17.11.2022

Die Heimat der anderen

Szenenbild »Smyrna«
Strahlend in der Abendsonne: Smyrna eröffnet die 36. Griechische Filmwoche
(Foto: Griechische Filmwoche)

Die 36. Griechische Filmwoche zeigt ein abwechslungsreiches Programm aus gesellschaftskritischen und historischen Dramen, skurrilen Komödien und spannenden Dokumentationen

Von Elke Eckert

36 Jahre alt ist die Grie­chi­sche Filmwoche München bereits und damit die älteste konti­nu­ier­lich statt­fin­dende grie­chi­sche Kultur­ver­an­stal­tung in Deutsch­land. Veran­stalter ist der Kultur­verein Cinephile München e.V. zusammen mit der Filmstadt München e.V., die wieder einmal an der noch bevor­ste­henden Gasteig-Restau­rie­rung vorbei sich Ausweich­quar­tiere suchen müssen, mit der Eröffnung im Rio Film­pa­last und dem Projek­torraum im HP8/Gasteig.

Der Eröff­nungs­film Smyrna erzählt von einer Metropole, die früher die Stadt der Städte genannt wurde, für ihre Welt­of­fen­heit und Libe­ra­lität bekannt war und vor genau 100 Jahren von der türki­schen Armee besetzt und größ­ten­teils zerstört wurde. Im heutigen Izmir lebten damals vor allem orthodoxe Griechen, die nach dem Verlust ihrer Heimat nach Grie­chen­land flohen. Für viele von ihnen begann auf Lesbos ein neues Leben. Auch für Filio Baltatzi, deren Enkelin viele Jahr­zehnte später auf die Insel kommt, um syrischen Flücht­lingen zu helfen. Anhand des Tage- und Rezept­bu­ches der Groß­mutter entspinnt sich die tragisch-turbu­lente Geschichte einer kosmo­po­li­ti­schen Kauf­manns­fa­milie. – Die aufwen­dige Ausstat­tung und der geschickt konstru­ierte Plot machen Grigoris Karan­tinakis' filmische Adaption eines erfolg­rei­chen Thea­ter­s­tücks nicht nur zum bisher teuersten Film Grie­chen­lands, sondern auch zu einem sehens­werten Stück Zeit­ge­schichte. (Freitag, 18. November, 20 Uhr, Rio Film­pa­last und Mittwoch, 23. November, 20 Uhr, Gasteig HP8)

Auch in Invisible geht es um Menschen, die aus der Türkei nach Grie­chen­land fliehen. In der Doku­men­ta­tion der grie­chi­schen Jour­na­listin und Filme­ma­cherin Marianna Kakao­unakis sind es Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, die 2016, nach dem Putsch­ver­such gegen den türki­schen Präsi­denten Erdogan, ihr Land verlassen mussten. Ein Ehepaar, das in der Türkei wegen Terro­rismus angeklagt und verfolgt wurde, flüchtet nach Grie­chen­land und hat nicht nur mit dem Verlust der Heimat zu kämpfen. Auch der Arzt Ahmet muss sich erst im Exil zurecht­finden. Aber er will sich nicht länger verste­cken und unsichtbar sein, sondern sich in Athen eine neue Existenz aufbauen. – Die Doku konzen­triert sich nicht auf den poli­ti­schen Hinter­grund der Gülen-Bewegung, sondern sie zeigt, welche mensch­li­chen Schick­sale sich hinter dem Wort Flücht­ling verbergen. (Dienstag, 22. November, 18 Uhr, Gasteig HP8)

Sehr persön­lich ist auch der Film von Regis­seurin Kleoni Flessa. Sie ist die Urenkelin von Grigorios Dikeos, genannt Papa­f­lessas, dem wohl bekann­testen Kämpfer im grie­chi­schen Befrei­ungs­krieg von 1821. Seine Nach­fahrin setzt sich in ihrem Doku­men­tar­film My Grand­fa­ther Papa­f­lessas 200 Jahre später kritisch und originell mit seiner Rolle als Held und Revo­lu­ti­onär ausein­ander. (Freitag, 25. November, 18 Uhr, Gasteig HP8)

Histo­ri­sche Ereig­nisse stehen auch bei The City and the City im Mittel­punkt. Das Drama erzählt in mehreren Episoden und über fünf Jahr­zehnte die Geschichte der jüdischen Gemeinde Thes­sa­lo­nikis am Schicksal einzelner Mitglieder. Es beginnt Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg, als die jüdische Bevöl­ke­rung noch ihrem ganz normalen Alltag nachgehen kann, aber bereits erste Anzeichen von irri­tie­renden Verän­de­rungen sichtbar werden. Die nächsten Episoden spielen in den Kriegs- und Nach­kriegs­jahren und zeigen eindrück­lich, wie es dazu kam, dass nur wenige Jüdinnen und Juden Thes­sa­lo­nikis den Holocaust über­lebten und welche Spuren dieser Völker­mord in der zweit­größten Stadt Grie­chen­lands hinter­lassen hat. – Der Film von Christos Passalis und Syllas Tzou­merkas wurde in Schwarz­weiß und in Farbe gedreht und bei der Berlinale 2022 urauf­ge­führt. Drehort war das moderne Thes­sa­lo­niki, der Geburtsort der beiden Regis­seure. (Donnerstag, 24. November, 18 Uhr, Gasteig HP8)

Wie Menschen wegen ihrer Anders­ar­tig­keit zu Außen­sei­tern gemacht werden oder sich immer mehr selbst isolieren, zeigen auch drei Filme, die in der Gegenwart spielen. Der mystische Horror­film Holy Emy schaut hinter die Fassade einer geschlos­senen Gemein­schaft. Die beiden Schwes­tern Teresa und Emy gehören zu dieser Gruppe phil­ip­pi­ni­scher Katho­liken, die in der Hafen­stadt Piräus leben. Als ihre Mutter auf die Phil­ip­pinen zurück­kehren muss, bleiben die Schwes­tern allein in Grie­chen­land zurück. Teresa wird schwanger und Emy fühlt sich plötzlich zu geheim­nis­vollen Kräften hinge­zogen. (Montag, 21. November, 20 Uhr, Gasteig HP8)

In Daniel ‘16 ist es ein junger Deutscher, der nach Grie­chen­land kommt, um eine Jugend­strafe zu verbüßen. Die soziale Einrich­tung, in der er das tun soll, befindet sich auf dem Land, nahe der türki­schen Grenze. Bald steckt der Junge in einem Dilemma: Soll er sich an die Regeln halten, die ihm hier beigebracht werden, oder muss er sie brechen, um einem syrischen Flücht­lings­kind zu helfen? Dimitris Kout­sia­ba­sakos' berüh­rendes Drama hat auf dem Thes­sa­lo­niki Film Festival den Publi­kums­preis »Meet the Neighbors« gewonnen. (Dienstag, 22. November, 20.30 Uhr und Sonntag, 27. November, 18 Uhr, Gasteig HP8)

In einem Athener Arbei­ter­viertel haben Wirt­schafts­krise und Pande­mie­pro­bleme eine Atmo­sphäre der Angst und Trost­lo­sig­keit geschaffen. Eine Gruppe Jugend­li­cher geht gegen die vor, die sie für mitschuldig an dieser Misere hält, und überfällt Migranten, Homo­se­xu­elle und andere Minder­heiten. Als einer nicht mehr mitmachen will, wird er zum neuen Angriffs­ziel. – Vassilis Douvlis' Gesell­schafts­drama 18 mutet fast doku­men­ta­risch an und ist erschre­ckend brutal und direkt. (Samstag, 19. November, 20.30 Uhr und Mittwoch, 23. November, 18 Uhr, Gasteig HP8)

Alles andere als gutbür­ger­lich ist auch der Ort, an dem das spannende Thriller-Musical Broadway beginnt: Nelly, Typ höhere Tochter, arbeitet als Tänzerin in einem Stripclub. Der Klein­kri­mi­nelle Markos ist so angetan von ihr, dass er ihr hilft zu entkommen, als ihr Stief­vater sie nach Hause holen will. Gemeinsam verste­cken sie sich in einem ehema­ligen Kino, das bereits eine bunte Truppe beher­bergt, und halten sich mit Tanz­per­for­mances und Dieb­stählen über Wasser. Doch lange geht das nicht gut … – Christos Massallas' Lang­film­debüt feiert bei der Filmwoche seine Deutsch­land­pre­miere. (Samstag, 19. November, 18 Uhr und Sonntag, 27. November, 20.30 Uhr, Gasteig HP8)

Regisseur Dimitris Kanel­lo­poulos verpackt seine Gesell­schafts­kritik in einen modernen Western. Thanasis lebt mit seiner Familie in einer grie­chi­schen Klein­stadt und hat Schulden bei einem örtlichen Kredithai. Um güns­ti­gere Kondi­tionen zu bekommen, schließt er sich mit anderen Schuld­nern zusammen. Doch als die Männer zur Rück­zah­lung gezwungen werden, gerät die Schick­sals­ge­mein­schaft in eine Gewalt­spi­rale. – Kanel­lo­poulos hat zu seinem Regie­debüt Pack of Sheep auch das Drehbuch geschrieben. Beides brachte ihm eine Nomi­nie­rung für die Hellenic Film Academy Awards 2022 ein. (Sonntag, 20. November, 20 Uhr, Gasteig HP8)

In Moon, 66 Questions ist es eine Krankheit, die zum fami­liären Ausnah­me­zu­stand führt. Artemis kehrt nach längerer Abwe­sen­heit nach Hause zurück, um sich um ihren schwer­kranken Vater Paris zu kümmern. Keine leichte Aufgabe für die junge Frau, zumal die Beziehung der beiden immer schwierig war und andere Verwandte und Ärzte ganz eigene Vorstel­lungen von der Pflege von Paris haben. Aber die neue, zwangs­läu­fige Nähe ist auch eine Chance für Vater und Tochter, sich noch einmal ganz anders kennen­zu­lernen. – Regis­seurin Jacque­line Lentzou machte schon mit ihren Kurz­filmen auf diversen Festivals von sich reden. Ihr Lang­film­debüt erhielt bei der Berlinale 2021 eine Nomi­nie­rung als bester Erst­lings­film, Haupt­dar­stel­lerin Sofia Kokkali wurde beim Inter­na­tio­nalen Film­fes­tival in Thes­sa­lo­niki als beste Schau­spie­lerin ausge­zeichnet.(Donnerstag, 24. November, 20.30 Uhr, Gasteig HP8)

Skurril-komisch ist Panos Koutras' Blick auf familiäre und gesell­schaft­liche Verwer­fungen. In seiner Komödie Dodo steht eine ange­se­hene Athener Familie vor dem finan­zi­ellen Ruin. Einzige Rettung: Die Vermäh­lung von Tochter Sophia mit einem Mitglied des grie­chi­schen Geldadels. Aber durch einen tieri­schen Über­ra­schungs­gast läuft alles aus dem Ruder. Der bunte Vogel, ein Dodo, gilt eigent­lich seit 300 Jahren als ausge­storben… Der Debütfilm ist eine Deutsch­land­pre­miere, urauf­ge­führt wurde er im vergan­genen Jahr bei den Film­fest­spielen in Cannes. (Samstag, 26. November, 20.30 Uhr, Gasteig HP8)

Turbulent wird es auch in Let the Women Wait von 1998. Panos und Michalis sind nicht nur Geschäfts­partner, sondern auch Schwäger. Als die zwei ihren Familien hinterher reisen, die bereits in den Ferien auf Thassos sind, passiert einiges Unvor­her­ge­se­henes, was ihre Ankunft auf der Insel verzögert. – Der komische Klassiker ist eine Hommage an den 2019 verstor­benen Regisseur und Dreh­buch­autor Stavros Tsiolis. (Sonntag, 20. November, 18 Uhr und Freitag, 25. November, 20.30 Uhr, Gasteig HP8)

Das Programm der Grie­chi­schen Filmwoche rundet wie immer eine Auswahl von Kurz­filmen ab. Diesmal sind vier davon bereits auf dem alljähr­li­chen Thes­sa­lo­niki Inter­na­tional Short Film Festival gelaufen. Zwei weitere sind durch die Koope­ra­tion der Grie­chi­schen Filmwoche mit der Regis­seurin Daphni Xourafi (Mine) und dem Regisseur Aris Kapla­nidis (From the Balcony) entstanden. (Samstag, 26. November, ab 18 Uhr)

36. Grie­chi­sche Filmwoche

18.–27.11.2022
München, Rio Film­pa­last und Projektor im HP8/Gasteig
Tickets ab 6 Euro