15.09.2022

Alain, der im Jahr 2022 93 Jahre alt geworden wäre

Alain Tanner
Alain Tanner (re.) und André S. Labarthe in der Cinémathèque française beim Symposium »Mai 68 a-t-il été filmé?«, 2008
(Foto: CC BY-SA 3.0 – Roman Bonnefoy)

Der große Schweizer Filmemacher und Cannes-Preisträger Alain Tanner, der mit seinen real-utopischen, hypersensiblen und nach Identität suchenden Filmen weit über die Schweiz hinaus Erfolge feierte, ist mit 92 Jahren gestorben.

Von Axel Timo Purr

Er ist einer dieser Regis­seure, die still verschwunden sind, die sich schon lange vor ihrem Tod vom Film ab- und anderen Dingen zuge­wendet haben. So wie Alan Rudolph, der inzwi­schen lieber Bilder malt als Bilder filmt. So wie Rudolphs Filme haben auch die von Tanner immer wieder die eigene Fremdheit thema­ti­siert, eine Fremdheit, gegen die Tanner sich in seinen Filmen immer wieder aufbäumte, für und gegen die er unge­wöhn­liche Bilder und noch unge­wöhn­li­chere Geschichten fand.

Zu Anfang versucht es der junge Tanner – viel­leicht weil ihm die Schweiz so fremd war wie später dem jungen Fritz Zorn – es mit dem viel­leicht belieb­testen Gegengift gegen diese nagende Fremdheit, der Fremde selbst. Er siedelte 1955 nach London über, arbeitet für das British Film Institute (BFI) und drehte mit dem ebenfalls 1929 geborenen Schweizer Filme­ma­cher (und späteren Produ­zenten) Claude Goretta seinen Kurzfilm Nice Time, der auf dem Film­fes­tival in Venedig auch gleich einen Preis gewann.

Nach dieser Initia­tion zog es Tanner nach Paris, wo sich das Kino gerade neu erfand. Er lernte den dieser Tage ebenfalls verstor­benen Jean-Luc Godard kennen, der wie er aus der fran­zö­si­schen Schweiz stammte, und Robert Bresson und all die anderen Baumeister der Nouvelle Vague, assis­tierte in großen Produk­tionen, fühlte sich aber auch im Umfeld der Novelle Vague fremd und entschied sich im Laufe der 1960er Jahre wieder in die Schweiz zurück­zu­kehren.

Statt weiter Fremde mit Gegen­fremde zu kurieren, machte Tanner die Fremde nun in seinen großen Filmen der nächsten Jahre zum Thema. In Charles, tot oder lebendig (1969) folgt er der Flucht eines von seinem Leben entfrem­deten Fabri­kanten, doch schon bald löste sich Tanner auch mit Unter­s­tüt­zung des Schrift­stel­lers John Berger, der mit ihm die Dreh­bücher seiner nächsten Filme schrieb, aus dem Privaten, Fami­liären und erkennt die Schweiz und den Kapi­ta­lismus selbst als Wurzel allen Übels. In seinen Filmen Der Sala­mander (1971), Jonas, der im Jahre 2000 25 Jahre alt sein wird (1976) und Messidor (1979) setzt sich Tanner leiden­schaft­lich mit der »Krankheit« Schweiz ausein­ander und den Utopien der 1968er und was davon übrig­blieb. Seine Kunst bestand dabei vor allem mit konkreter Bild­poesie und einer leiden­schaft­li­chen Empathie gegenüber seinen Haupt­dar­stel­lern, den schwie­rigen Weg aus ihrem Befremden zu begleiten und nach konkreten Hilfs­mit­teln, einer »realen« Utopie zu suchen.

Als die Schweiz als Reibungs­fläche nicht mehr ausreichte, die poli­ti­sche Wut Tanners sich viel­leicht auch schon ein wenig erschöpft hatte, ging Tanner mit seinen Filmen wieder auf Reisen und erreichte mit Werken wie Licht­jahre entfernt (mit dem er 1981 den Großen Preis von Cannes gewann) und vor allem mit seiner wunder­schönen, zärt­li­chen Intro­spek­tion In der weißen Stadt (1983) immer größeren Zuspruch auch außerhalb der Schweiz. Denn statt einer abstrakten Ideologie oder der Misere eines Landes standen nun einsame, entfrem­dete Männer auf der Suche nach Erlösung im Zentrum von Tanners Werk. Und den fast schon lyrischen Spuren von Bruno Ganz als Schiffs­me­cha­niker auf Landgang in Lissabon zu folgen, schien dann auch fast so, wie der Lösung von Tanners Grund­pro­blem, der großen Fremdheit, beizu­wohnen und dabei selbst gleich miterlöst zu werden. Denn Fremde sind wir irgend­wann im Leben ja alle einmal gewesen.

Denn hier, auf diesen somnam­bulen Spazier­gängen durch die weißen Straßen Lissabons auf der Suche nach Identität und der »wahren« Liebe, und dann noch stärker und eindeu­tiger in seinen späteren Filmen wie Eine Flamme in meinem Herzen (1987, hier der Link auf die damalige Kritik von Michael Althen), in denen er sich von der fran­zö­si­schen Schau­spie­lerin und Dreh­buch­au­torin Myriam Mézières inspi­rieren und unter­s­tützen ließ, wird die Fremdheit zwar weiterhin als unaus­lö­sch­lich einge­standen, gibt es durch Liebe, Körper­lich­keit, vor allem aber Begehren immerhin so etwas wie eine Auszeit, Fragmente des Glücks.

Doch auch das schien am Ende keine echte Lösung darzu­stellen. Tanner kehrte zu alten Stoffen zurück, besuchte in Jonas und Lila (1999) den (fiktiv) erwachsen gewor­denen Helden aus seinem Jonas, der im Jahre 2000 25 Jahre alt sein wird und spürte dem alten Befremden über eine neue Gene­ra­tion noch einmal nach, eine Gene­ra­tion mit neuen Problemen, neuen Tech­no­lo­gien und neuen Entfrem­dungen.

Auch in seinem letzten Film Paul s’en va (2004) versuchte Tanner noch einmal den Graben zwischen seinen alten Erfah­rungen, einer unaus­weich­lich verschwin­denden Welt und einer immer komplexer (und fremder) werdenden Gegenwart zu über­brü­cken, mit einem Alter Ego, das eindeu­tiger Tanner nicht hätte sein können, dem Philo­so­phie­pro­fessor, Schau­spiel­lehrer und Alt-68er Paul, der eines Tages spurlos verschwindet und siebzehn Schü­lerInnen einer Genfer Schau­spiel­schule – die in diesem Stück die Rollen spielen – eine Reihe von philo­so­phi­schen und revo­lu­ti­onären Texten zur Lektüre und zum Thea­ter­spielen hinter­lässt.

So wie Paul ist auch Tanner nun spurlos verschwunden, wie am Ende jeder von uns verschwinden wird. Und auch uns hat er etwas zurück­ge­lassen. Seine Filme und ein Modell der Suche, das gerade in unseren sich so schnell wandelnden Zeiten aktueller und drin­gender nicht sein könnte. Filme sind natürlich nie Antworten, gerade Tanners Filme nicht, sie eröffnen statt­dessen die Möglich­keit neue Fragen zu stellen.

Hat das Fremde am Ende gesiegt oder hat Tanner es in seinen letzten Jahren dann doch noch endlich besiegen gelernt, dieses Mal ganz ohne den Film oder mit ganz anderen, uns unbe­kannten Hilfs­mit­teln? Ich wünsche es ihm von ganzem Herzen.