Willkommen in der echten Welt |
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Tiger in Rotterdam: das Symbol des IFFR ist in der Stadt allgegenwärtig | ||
(Foto: privat) |
Von Dunja Bialas
»96«, sagt die Schaffnerin. Das ist die wie eine Beschwörungsformel herausgepresste magische Zahl unserer Verspätung. In Minuten. In Stunden: eineinhalb. Es geht mit dem Nachtzug nach Rotterdam, auf das Filmfestival, das – genauso wie ich – auf Nachhaltigkeit und Klimaverträglichkeit setzt. Also dann mal wieder Nightjet, das erste Mal seit über zwanzig Jahren. Es hat sich nichts verändert, außer dass die Schaffnerinnen melancholischer geworden sind. Während draußen die geduckten Häuser immer dunkler und backsteiniger werden, versuche ich, mich im WLAN-freien Zug auf den Besuch des Festivals in der winddurchzogenen Hafenstadt vorzubereiten. Zuletzt war ich vor drei Jahren dort, es war eine andere Zeit. Im vollgepackten Flugzeug zurück von Amsterdam traf ich damals auf eine Delegation von Chinesen, es war der Vorabend von Corona. Ich vertraute allen, alle trugen Mundschutz. Früher sagte ich noch »Maske«.
Dann zwei Jahre Pause mit dem großen Festival in Rotterdam, das vor allem mit dem wichtigen »Tiger«-Wettbewerb aufwartet, einer Reihe mit angriffslustigen und formenstarken, erwartbar unkonventionellen ersten und zweiten Filmen. Die Tiger-Symbolik wiederum verdankt Rotterdam den chinesischen Einflüssen, über den Schiffs-Handel haben sich seit Jahrhunderten die Chinesen in der Stadt niedergelassen. Kaum irgendwo kann man so schön Chinesisch-Neujahr feiern wie in Rotterdam.
Angeblich aber habe man sich unter gewissen Fachleuten dieses Jahr darauf verständigt, nicht zum Festival zu fahren, aus Solidarität mit dem letztes Jahr in einer beispiellosen Aktion in Gänze gefeuerten Programmer-Team, die teils über Jahrzehnte für das seit 1972 bestehende Rotterdamer Filmfestival gearbeitet haben.
Andererseits ist dies nur eine weitere übliche Aktion von neuen Festivalschefs, sich der alten Garde zu entledigen und neue Leute mitzubringen, die für frischen Wind und vielleicht auch neuen Filmgeschmack sorgen. Die neue Festivalleiterin Vanja Kaludjercic übernahm im Corona-Jahr 2019 von Bero Beyer (der noch die letzte präpandemische Ausgabe verantwortete). Sie hat für das Human Rights Film Festival in Zagreb gearbeitet, in Paris in einer Co-Produktions-Firma und beim Les Arcs European Film Festival in den französischen Alpen, von wo aus sie das Paris Coproduction Village gründete. Dazu kamen Stationen in Hongkong und beim CPH: DOX Festival in Kopenhagen als Programmerin, das Cinéma du Réel in Paris und schließlich neun Jahre das Sarajevo Film Festival, bevor sie in die Niederlande ging, als Chefin des Holland Film Meeting. Eine Karriere wie gemalt für das Filmfestival Rotterdam mit vielen Filmformaten und angeschlossenem Markt.
Kaludjercics erstes Jahr war Corona 1, online, dann kam Corona 2, ebenfalls online. Corona 1, ausgerechnet die 50. Ausgabe, hielt sich noch aufrecht, garniert von neu erwachtem Digital- und Streaming-Pioniergeist und einem trotzigen Festhalten an alten Traditionen. Man spielte vor jedem Film den Rotterdam-Jingle ab, als säße man im Kinosaal. Erhebend, als der wie ein am Nachthimmel aufgehende Tigerkopf zwar nicht auf der Leinwand, dafür doch zuhause am Laptop erschien. Das war perfekte Rotterdam-Illusion. Kaludjercic hatte sich für weniger Filme entschieden, das verschlankte Programm tat gut und gab dem Tiger-Award erstmals volle Aufmerksamkeit.
Dann das Jahr 2 von Corona. Kurzfristig wurde das physische Festival abgesagt, Journalisten wieder ausgeladen. Müdigkeit kam auf, bei den Festivalmachern, bei den Zuschauer*innen vor den Bildschirmen. Kein Jingle mehr. Keine gespannte Aufregung mehr, nur noch müdes Klicken durch die Filmkacheln auf der Website. Rotterdam 2021 wurde letztlich übersprungen. Dann im Sommer der Paukenschlag und der Skandal mit den Entlassungen. Das gab neue Aufmerksamkeit, plötzlich sprachen alle wieder vom Hafen-Festival. Einer blieb, Olaf Möller aus Köln, der jetzt für den deutschsprachigen Markt verantwortlich ist und schon seit Jahren in Rotterdam mit erlesenen Cinema-Regained-Programmen das Publikum herausgefordert hatte. Immerhin das. Verglichen zu dem früheren Team, das überwiegend aus Niederländern bestanden hatte, ist das neue Auswahlteam jetzt international aufgestellt (Bericht zum Filmprogramm). Aber der Schock sitzt tief.
Drei Jahre später bleibt daher nur die Offensive. Auf geht’s in den Tiger-Wettbewerb mit seinen Debütfilmen, diesmal als Teil der FIPRESCI-Jury, die aus fünf Mitgliedern der internationalen Filmkritik besetzt ist, neben mir sind das Serhii Ksaverov (Ukraine), Monica Delgado (Peru), Francisco Ferreira (Portugal), Boaz van Luijk (Niederlande). Es folgen neun Tage Kinosäle, neun Tage »Doelen«, das Festivalzentrum mit »Food Court« im Erdgeschoss mit erstaunlich ungewürztem und überteuertem Essen, die von mir so genannte »Empfangshalle« im ersten Stock mit einer Bar für alle möglichen Industry-Empfänge und im dritten Stock dann das eigentliche Festivalzentrum mit Presse Counter, Café-Bar und Stehtischen.
Das aber fehlt: Steckdosen, Arbeitstische, abgedunkelte Nischen für die professionelle online-Filmsichtung (wo man auch die vielsichtenden Kolleg*innen hätte antreffen können, die sich dieses Jahr vermutlich alle in ihren Hotelzimmern vereinzelten), Tische, an denen man Meetings und Interviews abhalten kann, Kataloge (selbst Arbeits- oder Ansichtsexemplare wären hilfreich gewesen), um sich einen schnelleren Überblick über die Filme und die Struktur des Festivals zu verschaffen. Stattdessen: klickt man sich mühevoll durch die Website und hat dann trotzdem, bei Rückkehr vom Festival, nachdem eine nette Office-Mitarbeiterin einem verständnisvoll einen Katalog in die Hände gedrückt hat, einfach nur sehr, sehr viele Filme verpasst. Weil man sie beim Browsen übersehen hatte.
So bleibt auf der Rückreise aus Rotterdam, diesmal im Tageszug, neun Stunden sind es bis nach München (nach Oberhausen wären es nur zwei), der schale Nachgeschmack der digitalen Wende trotz »in person edition«. Könnte man nicht das beste aus beiden Welten vereinigen? Online denken und dennoch physisch handeln? Ich setze mich auf meinen Platz und wähle den Comfort-Check-in der Bahn. Ich will diesmal mit keinem Schaffner reden müssen, das Digitale soll jetzt nur Vorteil sein. Beim Umsteigen in Köln begegnet mir auf dem Bahnsteig ein Faschingsprinzen-Paar in rotweißer Fantasie-Uniform. Willkommen zurück in der echten Welt.