09.02.2023

Filme mit und ohne Patina

IFFR | Philip Sotnychenko, La Palisiada
Der Muff der Gardinen: La Palisiada
(Foto: IFFR | Philip Sotnychenko, La Palisiada)

Tiger in Rotterdam: Das 51. Filmfestival IFFR zeigte im Wettbewerb disparates, medienbewusstes Kino

Von Dunja Bialas

Als Rotterdam 2020 seine letzte physische, »in person«-Edition abschloss, war die Zukunft noch eine andere. Die Festi­val­ma­cherin und inter­na­tional erfahrene Programm­erin Vanja Kalud­jercic war gerade ange­treten, die Ausgabe war noch von der Hand­schrift ihres Vorgän­gers geprägt. Der nieder­län­di­sche Film­pro­du­zent Bero Beyer hatte das Festival für das heimische Publikum ausge­richtet, wodurch es zunehmend schwierig wurde, englisch, nicht nieder­län­disch unter­ti­telte Vorfüh­rungen der großen Filme zu finden. Damit hatte er wohl auch dem Druck des nieder­län­di­schen Verleih- und Kino­marktes nach­ge­geben, aus Rotterdam ein »Preview«-Festival zu machen, wie er auch mit der Einrich­tung der Online-Streaming-Plattform »IFFR Unleashed« 2018 das Festi­val­pro­gramm breiter bekannt machen wollte.

Das Prekariat der Festi­val­ar­beit

Die neue Festi­val­lei­terin Vanja Kalud­jercic hat nun nach zwei Ausgaben, die nur online statt­finden konnten, eine tief­ge­hende Verän­de­rung des Festivals herbei­ge­führt. Im Sommer letzten Jahres wurde bekannt, dass sie das gesamte Film­aus­wahl­team vor die Tür gesetzt hat. Ohne Skrupel und ohne Gnaden­brote zu verteilen. Die Branche war alarmiert, vor allem auch wegen der sich mani­fes­tie­renden perkären Situation der Festi­val­ar­beiter*innen, die teilweise seit Jahr­zehnten für Rotterdam tätig gewesen waren – was sich natürlich auch auf andere Festivals, wenn nicht sogar auf den Festi­val­zirkus insgesamt über­tragen lässt.
Auf künst­le­risch-kura­to­ri­scher Ebene will Kalud­jercic unbedingt einen Neubeginn signa­li­sieren, mit einem inter­na­tional aufge­stellten Kura­to­ren­team. Bekannte Namen sind darunter, wie Olaf Möller, der bereits zuvor für Rotterdam Film­pro­gramme konzi­piert hatte (er verant­wortet die Retro-Reihe »Cinema Regained«) und jetzt auch für den deutsch­spra­chigen Film zuständig ist. Oder Olivier Pierre, den man vom FID Marseille kennt, er ist nun für die fran­zö­sisch­spra­chigen Filme zuständig. Auch Rebecca Depas kennt man bereits aus Marseille und Nyon, sie sucht nun für Rotterdam nach Filmen aus Italien, Spanien und Portugal. Schließ­lich die Kana­dierin Michelle Carey, die zuvor beim Berlinale Talent Campus war, sie ist nun für den englisch­spra­chigen Raum verant­wort­lich. (Hier die ganze Namens­liste.)

Flatness der Tiefen­struktur

Trotz dieser Verän­de­rungen in der Tiefen­struktur des Festivals aber blieb die Ober­fläche gleich. Rotterdam unter­glie­dert sich immer noch in Sektionen mit meta­pho­risch-kryp­ti­schen Reihen­ti­teln. Da sind die drei Wett­be­werbs­pro­gramme mit Welt­pre­mieren: In der Tiger Compe­ti­tion (lang & kurz) laufen erste und zweite Filmen von Nach­wuchs­re­gis­seuren, die »diverse« Big Screen Compe­ti­tion will eine Brücke schlagen zwischen populärem, klas­si­schem und Arthouse-Kino, so heißt es zumindest im Katalog – was immer das genau heißen mag. Hier bestimmt eine Publi­kums­jury den Preis, in den anderen Sektionen Fachjurys.

Dann gibt es die große Sektion »Regular Programmes« mit sechs Unter­sek­tionen: Bright Future (Debüt­filme mit einem »origi­nellen Thema und einem indi­vi­du­ellen Stil«), Cinema Regained, Harbour (größere Namen, die für eine andere Art des Kinos stehen), Limelight mit Previews und Best of Festivals, RTM (die Regio­nal­sek­tion), Short & Mid-length (der ganze andere Rest).

Auch das Spektrum der präsen­tierten Filme fühlte sich vertraut an: Vom expe­ri­mental-poli­ti­schen Kino des Phil­ip­pinen Khavn de la Cruz, der mit National Anarchist: Lino Brocka einen Kompi­la­ti­ons­film zum Meister des phil­ip­pi­ni­schen Melo­dra­ma­ti­kers und Kino-Akti­visten schuf, über »Sequels« großer Rotter­damer Erfolgs­filme, wie Laura Citar­ellas Vier­stun­den­film Trenque Lauquen aus Argen­ti­nien, der die laby­rin­thi­sche Erzähl­weise von La Flor wieder­holt (und einen immensen Sog entwi­ckelt, Citarella ist die La Flor-Produ­zentin), bis hin zu etablierten, dennoch kaum bekannten Größen wie dem Franzosen Guillaume Nicloux, der mit La tour eine toll horri­fi­zie­rende Lockdown-Apoka­lypse zeigte.

Kaum bekannte Namen für ein großes Publikum also, und dennoch waren viele Vorstel­lungen ausver­kauft. Rotterdam war ein Erfolg fürs Kino, keine Frage.

Medi­en­re­flekte und -refle­xionen im Tiger-Award

Der Tiger-Award ist als Newcomer-Sektion von Haus aus eine Versamm­lung Unbe­kannter. Neben der teilweise irri­tie­renden Hete­ro­ge­nität der Filme ließ sich aber ein Interesse der Kuratoren am Reflek­tieren von Media­lität ableiten. Unter den Filmen gab es erwart­bare, cinephile 16mm-Nostalgie, in Form von Naomi Uman Three Sparks. Die mexi­ka­nisch-ameri­ka­ni­sche Expe­ri­men­tal­film­künst­lerin fantas­tiert mithilfe ihrer Bolex eine Ethno­gra­phie im Hinter­land Albaniens herbei, ausgehend vom »Kanun«, dem mittel­al­ter­li­chen Regelwerk für das Zusam­men­leben in Gesell­schaft. Es setzte sich als patri­ar­chales Gewohn­heits­recht durch, mit erstaun­li­chen Schlupf­löchern für unver­hei­ra­tete Frauen, denen ähnliche Rechte wie den Männern zuge­standen wurden. Das Korn des Film­ma­te­rials und die Reinsze­nie­rungen von vermeint­lich histo­ri­schen Situa­tionen, unter­bro­chen von Kanun-Zitaten, machen einen großen Reiz des Films aus. In der zweiten, übermäßig langen Hälfte jedoch dominiert leider ein digital gedrehtes Making-Off, das nicht nur die nost­al­gi­sche Medien-Illusion zerstört.

100 Seasons des schwe­di­schen Choreo­grafen Giovanni Bucchieri wandte sich dem neueren Medium des Videos als Aufschrei­be­system zu. Der Film ist eine Auto­fik­tion, die Bucchieri aus seinem privaten Archiv mittels Video­auf­nahmen aus seiner frühen Erwach­se­nen­zeit inklusive Suche nach der ersten Liebe und dem Einge­ständnis seiner Depres­sion kombi­niert. In vielen Szenen über­la­gert Bucchieri die Zeit­ebenen, proji­ziert in seinem Wohn­zimmer die Hi8-Aufnahmen mit seiner Freundin auf ein aufgehängtes Bettlaken. Als er schließ­lich seinen Tod und Begräbnis imagi­niert, bricht er das Blättern im Tagebuch auf und öffnet sich der Fiktion. Im weiteren zeigt sich die Waghal­sig­keit, Therapie in Kunst umzu­setzen.

Thema­tisch war Nummer achttien ein Echo zu 100 Seasons: der nieder­län­di­sche Künstler Guido van der Werve rekon­stru­iert und begleitet seine Rekon­va­les­zenz nach einem schweren Fahr­rad­un­fall, mit einer humor­vollen Luzidität und deko­ra­tiven Detail­ver­liebt­heit, wie man sie öfters im nieder­län­di­schen Film antrifft. Bei beiden Filme­ma­chern aller­dings ist nicht sicher, dass sie ihren Weg weiterhin in der Filmregie suchen werden.

Home-Movies-High­lights

Unmit­telbar in der Fiktion beginnt hingegen der gleich­falls auto­fik­tional lesbare New Strains. Das New Yorker Filme­ma­cher­paar Artemis Shaw und Prashanth Kamal­a­kanthan sind auch im echten Leben ein Paar, in ihrem gemein­samen Lang­film­debüt fiktio­na­li­sieren sie sich zur pande­mi­schen Lock­down­zeit in eine Film­hand­lung. Kamal­a­kanthan zeigt sich als übel­ge­launter, eifer­süch­tiger und lang­wei­liger Partner von Shaw, die es immer wieder hinaus­zieht zu Spazier­gängen und viel­deu­tigen Begeg­nungen mit Fremden. Gefilmt mit einer Video­ka­mera, offenbart der Film in Home-Video-Ästhetik das allmäh­liche Irre­werden zwischen Einge­schlos­sen­sein, Desin­fek­ti­ons­mit­teln und der Suche nach einem Mund­schutz. Der Film ist Inde­pen­dent und Mumb­le­core, mit dem wahn­wit­zigen Touch, sich selbst keines­falls ernst­zu­nehmen. Eine Fort­set­zung ist schon geplant: New Stains soll vom (imagi­nierten) Leben mit einem Säugling handeln. (Website von Artemis Shaw)

Auch zu diesem Film gibt es ein Echo: Lukas Nathraths Falsche-Freunde-Film Letzter Abend, der gerade auf dem Saar­brü­cker Film­fes­tival Max Ophüls Preis für die Beste Regie ausge­zeichnet wurde. Der Pseudo-Mumb­le­core zeigt ein bisschen zu gewollt und ein wenig zu sche­ma­tisch das Desaster eines verpatzten »Last Supper«, mit über­zeich­neten Figuren und einer grund­le­genden Hilf­lo­sig­keit für die filmische Darstel­lung von Depres­sion.
Das Produk­ti­ons­land Deutsch­land schlug Festi­val­lei­terin Kalud­jercic in einem Interview mit Screen­daily bezeich­nen­der­weise den unter­re­prä­sen­tierten Film­län­dern zu: »And while Germany produces a lot of films, it’s nice to have a German compe­ti­tion entry as it doesn’t happen so often. The goal and the direction is to bring in new voices from terri­to­ries who don’t so frequently get a spot.«

VHS spielt im Gewin­ner­film des FIPRESCI Awards La Palisiada eine große Rolle, dem zwei­fellos besten und viel­schich­tigsten Film des Tiger-Wett­be­werbs. Der ukrai­ni­sche Regisseur Philip Sotny­chenko fügt hier zwei disparate Ereig­nisse zusammen. Der Film beginnt mit einem Knall, der Erschießung eines jungen Mannes durch seine Mutter. Er hatte sich zu sehr in Rage geredet ange­sichts der Stoff­tiere und Deko­kissen, die in der elter­li­chen Wohnung eine subtile Diktatur über­nommen haben, es ist ein ausge­feilter poli­ti­scher Rede­schwall, der sich im Licht der Schlaf­zim­mer­lampe ausbreitet und über die Mutter ergießt, die gerade wie eine akkurate Jeanne Dielman das Bett zum Schla­fen­gehen bereiten wollte. Mit dem Schuss macht der Film einen Sprung aus der Gegenwart zurück ins Jahr 1996. Die Jahres­zahl markiert fünf Jahre Unab­hän­gig­keit der Ukraine, fünf Jahre Auflösung der ehema­ligen Sowjet­macht in die Natio­nal­staaten, und das letzte Jahr des ersten Tsche­tsche­ni­en­krieges (1994-96), ein früher Krieg Russlands mit den post­so­wje­ti­schen Staaten, dem schon ein Krieg mit Trans­nis­trien (1992) voran­ge­gangen war, dem ein zweiter Tsche­tsche­ni­en­krieg (1999-2009) folgen sollte und ein Krieg mit Georgien (2008) – und dies alles vor dem Ukrai­ne­krieg (2014 / 2022).

Sotny­chenko fährt im Zoom an die zurück­lie­gende Zeit heran, auch ganz wörtlich. Durch­ge­hend in VHS-Ästhetik gefilmt, etabliert er einen brüchigen Vintage-Erin­ne­rungs­stil durch unruhige Zoom­fahrten auf teilweise unver­s­tänd­liche Situa­tionen, akzen­tu­iert die Patina bräunlich-grauer, post­so­wje­ti­scher Wohn- und Sitzungs­zimmer, überboten von einem Video-im-Film, das die brutale Verhaf­tung einer Reihe von Männern doku­men­tiert. Ihnen wird später der Prozess gemacht, mit einer zweiten, finalen Erschießung. »La palisiada«, so heißt es einmal in diesem bewusst undurch­schau­baren, anspie­lungs­rei­chen, trotz der Ästhetik wenig nost­al­gi­schen und zugleich wütenden und verspielten Film, sei eine rheto­ri­sche Figur der Wieder­ho­lung. Hier steigt in der Wieder­ho­lung die post­so­wje­ti­sche Ära wieder auf, als unver­s­tänd­liche, weil nicht versteh­bare Fratze der Geschichte, die nur ein Vorbote für Kommendes, ebenso Undurch­schau­bares ist.

Mit Gagaland der jungen Chinesin Teng Yuhan schließ­lich schloss der Tiger-Award an die sinn­ent­leerten Kultur­prak­tiken der Gene­ra­tion Z an, der bei all seiner redun­danten Nervigkeit auf der Meta-Ebene durchaus inter­es­sant war. In TikToks wird hier der Gaga getanzt, bis einem die Sinne durch­drehen, es geht um die Befreiung der Körper.
Als perfider Befrei­ungs­schlag einer politisch und körper­lich still­ge­stellten Gene­ra­tion ist der Video-Sampel-Film ein Hammer, durchaus mit Nach­ah­mungs­po­ten­tial.

Die Autorin war Mitglied der FIPRESCI-Jury.