17.11.2022

Familie kann man sich nicht aussuchen, Freunde schon

Girls
Gewann in Lübeck: Girls Girls Girls
(Foto: Salzgeber)

Die 64. Nordische Filmtage Lübeck zeigten in einer eigenen Sektion auch Kinder- und Jugendfilme aus dem hohen Norden

Von Christel Strobel

»Wir werden in eine Gruppe von Menschen hinein­ge­boren, die wir uns nicht aussuchen können. Sie sind unsere Eltern, Verwandten oder Geschwister. Heraus­zu­finden, wie man die Bezie­hungen zu denen, die sich Familie nennen, gestalten möchte, ist Teil des Groß­wer­dens. Und dazu gehören auch die von den Erwach­senen gefürch­teten Trotz­phasen und puber­tären Rebel­lionen. … Die Filme des dies­jäh­rigen Kinder- und Jugend­pro­gramms haben etwas gemeinsam: Sie handeln von der schein­baren Unaus­weich­lich­keit von Familie und der Wahl­frei­heit bei Freund­schaften.« Und mit dem Wunsch für »angenehm nach­denk­liche Momente« stimmt Hanna Reifgerst, die neue Leiterin der Sektion Kinder- und Jugend­filme der Nordi­schen Filmtage in Lübeck und seit Jahren in der Kinder­film­szene aktiv, auf das tradi­ti­ons­reiche und immer wieder über­ra­schende Programm ein, wofür in diesem Jahr zehn Filme ausge­wählt wurden. Eine Auswahl sei hier vorge­stellt.

Kiljuset! / The Hulla­ba­loos! (Schweden 2022, Regie: Reeta Huhtanen, empfohlen ab 10) führt mitten hinein in das chao­ti­sche Leben der orts­be­kannten Familie »Schreier«; das sind Vater, Mutter und die beiden Söhne Mökö und Luru, die schon über 600 mal die Feuerwehr in Alarm versetzt hat aus meist nichtigen Anlässen. Jetzt ist es der Geburtstag der beiden Söhne, den die Eltern einfach verschlafen. So werden die beiden Jungs selbst aktiv: Mökö fabri­ziert einen Kuchen, und Luru gibt eine Anzeige mit seinem Geburts­tags­wunsch ins Internet. Kurze Zeit danach rückt die Feuerwehr an – der verbrannte Kuchen verqualmt die Küche, und im Wohn­zimmer tummeln sich mitt­ler­weile 50 Katzen, deren Besitzer die Anzeige gelesen haben. Die Miss­ge­schicke mehren sich mit dem Wunsch der Kinder, den Frei­zeit­park zu besuchen. Der Ausflug gerät schließ­lich völlig aus den Fugen zwischen Staats­be­such und Verwechs­lung von dessen trai­niertem Hund und dem ungestüm verspielten Raufbold der Hulla­ba­loos, was wieder eine rasante Verfol­gungs­jagd auslöst. Ein anar­chi­scher Spaß für Kinder, in Lübeck empfohlen ab 10, aber durchaus auch für jüngere Kinder (ab 6) ein Vergnügen.

Die finnische Regis­seurin Reeta Huhtanen hat nach ihrem Studium mehrere kürzere Filme reali­siert. In ihrem ersten langen und preis­ge­krönten Doku­men­tar­film Gods of Molenbeek, eine finnisch-belgisch-deutsche Kopro­duk­tion, hat sie das Leben von zwei sechs­jäh­rigen Jungen gezeigt, die im Brüsseler Stadtteil Molenbeek, bekannt geworden als Terro­risten-Hochburg, aufwachsen und damit auf eindring­liche Weise die unschul­dige Welt der Kinder in einer brutalen Welt der Erwach­senen thema­ti­siert.

Ernst geht es im Film Mäsas / Sisters (Lettland/Italien 2022, FSK: 12, empfohlen ab 14) zu: Die 13-jährige Anastasia lebt mit ihrer neun­jäh­rigen Schwester Diana in einem letti­schen Kinder­heim, nachdem die Behörde deren unsteter junger Mutter das Sorge­recht für die vernach­läs­sigten Kinder entzogen hat. Hier nun taucht eine christ­liche ameri­ka­ni­sche Familie auf, die die beiden Schwes­tern adop­tieren will. Während Diana glücklich dieser Verän­de­rung entge­gen­sieht, hofft Anastasia immer noch, ihre Mutter wieder zu finden und mit ihr zusammen ein Fami­li­en­leben zu führen. Der Zufall will es, dass Anastasia gerade jetzt wieder Kontakt zu ihrer Mutter knüpfen kann. Doch das schon einge­lei­tete Adop­ti­ons­ver­fahren geht seinen Gang und die beiden Schwes­tern befinden sich schließl­lich in einer anderen Welt, mit Kirchen­ge­sängen und inbrüns­tigen Gebeten. Aber die 13-Jährige gibt die Hoffnung nicht auf, wieder mit ihrer Mutter leben zu können. Sie muss eine Entschei­dung treffen, die auch ein Selbst­fin­dungs­pro­zess wird.
Linde Otte (geb.1978 im heutigen Lettland) hat viele Jahre fürs lettische Fernsehen gear­beitet; Mäsas ist ihr Lang­film­debüt.

Tsumu – Where Do You Go With Your Dreams? (Dänemark/Schweden 2022, FSK: 12, empfohlen ab 16) war in diesem Jahr für mich der eindrück­lichste Film, was sowohl Ort und Lebens­be­din­gungen als auch Prot­ago­nisten und Filmteam betrifft. Der zweite Langfilm von Kasper Kiertzner (Jahrgang 1988) entstand in Tasiilaq, einem einsamen Ort in der gran­diosen Land­schaft an der Ostküste von Grönland, der nur mit dem Schiff oder per Heli­ko­pter zu erreichen ist. Der nächste bewohnte Ort ist 700 km weit entfernt… Die einhei­mi­sche Bevöl­ke­rung war mit rasanten Umbrüchen wie Kolo­ni­sie­rung und zuletzt Moder­ni­sie­rung konfron­tiert, in deren Folge es zu Alko­ho­lismus, Gewalt und eine hohe Suizid­rate gekommen ist. Welche Vorstel­lungen, Wünsche und Träume haben Jugend­liche dort? Das Wort »Tsumu«, aus der Sprache der Tunumiit, heißt soviel wie »Wohin sollen wir gehen?« oder auch »Wohin gehst du mit deinen Träumen?«

Dank des guten Kontakts von Kasper Kiertzner zu Lars, Eino und Thomas, drei 19-jährige Freunde, die in Tasiilaq aufge­wachsen und dort eine Thea­ter­gruppe gegründet haben, erfahren wir viel und diffe­ren­ziert von ihren Hoff­nungen und Wünschen, aber auch Ängsten, und das größ­ten­teils auch in Bildern und Szenen, die sie mit dem eigenen Smart­phone gedreht haben. Sie kämpfen für eine bessere Zukunft für sich und ihre Freunde. Und stehen immer wieder vor der Frage: bleiben oder weggehen. Wenn sie bleiben, müssen sie viele ihrer Träume aufgeben, doch der Weggang hätte auch Folgen für ihre zurück­blei­benden Freunde und Familien. Lars, Eino und Thomas sind nicht die Einzigen, die solch eine schwie­rige Entschei­dung treffen müssen, denn viele junge Grön­länder stehen zwischen alten Tradi­tionen und neuen Möglich­keiten, die vor allem das Internet gebracht hat. Die Authen­ti­zität macht den Film zu einem groß­ar­tigen und berüh­renden Dokument.

Der Preis der Jugend­jury (fünf 16-jährige Schü­le­rinnen & Schüler) und der Kinder- und Jugend­film­preis (Jury: Christian Exner, Johanna Faltinat, Joya Thome), dotiert jeweils mit 5.000 Euro, wurde dem finni­schen Jugend­film Tytöt tytöt tytöt / Girls Girls Girls verliehen, eine flirrende Story über zwei beste Freun­dinnen, Mimmi und Rönkkö, die in einem ange­sagten Smoothie-Shop arbeiten, und Emma, eine ehrgei­zige Eiskunst­läu­ferin. Wir erleben ihre Streif­züge an vier Freitag-Abenden in schnellem Tempo – was durchaus authen­tisch wirkt – auf dem Weg zu ersten schüch­ternen, auch verklemmten, ebenso wie stür­mi­schen sexuellen Erkun­dungen. Die Unbe­fan­gen­heit, mit der diese Geschichte erzählt wird – seit jeher ein »Marken­zei­chen« des skan­di­na­vi­schen Jugend­films – zeichnet auch diesen Film aus. Nachdem Girls Girls Girls (Finnland 2022, Regie: Alli Haapasalo, 100 Min., FSK: 12, von den Nordi­schen Filmtagen empfohlen ab 14) bereits einen Verleih hat (Salzgeber), wird er auch in deutschen Kinos für frischen Wind sorgen.

Die Kinder­jury verlieh ihren ebenfalls mit 5000 Euro dotierten Preis an den »Zukunfts­film« Robotbror / My Robot Brother (Dänemark 2022, FSK: 6, empfohlen ab 10) »Skydiving im Wohzimmer, ein selbst gecodetes Abend­essen und spre­chende Häuser, die auf einen zu niedrigen Blut­zu­cker­spiegel hinweisen…« Alberte lebt zusammen mit ihren Eltern und dem G13-Roboter in Teddy­ge­stalt namens Robbi, der gehört schon viele Jahre dazu und hat ihr oft Gute­nacht­ge­schichten vorge­lesen. Nun hat er sich so daran gewöhnt, dass er Albertes Ablehnung mit einem Mal nicht versteht. Doch es geht nicht generell um Roboter, sondern die alte Ausgabe ist Alberte peinlich. Umso begeis­terter ist sie über das Geschenk ihrer Eltern zu ihrem 12. Geburtstag: die aktuelle Roboter-Ausgabe G20… Eine Entde­ckung aller­dings bringt sie wieder auf den Boden. Regisseur Frederik Nørgaard war schon mehrfach mit Filmen bei den Nordi­schen Filmtagen zu Gast und mit seiner Kinder­buch­ver­fil­mung »Kidnap­ping« gewann er bereits 2017 den Preis der Kinder­jury.

Insgesamt hat sich die Reise nach Lübeck wieder gelohnt. Erfreu­lich ist auch, dass zumindest ein Film aus dem dies­jäh­rigen Programm demnächst auch bei uns im Kino zu sehen sein wird.

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Ein kurzer Abriss über die Geschichte der Nordi­schen Filmtage findet sich in dem Festival-Bericht zu den 63. Nordi­schen Filmtagen.