79. Filmfestspiele von Venedig 2022
Terror in Suburbia |
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Keine Überraschung: der Golde Löwe für All the beauty and the bloodshed | ||
(Foto: 79. Filmfestspiele Venedig | All the beauty and the bloodshed) |
»Droll thing life is – that mysterious arrangement of merciless logic for a futile purpose.
The most you can hope from it is some knowledge of yourself – that comes too late – a crop of unextinguishable regrets. I have wrestled with death. It is the most unexciting contest you can imagine.«
- Joseph Conrad, Heart of Darkness
Dieses bewegende und sehr schöne Zitat über unauslöschliches Bedauern und zu späte Selbsterkenntnis stammt von Joseph Conrad. Es wurde auf einem Zettel gefunden, und bildet das Herzstück von »All the Beauty and the Bloodshed«.
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Die Überraschung war gelungen, obwohl sie bei genauerer Betrachtung überhaupt keine war: All the Beauty and the Bloodshed von der amerikanischen Dokumentarfilmerin Laura Poitras gewinnt den Goldenen Löwen von Venedig.
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Eine Überraschung war das insofern, als kaum einer der professionellen Beobachter und auch nicht der Einkäufer diesen Film auf seiner Rechnung gehabt hatte. Nicht der Publikumsliebling Bones and All, nicht das Hollywood Biopic Blonde, nicht der argentinische Justizthriller Argentina 1985 und nicht der poetische Familienfirmen Love Life aus Japan war unter den Siegern der Hauptpreise, sondern ein Dokumentarfilm, der bis zum Ende auf der Suche nach seinem roten Faden ist, und sich zwischen mehreren guten Themen nicht wirklich entscheiden kann, sondern versucht, alles irgendwie unter einen Hut zu bekommen/ zu erzählen, dabei aber nichts richtig erzählt. All the Beauty and the Bloodshed ist vor allem ein Porträt der US-Photographin Nan Goldin (geb. 1952), die zu den wichtigsten Chronisten der Punk- und New-Wave-Szene in New York und Westberlin der 70er und 80er- Jahre gehört und die sich auch als Bürgerrechtlerin engagiert. Im Film ist das ein zweiter Erzählstrang, insbesondere Goldins Kampf gegen die Pharmaindustrie. Ein »Film über die Opioidkrise«, wie jetzt Agenturen melden, ist das aber keineswegs. Der emotional stärkste Erzählstrang ist vielmehr der über Goldins Familie, ihre Eltern, die ihr keine Zuneigung entgegenbrachten, und den verdrängten Selbstmord der älteren Schwester Barbara – hier zeigt Poitras, die zuvor Edward Snowden portätiert hatte, eine Suburbia-Familie als Terrorgang. Davon hätten wir gerne viel mehr gehört, Pharmamillionäre, die sich durch Kunst ein besseres Image kaufen wollen, sind dagegen ziemlich uninteressant, da komplett erwartbar. Und warum sollen Reiche eigentlich nicht ihr böses Geld der Öffentlichkeit auf diesem Weg zurückzahlen?
Poitras erzählt vor allem anhand von Dias, Dialogen, seltenem Filmmaterial und vor allem Goldins Fotos. Die Filmemacherin erklärt, ihr Dokumentarfilm sei ein »organischer Prozess um von einer Künstlerin zu erzählen, die ihren künstlerischen Einfluss nutzte, um von den Fehlern der Gesellschaft zu erzählen«. Dies geschah, wie der Dokumentarfilm erklärt, zuerst mit »Witnesses Against Our Vanishing«, einer Ausstellung zum Thema AIDS aus dem Jahr 1989, und neuerdings mit »P.A.I.N.«, der von Goldin gegründeten Gruppe, die Museen dazu bringen will, Geld der Sackler-Familie abzulehnen, die mit der Herstellung von Oxycodon viel Geld verdienten.
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Keine Überraschung war dieser Preis auf der anderen Seite, weil er sich allzu sehr in den engen Bahnen politischer Korrektheit bewegt.
Es ist halt alles ein bisschen zu einfach. Es ist zu einfach, wenn man bei einem Festival vorher schon weiß: eine Frau wird den Goldenen Löwen gewinnen; die Regisseurin aus Afrika wird – weil sie Frau ist und dazu nicht-weiß – in jedem Fall einen Hauptpreis kriegen; und der iranische Regisseur Jafar Panahi wird, weil er gerade
inhaftiert ist, auch nicht ohne einen wichtigen Preis nach Hause gehen können.
Offenbar musste der Goldene Löwe schon wieder – zum dritten Mal in den letzten vier Jahren – an einen US-amerikanischen Film gehen. In den letzten Jahren wirkt das Festival am Lido zunehmend wie ein Außenposten der US-Filmindustrie, ein Flugzeugträger des US-Kulturimperialismus. Diese Amerika-Dominanz wird langsam zur Regel und sie wird ein Problem für dieses Festival.
Es ist zu einfach, weil dies dem Wettbewerb schadet, weil es den Eindruck erweckt, Preise gebe es inzwischen nur noch für Hautfarbe, für Geschlecht, für Herkunft. Es sind genau solche Entscheidungen, die leider durch die Qualität der Filme nicht gedeckt sind, die einen Großteil des Publikums und mehr und mehr auch der Medien dem Festivalkino entfremden.
Die internationale Kultur, wie sie sich auf solchen Festivals selbst inszeniert, ist zunehmend im Klammergriff der Wokeness. Dies ist zwar eine Mode, und sie wird so sicher vergehen wie der Schnee im Frühling und wie der marxistische Jargon nach 1970. Aber zur Zeit ist die Wokeness da und zur Zeit schadet sie dem Kino. Dem Kino, das sich sowieso schon in der schwersten Krise seiner Existenz befindet, und das Festivals dringend braucht, um bestehen zu können gegen den Angriff der Streamer, gegen den Angriff unser aller Faulheit und Müdigkeit, gegen die Pandemiefolgen. Es nutzt niemandem, auch nicht den Frauen und allen anderen angeblich oder tatsächlich Marginalisierten dieser Welt, wenn das Kino komplett verschwindet und durch Streaming-Filme ersetzt wird.
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Immerhin den Regiepreis gab es für Bones and All vom Italiener Luca Guadagnino. Dem ist das Kunststück eines zärtlichen Kannibalenfilms gelungen, der die stärksten Kinoaugenblicke des ganzen Festivals bot. Guadagnino zeigt die Kannibalen sympathisch und voller Gewissensbisse, als sympathische Wesen, die Triebtäter sind, weil er eigentlich von Außenseitern erzählen möchte: Es geht um das Andere, was nicht integrierbar zu sein scheint, und unsere Toleranz auf echte Proben stellt: Die jungen »Esser« könnten auch Obdachlose oder Drogensüchtige sein. Bones and All ist wunderschönes, über weite Strecken aufregendes Kino geglückt: Ein Roadmovie, der die Vorstellung von amerikanischer Freiheit entfaltet, ein Liebesfilm, ein Monsterfilm.
Auch Santiago Mitres argentinisches Historiendrama Argentina 1985 fiel angenehm auf. Darin geht es um den Umgang des Landes mit seiner eigenen Vergangenheit: Nach der Rückkehr zur Demokratie 1983 wurde hier erstmals eine Diktatur von Zivilgerichten abgeurteilt. Es war »das Nürnberg Lateinamerikas«.
Mitres Held ist der Staatsanwalt Julio Cesar Strassera, der voller Mut gegen Todesdrohungen seinen Weg ging, Beweise sammelte und Zeugen zum Reden
brachte und so die anfangs skeptische Mehrheit der Gesellschaft auf seine Seite zog. Die filmischen Mittel sind die eines klassischen US-Gerichtsfilms: Gut kämpft gegen Böse. Es gibt persönliche Konflikte, aber auch Augenblicke der Heiterkeit. Zwischendurch ist der Film ein menschlicher Polit-Thriller in der Tradition von Costa Gavras.
Dieser historische, auf den ersten Blick spezielle Film ist gerade heute weit über Argentinien hinaus von Interesse. Denn er entfaltet die
Prinzipien, auf denen man Diktaturen aburteilen kann, und er macht klar: »Sadismus ist keine politische Idee. Er ist auch keine militärische Strategie. Sondern eine moralische Perversion. ›Dies gilt universell. Und man kann diesen Film nicht sehen, ohne auch an gegenwärtige Diktaturen und ihre Schergen zu denken.‹«
Neben solchen Filmen, in denen es – wie bei Poitras' Löwensieger – um mutige Einzelkämpfer geht, die für ihre Ideale einstehen, gab es einen zweiten auffallenden Erzählstrang: Oft sah man Patchworkfamilien auf der Leinwand, wie in dem absurd-komischen Japaner Love Life und bei der französischen jungen Wilden Rebecca Zlotowski: Les enfants des autres (»Die Kinder der Anderen«) erzählt von einer Frau, deren neuer Freund eine Tochter hat. Plötzlich sieht sie sich in der Mutterrolle wieder. Ein kluger, suchender Film, der ohne moralische Ratschläge auskommt, oder die oft im Kino zu findende Behauptung, dass Frauen »eigentlich« alle Mütter werden möchten, und erst in dieser Rolle ihre wahre Bestimmung finden.
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Weitere Preise:
Beste Schauspieler: Cate Blanchett (für Tár von Todd Field) und Colin Farrell (für The Banshees of Inisherin von Martin McDonagh). Martin McDonagh gewann auch das Beste Drehbuch. Der »Premio Marcello Mastroianni« für einen jungen Schauspieler oder Schauspielerin gewann Taylor Russell
von Bones and All von Luca Guadagnino.
Alles Amerikaner.
In der ORIZZONTI-Sektion gewann der Iraner World War III von Houman Seyedi. Toller Film, dazu bald mehr.
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All diese Preise spiegeln recht gut einen Wettbewerb, der einige gute Filme enthielt, in dem aber kein Film das Publikum komplett in Bann zog, dem Kino neue Horizonte öffnete, oder mehr als ein, zwei wirklich magische Momente und »Wow!«-Augenblicke enthielt. Aber das Staunen ist nicht nur der Anfang der Philosophie, es ist auch der Anfang des Kinos.
(to be continued)