09.02.2023

Willkommen in der echten Welt

Rotterdam
Tiger in Rotterdam: das Symbol des IFFR ist in der Stadt allgegenwärtig
(Foto: privat)

Wie ein Festival tickt: Atmosphärisches vom 51. IFFR – Filmfestival Rotterdam

Von Dunja Bialas

»96«, sagt die Schaff­nerin. Das ist die wie eine Beschwörungs­formel heraus­ge­presste magische Zahl unserer Verspä­tung. In Minuten. In Stunden: einein­halb. Es geht mit dem Nachtzug nach Rotterdam, auf das Film­fes­tival, das – genauso wie ich – auf Nach­hal­tig­keit und Klima­ver­träg­lich­keit setzt. Also dann mal wieder Nightjet, das erste Mal seit über zwanzig Jahren. Es hat sich nichts verändert, außer dass die Schaff­ne­rinnen melan­cho­li­scher geworden sind. Während draußen die geduckten Häuser immer dunkler und back­stei­niger werden, versuche ich, mich im WLAN-freien Zug auf den Besuch des Festivals in der wind­durch­zo­genen Hafen­stadt vorzu­be­reiten. Zuletzt war ich vor drei Jahren dort, es war eine andere Zeit. Im voll­ge­packten Flugzeug zurück von Amsterdam traf ich damals auf eine Dele­ga­tion von Chinesen, es war der Vorabend von Corona. Ich vertraute allen, alle trugen Mund­schutz. Früher sagte ich noch »Maske«.

Dann zwei Jahre Pause mit dem großen Festival in Rotterdam, das vor allem mit dem wichtigen »Tiger«-Wett­be­werb aufwartet, einer Reihe mit angriffs­lus­tigen und formen­starken, erwartbar unkon­ven­tio­nellen ersten und zweiten Filmen. Die Tiger-Symbolik wiederum verdankt Rotterdam den chine­si­schen Einflüssen, über den Schiffs-Handel haben sich seit Jahr­hun­derten die Chinesen in der Stadt nieder­ge­lassen. Kaum irgendwo kann man so schön Chine­sisch-Neujahr feiern wie in Rotterdam.

Der große Rauswurf

Angeblich aber habe man sich unter gewissen Fach­leuten dieses Jahr darauf vers­tän­digt, nicht zum Festival zu fahren, aus Soli­da­rität mit dem letztes Jahr in einer beispiel­losen Aktion in Gänze gefeu­erten Programmer-Team, die teils über Jahr­zehnte für das seit 1972 bestehende Rotter­damer Film­fes­tival gear­beitet haben.

Ande­rer­seits ist dies nur eine weitere übliche Aktion von neuen Festi­vals­chefs, sich der alten Garde zu entle­digen und neue Leute mitzu­bringen, die für frischen Wind und viel­leicht auch neuen Film­ge­schmack sorgen. Die neue Festi­val­lei­terin Vanja Kalud­jercic übernahm im Corona-Jahr 2019 von Bero Beyer (der noch die letzte präpan­de­mi­sche Ausgabe verant­wor­tete). Sie hat für das Human Rights Film Festival in Zagreb gear­beitet, in Paris in einer Co-Produk­tions-Firma und beim Les Arcs European Film Festival in den fran­zö­si­schen Alpen, von wo aus sie das Paris Copro­duc­tion Village gründete. Dazu kamen Stationen in Hongkong und beim CPH: DOX Festival in Kopen­hagen als Programm­erin, das Cinéma du Réel in Paris und schließ­lich neun Jahre das Sarajevo Film Festival, bevor sie in die Nieder­lande ging, als Chefin des Holland Film Meeting. Eine Karriere wie gemalt für das Film­fes­tival Rotterdam mit vielen Film­for­maten und ange­schlos­senem Markt.

Kalud­jer­cics erstes Jahr war Corona 1, online, dann kam Corona 2, ebenfalls online. Corona 1, ausge­rechnet die 50. Ausgabe, hielt sich noch aufrecht, garniert von neu erwachtem Digital- und Streaming-Pionier­geist und einem trotzigen Fest­halten an alten Tradi­tionen. Man spielte vor jedem Film den Rotterdam-Jingle ab, als säße man im Kinosaal. Erhebend, als der wie ein am Nacht­himmel aufge­hende Tigerkopf zwar nicht auf der Leinwand, dafür doch zuhause am Laptop erschien. Das war perfekte Rotterdam-Illusion. Kalud­jercic hatte sich für weniger Filme entschieden, das verschlankte Programm tat gut und gab dem Tiger-Award erstmals volle Aufmerk­sam­keit.

Digital Fatigue

Dann das Jahr 2 von Corona. Kurz­fristig wurde das physische Festival abgesagt, Jour­na­listen wieder ausge­laden. Müdigkeit kam auf, bei den Festi­val­ma­chern, bei den Zuschauer*innen vor den Bild­schirmen. Kein Jingle mehr. Keine gespannte Aufregung mehr, nur noch müdes Klicken durch die Film­ka­cheln auf der Website. Rotterdam 2021 wurde letztlich über­sprungen. Dann im Sommer der Pauken­schlag und der Skandal mit den Entlas­sungen. Das gab neue Aufmerk­sam­keit, plötzlich sprachen alle wieder vom Hafen-Festival. Einer blieb, Olaf Möller aus Köln, der jetzt für den deutsch­spra­chigen Markt verant­wort­lich ist und schon seit Jahren in Rotterdam mit erlesenen Cinema-Regained-Programmen das Publikum heraus­ge­for­dert hatte. Immerhin das. Verg­li­chen zu dem früheren Team, das über­wie­gend aus Nieder­län­dern bestanden hatte, ist das neue Auswahl­team jetzt inter­na­tional aufge­stellt (Bericht zum Film­pro­gramm). Aber der Schock sitzt tief.

Drei Jahre später bleibt daher nur die Offensive. Auf geht’s in den Tiger-Wett­be­werb mit seinen Debüt­filmen, diesmal als Teil der FIPRESCI-Jury, die aus fünf Mitglie­dern der inter­na­tio­nalen Film­kritik besetzt ist, neben mir sind das Serhii Ksaverov (Ukraine), Monica Delgado (Peru), Francisco Ferreira (Portugal), Boaz van Luijk (Nieder­lande). Es folgen neun Tage Kinosäle, neun Tage »Doelen«, das Festi­val­zen­trum mit »Food Court« im Erdge­schoss mit erstaun­lich unge­würztem und über­teu­ertem Essen, die von mir so genannte »Empfangs­halle« im ersten Stock mit einer Bar für alle möglichen Industry-Empfänge und im dritten Stock dann das eigent­liche Festi­val­zen­trum mit Presse Counter, Café-Bar und Steh­ti­schen.

No Work Space

Das aber fehlt: Steck­dosen, Arbeits­ti­sche, abge­dun­kelte Nischen für die profes­sio­nelle online-Film­sich­tung (wo man auch die viel­sich­tenden Kolleg*innen hätte antreffen können, die sich dieses Jahr vermut­lich alle in ihren Hotel­zim­mern verein­zelten), Tische, an denen man Meetings und Inter­views abhalten kann, Kataloge (selbst Arbeits- oder Ansichts­exem­plare wären hilfreich gewesen), um sich einen schnel­leren Überblick über die Filme und die Struktur des Festivals zu verschaffen. Statt­dessen: klickt man sich mühevoll durch die Website und hat dann trotzdem, bei Rückkehr vom Festival, nachdem eine nette Office-Mitar­bei­terin einem vers­tänd­nis­voll einen Katalog in die Hände gedrückt hat, einfach nur sehr, sehr viele Filme verpasst. Weil man sie beim Browsen übersehen hatte.

So bleibt auf der Rückreise aus Rotterdam, diesmal im Tageszug, neun Stunden sind es bis nach München (nach Ober­hausen wären es nur zwei), der schale Nach­ge­schmack der digitalen Wende trotz »in person edition«. Könnte man nicht das beste aus beiden Welten verei­nigen? Online denken und dennoch physisch handeln? Ich setze mich auf meinen Platz und wähle den Comfort-Check-in der Bahn. Ich will diesmal mit keinem Schaffner reden müssen, das Digitale soll jetzt nur Vorteil sein. Beim Umsteigen in Köln begegnet mir auf dem Bahnsteig ein Faschings­prinzen-Paar in rotweißer Fantasie-Uniform. Will­kommen zurück in der echten Welt.