Stamm­s­tätte für das einst soge­nannte »Gast­ar­bei­ter­kino« – ist Hauptab­spielstätte.

Klar umrissen ist die Programm­struktur – der Tag nach der Eröffnung ist als »Rainbow Friday« dekla­riert und wartet neben drei Lang­filmen mit einer Podi­ums­dis­kus­sion zum Thema LGBTQ+ im türki­schen Kino auf. Am Sonntag laufen neben einem empfeh­lens­werten Kurz­film­pro­gramm drei Filme, die der Perspek­tive von Frauen gewidmet und allesamt auch von Frauen insze­niert sind. Alles dazwi­schen ist am Samstag zu sehen, der mit »Filme großer Meister« umschrieben ist; dies sind dann auch die visuell beein­dru­ckendsten und thema­tisch ausge­fal­lensten der dies­jäh­rigen Selektion. Man ist hier gewis­ser­maßen mitten im Zentrum des zeit­genös­si­schen türki­schen Kinos, und ohne zu über­treiben lässt sich sagen, dass dieser Quer­schnitt aus zehn Lang- und fünf Kurz­filmen deutlich inter­es­santer und viel­fäl­tiger ist als das, was man vor ein paar Wochen in Berlin vom deutschen Kino zu sehen bekam.

Zur feier­li­chen Eröffnung an diesem Donners­tag­abend, die ausnahms­weise im Rio Film­pa­last statt­findet, wird das Filmteam von Once Upon a Time in the Future: 2121 anwesend sein. In der Sci-Fi-Gesell­schafts­sa­tire von Serpil Altın leben die klima­ka­ta­stro­phen­ge­beu­telten Menschen der Zukunft im Unter­grund. Weil die Ressourcen knapp sind, muss für jeden neuen Menschen ein alter Mensch gehen. Die Oma opfern für das Neuge­bo­rene? Diese perfide Frage stellt sich einer Familie. Die filmische Dystopie verspricht mehr, als sie letztlich halten kann, und der klaus­tro­pho­bi­sche Effekt, den das keller­um­wölbte Kammer­spiel hervor­ruft, ist auf Dauer, gelinde gesagt, nicht besonders produktiv, doch immerhin darf man sich auf an- und aufge­regte Diskus­sionen nach dem Film freuen, den Stoff dafür liefert er durchaus.

Ein besserer Eröff­nungs­film wäre der dies­jäh­rige türkische Oscar-Beitrag Kerr von Tayfun Pirse­li­moğlu gewesen, eine Kopro­duk­tion mit Grie­chen­land und Frank­reich, in der der Prot­ago­nist Can, wie aus einer Kafka-Erzählung entsprungen, rastlos durch unwirt­liche mono­chrome Land­schaften in seinem Heimat­dorf umherirrt, auf der Suche nach einem Mörder. Er rennt stoisch gegen die Türen des Gesetzes, heißt: die Gesetze des Staates, aber auch die der dörf­li­chen Gemein­schaft, bis es zu einer finalen Konfron­ta­tion mit seinen eigenen unter­be­wussten Ängsten kommt. Über diese meta­pho­ri­sche Erzähl­welt schafft es Pirse­li­moğlu in der Adaption seines eigenen Romans, den Grad der Korrupt­heit der türki­schen Gesell­schaft als auch gesell­schaft­liche Ausnah­me­zu­stände wie die Corona-Pandemie zu behandeln, ohne sie konkret zu benennen. Der Haupt­dar­steller Erdem Şenocak wird zum Screening erwartet.

Ebenso kann Black Night über­zeugen, in dem Özcan Alper in berau­schenden Bildern eine bitter­böse Geschichte über Schuld und Sühne erzählt: Ishak kommt von der Stadt zurück aufs Land, um seine sterbende Mutter zu begleiten. Dabei wird er mit einer längst vergessen schei­nenden Bluttat konfron­tiert, die er bloßlegen und sich seiner Verant­wor­tung dafür endgültig stellen möchte. Der Komplex um Indi­vi­duen in verschlos­senen Gemein­schaften sowie die (oftmals unter­drückten) homo­ero­ti­schen Erzähl­ele­mente zeigen sich in den meisten der Festi­val­filme, was trotz der ästhe­ti­schen Vielfalt mitver­ant­wort­lich für den Eindruck einer thema­ti­schen Homo­ge­nität ist. Nur zu Recht bekam Black Night den Haupt­preis in Antalya und, unlängst beim Film­fes­tival Türkei Deutsch­land in Nürnberg, den Darstel­ler­preis für Berkay Ateş.

Nicht unerwähnt bleiben soll das Special Screening am Montag direkt im Anschluss, wenn der hoch­ge­lobte Polit­thriller Burning Days von Emin Alper, der beim letzt­jäh­rigen Festival du Cannes Premiere feierte und in der Vorauswahl für den Europäi­schen Filmpreis ist, in Anwe­sen­heit des Darstel­lers Erdem Şenocak in den City-Kinos läuft.

Die Doku­men­tar­filme des Festivals sind gesondert zu würdigen, denn wie es gute Praxis bei den Türki­schen Filmtagen ist, sind das die viel­leicht stärksten Beiträge. This Is Not Me zeigt glei­cher­maßen zärtlich wie scho­nungslos, wie es um den Status Homo­se­xu­eller in der modernen Türkei bestellt ist. Mustafa hat sich vor Jahren entschlossen, anders als sein Partner Mehmet, der Frau und Kinder hat, einer Lebens­lüge zu entfliehen, und geht nach Istanbul, wo er – im Vergleich zur rest­li­chen Türkei – relativ offen seine Neigungen ausleben und zu ihnen stehen kann. Mehmet hingegen, der es vorzieht, vor der Kamera sein Gesicht nicht zu zeigen, möchte Mehmet bei sich in Samsun wissen. Ein unlösbar schei­nender Konflikt, über den eine Vielzahl an aktuellen gesell­schafts­po­li­ti­schen Themen verhan­delt wird, ohne dass die Regis­seu­rinnen Jeyan Kader Gülşen und Zekiye Kaçak – beide beim Screening anwesend – den Menschen aus den Augen verlieren. Hier trifft auch das gerne gebrauchte Wort des Hand­lungs­ortes als zusätz­li­cher Prot­ago­nist zu, ist Istanbul (vor allem der liberale Stadtteil Beyoğlu) doch Kata­ly­sator für Mustafas persön­liche Entwick­lung, aber auch die der gesamten Türkei, und illus­triert gleich­zeitig den Blick auf seine innere wie äußere Lebens­welt.

Wer glaubt, von der Inhalts­be­schrei­bung allein wie selbst­ver­s­tänd­lich auf Inhalt und Ästhetik eines Films schließen zu können, wird durch Witch Trilogy 15+ eines Besseren belehrt. Zwei Frauen, die beide jeweils den gewalt­tä­tigen Ehemann getötet haben und dafür im Gefängnis sitzen, erzählen ihre Geschichte. Wer mani­pu­la­tiven und mora­lin­sauren Konsens­krampf befürchtet, wird vom Film völlig verblüfft und mitge­rissen werden. Die Regis­seurin Ceylan Özgün Özçelik macht nämlich eine Tugend aus der Not: die Verwei­ge­rung der türki­schen Behörden von jeglichen Inter­views mit den Prot­ago­nis­tinnen zwingt sie dazu, eigene Bilder für das nur schwer zu Bebil­dernde zu finden. Der gespro­chene Off-Ton entstammt längerer Brief­wechsel, die sie mit den Frauen geführt hat und von Schau­spie­le­rinnen inter­pre­tieren lässt (was sie am Schluss offenlegt). Ihre heraus­ra­gende künst­le­ri­sche Leistung liegt vor allem in der Montage des asso­zia­tiven und frag­men­ta­ri­schen Bild­ma­te­rials und im ausdrucks­starken Sound­de­sign, das sich mit den ausge­wählten Erin­ne­rungen und Refle­xionen kongenial zu einem kraft­vollen Manifest gegen Unrecht und Unter­drü­ckung fügt – beileibe nicht nur im häus­li­chen Umfeld, sondern auch mitten im Zentrum des türki­schen Staats- und Gemein­we­sens.

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34. Türkische Filmtage | 30.03.– 02.04.2023

Eröffnung im Rio Film­pa­last
Rosen­heimer Str. 46, 81669 München | 30.03.2023

Festival im Neuen Rottmann
Rott­mannstr. 15, 80333 München | 31.03. – 02.04.2023

Special Screening in den City Kinos
Sonnenstr. 12, 80331 München | 03.04.2023

Einzel­ti­cket: 11,- € / erm. 10,- €
5er-Ticket (nur Neues Rottmann): 45,- €
Podi­ums­dis­kus­sion am 01.04.:  Eintritt frei
An den Kino­kassen wird es Spen­den­boxen für die Erdbe­ben­opfer geben.