11.09.2022
79. Filmfestspiele von Venedig 2022

Terror in Suburbia

All the beauty and the bloodshed
Keine Überraschung: der Golde Löwe für All the beauty and the bloodshed
(Foto: 79. Filmfestspiele Venedig | All the beauty and the bloodshed)

Überraschung am Lido: Laura Poitras' Dokumentarfilm gewinnt beim Filmfestival von Venedig den Goldenen Löwen – Notizen aus Venedig, Folge 07

Von Rüdiger Suchsland

»Droll thing life is – that myste­rious arran­ge­ment of merciless logic for a futile purpose.
The most you can hope from it is some knowledge of yourself – that comes too late – a crop of unextin­gu­is­hable regrets. I have wrestled with death. It is the most unex­ci­ting contest you can imagine.«

- Joseph Conrad, Heart of Darkness

Dieses bewegende und sehr schöne Zitat über unaus­lö­sch­li­ches Bedauern und zu späte Selbst­er­kenntnis stammt von Joseph Conrad. Es wurde auf einem Zettel gefunden, und bildet das Herzstück von »All the Beauty and the Bloodshed«.

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Die Über­ra­schung war gelungen, obwohl sie bei genauerer Betrach­tung überhaupt keine war: All the Beauty and the Bloodshed von der ameri­ka­ni­schen Doku­men­tar­fil­merin Laura Poitras gewinnt den Goldenen Löwen von Venedig.

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Eine Über­ra­schung war das insofern, als kaum einer der profes­sio­nellen Beob­achter und auch nicht der Einkäufer diesen Film auf seiner Rechnung gehabt hatte. Nicht der Publi­kums­lieb­ling Bones and All, nicht das Hollywood Biopic Blonde, nicht der argen­ti­ni­sche Justiz­thriller Argentina 1985 und nicht der poetische Fami­li­en­firmen Love Life aus Japan war unter den Siegern der Hauptpreise, sondern ein Dokumentarfilm, der bis zum Ende auf der Suche nach seinem roten Faden ist, und sich zwischen mehreren guten Themen nicht wirklich entscheiden kann, sondern versucht, alles irgendwie unter einen Hut zu bekommen/ zu erzählen, dabei aber nichts richtig erzählt. All the Beauty and the Bloodshed ist vor allem ein Porträt der US-Photographin Nan Goldin (geb. 1952), die zu den wichtigsten Chronisten der Punk- und New-Wave-Szene in New York und Westberlin der 70er und 80er- Jahre gehört und die sich auch als Bürgerrechtlerin engagiert. Im Film ist das ein zweiter Erzählstrang, insbesondere Goldins Kampf gegen die Pharmaindustrie. Ein »Film über die Opioidkrise«, wie jetzt Agenturen melden, ist das aber keineswegs. Der emotional stärkste Erzählstrang ist vielmehr der über Goldins Familie, ihre Eltern, die ihr keine Zuneigung entgegenbrachten, und den verdrängten Selbstmord der älteren Schwester Barbara – hier zeigt Poitras, die zuvor Edward Snowden portätiert hatte, eine Suburbia-Familie als Terrorgang. Davon hätten wir gerne viel mehr gehört, Pharmamillionäre, die sich durch Kunst ein besseres Image kaufen wollen, sind dagegen ziemlich uninteressant, da komplett erwartbar. Und warum sollen Reiche eigentlich nicht ihr böses Geld der Öffentlichkeit auf diesem Weg zurückzahlen?

Poitras erzählt vor allem anhand von Dias, Dialogen, seltenem Film­ma­te­rial und vor allem Goldins Fotos. Die Filme­ma­cherin erklärt, ihr Doku­men­tar­film sei ein »orga­ni­scher Prozess um von einer Künst­lerin zu erzählen, die ihren künst­le­ri­schen Einfluss nutzte, um von den Fehlern der Gesell­schaft zu erzählen«. Dies geschah, wie der Doku­men­tar­film erklärt, zuerst mit »Witnesses Against Our Vanishing«, einer Ausstel­lung zum Thema AIDS aus dem Jahr 1989, und neuer­dings mit »P.A.I.N.«, der von Goldin gegrün­deten Gruppe, die Museen dazu bringen will, Geld der Sackler-Familie abzu­lehnen, die mit der Herstel­lung von Oxycodon viel Geld verdienten.

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Keine Über­ra­schung war dieser Preis auf der anderen Seite, weil er sich allzu sehr in den engen Bahnen poli­ti­scher Korrekt­heit bewegt.
Es ist halt alles ein bisschen zu einfach. Es ist zu einfach, wenn man bei einem Festival vorher schon weiß: eine Frau wird den Goldenen Löwen gewinnen; die Regis­seurin aus Afrika wird – weil sie Frau ist und dazu nicht-weiß – in jedem Fall einen Haupt­preis kriegen; und der iranische Regisseur Jafar Panahi wird, weil er gerade inhaf­tiert ist, auch nicht ohne einen wichtigen Preis nach Hause gehen können.

Offenbar musste der Goldene Löwe schon wieder – zum dritten Mal in den letzten vier Jahren – an einen US-ameri­ka­ni­schen Film gehen. In den letzten Jahren wirkt das Festival am Lido zunehmend wie ein Außen­posten der US-Film­in­dus­trie, ein Flug­zeug­träger des US-Kultur­im­pe­ria­lismus. Diese Amerika-Dominanz wird langsam zur Regel und sie wird ein Problem für dieses Festival.

Es ist zu einfach, weil dies dem Wett­be­werb schadet, weil es den Eindruck erweckt, Preise gebe es inzwi­schen nur noch für Hautfarbe, für Geschlecht, für Herkunft. Es sind genau solche Entschei­dungen, die leider durch die Qualität der Filme nicht gedeckt sind, die einen Großteil des Publikums und mehr und mehr auch der Medien dem Festi­val­kino entfremden.

Die inter­na­tio­nale Kultur, wie sie sich auf solchen Festivals selbst insze­niert, ist zunehmend im Klam­mer­griff der Wokeness. Dies ist zwar eine Mode, und sie wird so sicher vergehen wie der Schnee im Frühling und wie der marxis­ti­sche Jargon nach 1970. Aber zur Zeit ist die Wokeness da und zur Zeit schadet sie dem Kino. Dem Kino, das sich sowieso schon in der schwersten Krise seiner Existenz befindet, und das Festivals dringend braucht, um bestehen zu können gegen den Angriff der Streamer, gegen den Angriff unser aller Faulheit und Müdigkeit, gegen die Pande­mie­folgen. Es nutzt niemandem, auch nicht den Frauen und allen anderen angeblich oder tatsäch­lich Margi­na­li­sierten dieser Welt, wenn das Kino komplett verschwindet und durch Streaming-Filme ersetzt wird.

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Immerhin den Regie­preis gab es für Bones and All vom Italiener Luca Guad­a­gnino. Dem ist das Kunst­stück eines zärt­li­chen Kanni­ba­len­films gelungen, der die stärksten Kino­au­gen­blicke des ganzen Festivals bot. Guad­a­gnino zeigt die Kanni­balen sympa­thisch und voller Gewis­sens­bisse, als sympa­thi­sche Wesen, die Trieb­täter sind, weil er eigent­lich von Außen­sei­tern erzählen möchte: Es geht um das Andere, was nicht inte­grierbar zu sein scheint, und unsere Toleranz auf echte Proben stellt: Die jungen »Esser« könnten auch Obdach­lose oder Drogen­süch­tige sein. Bones and All ist wunder­schönes, über weite Strecken aufre­gendes Kino geglückt: Ein Roadmovie, der die Vorstel­lung von ameri­ka­ni­scher Freiheit entfaltet, ein Liebes­film, ein Mons­ter­film.

Auch Santiago Mitres argen­ti­ni­sches Histo­ri­en­drama Argentina 1985 fiel angenehm auf. Darin geht es um den Umgang des Landes mit seiner eigenen Vergan­gen­heit: Nach der Rückkehr zur Demo­kratie 1983 wurde hier erstmals eine Diktatur von Zivil­ge­richten abge­ur­teilt. Es war »das Nürnberg Latein­ame­rikas«.
Mitres Held ist der Staats­an­walt Julio Cesar Strassera, der voller Mut gegen Todes­dro­hungen seinen Weg ging, Beweise sammelte und Zeugen zum Reden brachte und so die anfangs skep­ti­sche Mehrheit der Gesell­schaft auf seine Seite zog. Die filmi­schen Mittel sind die eines klas­si­schen US-Gerichts­films: Gut kämpft gegen Böse. Es gibt persön­liche Konflikte, aber auch Augen­blicke der Heiter­keit. Zwischen­durch ist der Film ein mensch­li­cher Polit-Thriller in der Tradition von Costa Gavras.
Dieser histo­ri­sche, auf den ersten Blick spezielle Film ist gerade heute weit über Argen­ti­nien hinaus von Interesse. Denn er entfaltet die Prin­zi­pien, auf denen man Dikta­turen abur­teilen kann, und er macht klar: »Sadismus ist keine poli­ti­sche Idee. Er ist auch keine mili­täri­sche Strategie. Sondern eine mora­li­sche Perver­sion. ›Dies gilt univer­sell. Und man kann diesen Film nicht sehen, ohne auch an gegen­wär­tige Dikta­turen und ihre Schergen zu denken.‹«

Neben solchen Filmen, in denen es – wie bei Poitras' Löwen­sieger – um mutige Einzel­kämpfer geht, die für ihre Ideale einstehen, gab es einen zweiten auffal­lenden Erzähl­strang: Oft sah man Patch­work­fa­mi­lien auf der Leinwand, wie in dem absurd-komischen Japaner Love Life und bei der fran­zö­si­schen jungen Wilden Rebecca Zlotowski: Les enfants des autres (»Die Kinder der Anderen«) erzählt von einer Frau, deren neuer Freund eine Tochter hat. Plötzlich sieht sie sich in der Mutter­rolle wieder. Ein kluger, suchender Film, der ohne mora­li­sche Ratschläge auskommt, oder die oft im Kino zu findende Behaup­tung, dass Frauen »eigent­lich« alle Mütter werden möchten, und erst in dieser Rolle ihre wahre Bestim­mung finden.

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Weitere Preise:
Beste Schau­spieler: Cate Blanchett (für Tár von Todd Field) und Colin Farrell (für The Banshees of Inisherin von Martin McDonagh). Martin McDonagh gewann auch das Beste Drehbuch. Der »Premio Marcello Mastroi­anni« für einen jungen Schau­spieler oder Schau­spie­lerin gewann Taylor Russell von Bones and All von Luca Guad­a­gnino.
Alles Ameri­kaner.

In der ORIZZONTI-Sektion gewann der Iraner World War III von Houman Seyedi. Toller Film, dazu bald mehr.

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All diese Preise spiegeln recht gut einen Wett­be­werb, der einige gute Filme enthielt, in dem aber kein Film das Publikum komplett in Bann zog, dem Kino neue Horizonte öffnete, oder mehr als ein, zwei wirklich magische Momente und »Wow!«-Augen­blicke enthielt. Aber das Staunen ist nicht nur der Anfang der Philo­so­phie, es ist auch der Anfang des Kinos.

(to be continued)