15.09.2022

Rosskur des Inkorrekten

What's Your Pleasure?
»What’s Your Pleasure?« fragt vielsagend die Panel-Reihe
(Foto: Randfilmfest)

Das 9. Randfilmfest in Kassel widmet sich dieses Jahr den »Blumen für die Sünder«. Einblicke ins Programm

Von Dunja Bialas

Endlich wieder Neues aus Kassel. Wem der Streit um die Documenta die Lust auf die gefühlt zentralste Stadt Deutsch­lands verdorben hat, kann jetzt wieder ungetrübt den ICE erklimmen. Das Rand­film­fest, vermut­lich das unkor­rek­teste aller deutschen Festivals, das unwokeste und, genau, das rand­stän­digste, verspricht schon im Claim »distur­bance for all«. Das ist mehr als nur eine Rand-Notiz: Den Sünde­rinnen und Sündern der jüngeren Film­ge­schichte ist die neunte Ausgabe gewidmet, die vier Tage lang die Stadt in echte Aufregung versetzen soll. Jetzt endlich lässt es sich unver­hohlen scho­ckiert sein.

Einstim­mung in die Niede­rungen der Mensch­lich­keit bringt György Pálfis Taxi­dermia (2006). Drei Gene­ra­tionen prak­ti­zieren unge­wöhn­liche Leiden­schaften: Im Zweiten Weltkrieg erfindet Soldat Vendel immer neue Selbst­be­frie­di­gungs­va­ri­anten. Im Nach­kriegs-Sozia­lismus kommt sein Sohn aufs Wettessen, nach dem Mauerfall wird dessen Sohnemann ein uner­schro­ckener Tier­prä­pa­rator. »Abnormes und ekel­haftes Verhalten« labeln die Rand­filmer mit Begeis­te­rung den Film, der einst von den Ungarn als Kandidat um den auslän­di­schen Oscar ins Rennen geschickt wurde. Viel­leicht sollte man darüber am meisten staunen.

Wenn man Nonnen im Film sieht, lässt sich nie ausschließen, dass Obszönes folgt. Wie in Norifumi Suzukis School of the Holy Beast (1974). Der Film beginnt mit der letzten Nacht, bevor ein junges Mädchen als Novizin ins Kloster geht. Sie lässt es also noch einmal richtig krachen, was durch die Fallhöhe natürlich umso mehr Spaß macht. Aber auch das Kloster ist nicht päpst­li­cher als der Papst: Wie in Rivettes / Diderots Die Nonne herrscht eine auto­ri­täre Äbtissin mit sadis­ti­schen Praktiken über die Novi­zinnen. Wer jetzt noch nicht aus der katho­li­schen Kirche ausge­treten ist, sollte sich das nach diesem Film ernsthaft überlegen.

Es findet sich auch ein ausge­suchter Schwu­len­porno im Programm: Fred Halsteds L.A. Plays Itself (1972) ist eine der ersten zur Sache gehenden, gefilmten Frei­zü­gig­keiten der Community. Die urbane Land­schaft ist hier nur Metapher für Schwänze und umgekehrt. Dazwi­schen: Gesichter, Körper und absurdes Gerede. Ein Film, der an den niemals erschie­nenen Sammel­band »Too Many Men« über histo­ri­sche Schwu­len­por­no­gra­phie denken lässt, zu dem namhafte Film­kri­tiker*innen Texte beigetragen haben. Diese sind ebenso in der Schublade der Editoren (Marco…!?!) verschwunden wie die Filme. Gut, dass Randfilm jetzt ein Exemplar hervor­holt.

Bekann­tere Titel im Randfilm-Programm, die sogar Arthouse-geprüft sind, sind Gaspar Noés Irrever­sibel (2002) mit seiner uner­bitt­li­chen Verge­wal­ti­gungs­szene und Ninja Thybergs mindes­tens ambi­va­lenter, wenn nicht gar kontro­verser Pleasure (2021), in dem eine Schwedin Porno­dar­stel­lerin werden möchte. Die Milieu­schil­de­rung oszil­liert zwischen Abschre­ckung und Faszi­nosum. Das kann insgesamt program­ma­tisch für das Rand­film­fest gelten, das kein Feigen­blatt vor die Filme hält.

Die Rand­filmer um Volker Beller setzen ganz bewusst das Rand­s­tän­dige, von der Film­ge­schichte oftmals Verdrängte ins Zentrum ihrer Aufmerk­sam­keit. Etliche Panels rahmen die Filme mit Talks, die das Obzöne zwar nicht akade­mi­sieren, es aber ernst nehmen wollen. Schließ­lich ist das Kino seit 120 Jahren auch eine Kunst des Unbe­wussten und Verdrängten, das auch Bilder zu zeigen vermag, wie sie im realen Leben besser nicht vorkommen. Das obszöne Kino eignet sich so auch als Substitut und Katharsis eines uner­füllten Begehrens und dunkler Lust. Gefragt wird nach der Scham und verbalen Ratlo­sig­keit, dem pein­li­chen Schweigen nach zu viel Sex auf der Leinwand. Ausdrück­lich richtet sich das Programm gegen »aktuelle Tendenzen in der Gesell­schaft« – gemeint ist sicher­lich die restau­ra­tive Moral, die sich allent­halben breit macht.

Zumindest kehrt Kassel mit dem Rand­film­fest wieder zu sich selbst zurück. Weg von den verschämten Diskursen und Anschul­di­gungen, hin zum offen Ausge­spro­chenen und Expo­nierten, und zu einigen der Kern­themen von Kunst. Das verspricht eine wohl­tu­ende Rosskur für den allzu mora­li­schen Blick.

9. Rand­film­fest Kassel
15.-18. September 2022

Bali-Kinos, Film-Shop in Kassel