Familie kann man sich nicht aussuchen, Freunde schon |
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Gewann in Lübeck: Girls Girls Girls | ||
(Foto: Salzgeber) |
Von Christel Strobel
»Wir werden in eine Gruppe von Menschen hineingeboren, die wir uns nicht aussuchen können. Sie sind unsere Eltern, Verwandten oder Geschwister. Herauszufinden, wie man die Beziehungen zu denen, die sich Familie nennen, gestalten möchte, ist Teil des Großwerdens. Und dazu gehören auch die von den Erwachsenen gefürchteten Trotzphasen und pubertären Rebellionen. … Die Filme des diesjährigen Kinder- und Jugendprogramms haben etwas gemeinsam: Sie handeln von der scheinbaren Unausweichlichkeit von Familie und der Wahlfreiheit bei Freundschaften.« Und mit dem Wunsch für »angenehm nachdenkliche Momente« stimmt Hanna Reifgerst, die neue Leiterin der Sektion Kinder- und Jugendfilme der Nordischen Filmtage in Lübeck und seit Jahren in der Kinderfilmszene aktiv, auf das traditionsreiche und immer wieder überraschende Programm ein, wofür in diesem Jahr zehn Filme ausgewählt wurden. Eine Auswahl sei hier vorgestellt.
Kiljuset! / The Hullabaloos! (Schweden 2022, Regie: Reeta Huhtanen, empfohlen ab 10) führt mitten hinein in das chaotische Leben der ortsbekannten Familie »Schreier«; das sind Vater, Mutter und die beiden Söhne Mökö und Luru, die schon über 600 mal die Feuerwehr in Alarm versetzt hat aus meist nichtigen Anlässen. Jetzt ist es der Geburtstag der beiden Söhne, den die Eltern einfach verschlafen. So werden die beiden Jungs selbst aktiv: Mökö fabriziert einen Kuchen, und Luru gibt eine Anzeige mit seinem Geburtstagswunsch ins Internet. Kurze Zeit danach rückt die Feuerwehr an – der verbrannte Kuchen verqualmt die Küche, und im Wohnzimmer tummeln sich mittlerweile 50 Katzen, deren Besitzer die Anzeige gelesen haben. Die Missgeschicke mehren sich mit dem Wunsch der Kinder, den Freizeitpark zu besuchen. Der Ausflug gerät schließlich völlig aus den Fugen zwischen Staatsbesuch und Verwechslung von dessen trainiertem Hund und dem ungestüm verspielten Raufbold der Hullabaloos, was wieder eine rasante Verfolgungsjagd auslöst. Ein anarchischer Spaß für Kinder, in Lübeck empfohlen ab 10, aber durchaus auch für jüngere Kinder (ab 6) ein Vergnügen.
Die finnische Regisseurin Reeta Huhtanen hat nach ihrem Studium mehrere kürzere Filme realisiert. In ihrem ersten langen und preisgekrönten Dokumentarfilm Gods of Molenbeek, eine finnisch-belgisch-deutsche Koproduktion, hat sie das Leben von zwei sechsjährigen Jungen gezeigt, die im Brüsseler Stadtteil Molenbeek, bekannt geworden als Terroristen-Hochburg, aufwachsen und damit auf eindringliche Weise die unschuldige Welt der Kinder in einer brutalen Welt der Erwachsenen thematisiert.
Ernst geht es im Film Mäsas / Sisters (Lettland/Italien 2022, FSK: 12, empfohlen ab 14) zu: Die 13-jährige Anastasia lebt mit ihrer neunjährigen Schwester Diana in einem lettischen Kinderheim, nachdem die Behörde deren unsteter junger Mutter das Sorgerecht für die vernachlässigten Kinder entzogen hat. Hier nun taucht eine christliche amerikanische Familie auf, die die beiden Schwestern adoptieren will. Während Diana glücklich dieser Veränderung
entgegensieht, hofft Anastasia immer noch, ihre Mutter wieder zu finden und mit ihr zusammen ein Familienleben zu führen. Der Zufall will es, dass Anastasia gerade jetzt wieder Kontakt zu ihrer Mutter knüpfen kann. Doch das schon eingeleitete Adoptionsverfahren geht seinen Gang und die beiden Schwestern befinden sich schließllich in einer anderen Welt, mit Kirchengesängen und inbrünstigen Gebeten. Aber die 13-Jährige gibt die Hoffnung nicht auf, wieder mit ihrer Mutter leben zu
können. Sie muss eine Entscheidung treffen, die auch ein Selbstfindungsprozess wird.
Linde Otte (geb.1978 im heutigen Lettland) hat viele Jahre fürs lettische Fernsehen gearbeitet; Mäsas ist ihr Langfilmdebüt.
Tsumu – Where Do You Go With Your Dreams? (Dänemark/Schweden 2022, FSK: 12, empfohlen ab 16) war in diesem Jahr für mich der eindrücklichste Film, was sowohl Ort und Lebensbedingungen als auch Protagonisten und Filmteam betrifft. Der zweite Langfilm von Kasper Kiertzner (Jahrgang 1988) entstand in Tasiilaq, einem einsamen Ort in der grandiosen Landschaft an der Ostküste von Grönland, der nur mit dem Schiff oder per Helikopter zu erreichen ist. Der nächste bewohnte Ort ist 700 km weit entfernt… Die einheimische Bevölkerung war mit rasanten Umbrüchen wie Kolonisierung und zuletzt Modernisierung konfrontiert, in deren Folge es zu Alkoholismus, Gewalt und eine hohe Suizidrate gekommen ist. Welche Vorstellungen, Wünsche und Träume haben Jugendliche dort? Das Wort »Tsumu«, aus der Sprache der Tunumiit, heißt soviel wie »Wohin sollen wir gehen?« oder auch »Wohin gehst du mit deinen Träumen?«
Dank des guten Kontakts von Kasper Kiertzner zu Lars, Eino und Thomas, drei 19-jährige Freunde, die in Tasiilaq aufgewachsen und dort eine Theatergruppe gegründet haben, erfahren wir viel und differenziert von ihren Hoffnungen und Wünschen, aber auch Ängsten, und das größtenteils auch in Bildern und Szenen, die sie mit dem eigenen Smartphone gedreht haben. Sie kämpfen für eine bessere Zukunft für sich und ihre Freunde. Und stehen immer wieder vor der Frage: bleiben oder weggehen. Wenn sie bleiben, müssen sie viele ihrer Träume aufgeben, doch der Weggang hätte auch Folgen für ihre zurückbleibenden Freunde und Familien. Lars, Eino und Thomas sind nicht die Einzigen, die solch eine schwierige Entscheidung treffen müssen, denn viele junge Grönländer stehen zwischen alten Traditionen und neuen Möglichkeiten, die vor allem das Internet gebracht hat. Die Authentizität macht den Film zu einem großartigen und berührenden Dokument.
Der Preis der Jugendjury (fünf 16-jährige Schülerinnen & Schüler) und der Kinder- und Jugendfilmpreis (Jury: Christian Exner, Johanna Faltinat, Joya Thome), dotiert jeweils mit 5.000 Euro, wurde dem finnischen Jugendfilm Tytöt tytöt tytöt / Girls Girls Girls verliehen, eine flirrende Story über zwei beste Freundinnen, Mimmi und Rönkkö, die in einem angesagten Smoothie-Shop arbeiten, und Emma, eine ehrgeizige Eiskunstläuferin. Wir erleben ihre Streifzüge an vier Freitag-Abenden in schnellem Tempo – was durchaus authentisch wirkt – auf dem Weg zu ersten schüchternen, auch verklemmten, ebenso wie stürmischen sexuellen Erkundungen. Die Unbefangenheit, mit der diese Geschichte erzählt wird – seit jeher ein »Markenzeichen« des skandinavischen Jugendfilms – zeichnet auch diesen Film aus. Nachdem Girls Girls Girls (Finnland 2022, Regie: Alli Haapasalo, 100 Min., FSK: 12, von den Nordischen Filmtagen empfohlen ab 14) bereits einen Verleih hat (Salzgeber), wird er auch in deutschen Kinos für frischen Wind sorgen.
Die Kinderjury verlieh ihren ebenfalls mit 5000 Euro dotierten Preis an den »Zukunftsfilm« Robotbror / My Robot Brother (Dänemark 2022, FSK: 6, empfohlen ab 10) »Skydiving im Wohzimmer, ein selbst gecodetes Abendessen und sprechende Häuser, die auf einen zu niedrigen Blutzuckerspiegel hinweisen…« Alberte lebt zusammen mit ihren Eltern und dem G13-Roboter in Teddygestalt namens Robbi, der gehört schon viele Jahre dazu und hat ihr oft Gutenachtgeschichten vorgelesen. Nun hat er sich so daran gewöhnt, dass er Albertes Ablehnung mit einem Mal nicht versteht. Doch es geht nicht generell um Roboter, sondern die alte Ausgabe ist Alberte peinlich. Umso begeisterter ist sie über das Geschenk ihrer Eltern zu ihrem 12. Geburtstag: die aktuelle Roboter-Ausgabe G20… Eine Entdeckung allerdings bringt sie wieder auf den Boden. Regisseur Frederik Nørgaard war schon mehrfach mit Filmen bei den Nordischen Filmtagen zu Gast und mit seiner Kinderbuchverfilmung »Kidnapping« gewann er bereits 2017 den Preis der Kinderjury.
Insgesamt hat sich die Reise nach Lübeck wieder gelohnt. Erfreulich ist auch, dass zumindest ein Film aus dem diesjährigen Programm demnächst auch bei uns im Kino zu sehen sein wird.
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Ein kurzer Abriss über die Geschichte der Nordischen Filmtage findet sich in dem Festival-Bericht zu den 63. Nordischen Filmtagen.