02.09.2022

Gegen die »pasteurisierte Wirklichkeit« unseres Wohlstandslebens

Bardo
Esoterisch Tanzen: Bardo
(Foto: Filmfestspiele Venedig / Iñarritu, BARDO)

Worauf es im Leben wirklich ankommt, erzählen Alejandro González Iñárritu und Bobi Wine – Notizen aus Venedig, Folge 02

Von Rüdiger Suchsland

»Please could you stop the noise,
I am trying to get some rest.«
Radiohead, Paranoid Android

Gestern am ersten Abend der Film­fest­spiele von Venedig musste schnell geschrieben werden, damit der Bericht­erstatter auch wieder schnell ins Kino gehen konnte. Heute habe ich etwas mehr Zeit.
Der Applaus für Noah Baumbachs Eröff­nungs­film White Noise blieb am Mitt­woch­abend in Venedig noch relativ verhalten. Zu recht. Bevor ich aber darauf nochmal etwas eingehe, erstmal zu zwei neuen Werken, zwei richtigen, aller­dings sehr unter­schied­li­chen Hammer-Filmen, mit denen es in Venedig jetzt richtig losging.
Die Rolle der Kunst und des Künstlers in der Gesell­schaft ist wohl in allen Teilen der Welt bedeu­tender als in Deutsch­land – natürlich auch, weil die Not der poli­ti­schen Verhält­nisse dort größer ist.

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Habt ihr, liebe Leser, schon jemals etwas von Bobi Wine gehört? Wahr­schein­lich nicht, so wie wohl kaum ein Zuschauer im Palazzo di Cinema bei den Film­fest­spielen auf dem Lido. Aber jetzt kennt ihn zumindest in Venedig jeder: Bobi Wine ist in Afrika und in den schwarzen Commu­ni­ties der west­li­chen Länder sehr bekannt, in seiner Heimat Uganda ist er der größte Popstar des Landes.

Wine ist aber nicht nur ein großes Unter­hal­tungs­ta­lent – er ist auch ein sehr tapferer Mann. Bobi Wine: Ghetto President heißt ein Doku­men­tar­film von Chis­to­pher Sharp und Moses Bwayo, der noch am Mitt­woch­abend, direkt nach der Eröff­nungs­ver­an­stal­tung in Venedig gezeigt wurde. Er erzählt, wie aus einem namen­losen Ghettokid ein Popstar wurde. Und wie dieser Popstar sich in wenigen Jahren erst zu einem ambi­tio­nierten Nach­wuchs­po­li­tiker, dann einem Bürger­rechtler und einer mora­li­schen Instanz entwi­ckelte.
Denn in Uganda regiert seit 36 Jahren der gleiche Präsident namens Yoweri Museveni mit harter Hand das Land. Nicht alles ist schlecht, was er tut, Bobi Wine selbst hat ihn, wie er im Film erzählt, lange bewundert. Er hat den Bürger­krieg beendet, ist ein Verbün­deter des Westens und es gibt demo­kra­ti­sche Wahlen, bei denen er regel­mäßig mit Mehr­heiten zwischen 50 und 70 Prozent gewählt wird. Aber diese Wahlen stehen unter Verdacht, und es ist ganz klar, dass der inzwi­schen über 70-jährige Museveni nicht willens ist, seine Macht abzugeben. Um seine poli­ti­schen Gegner einzu­schüch­tern, ist ihm fast jedes Mittel recht, auch Folter und andere Gewalt.

Bobi Wine gehört zu den wenigen, die sich nicht einschüch­tern lassen. Der Film verfolgt, wie er zum wich­tigsten Gegen­spieler des Präsi­denten wird und ihn bei den letzten Wahlen vor wenigen Monaten an den Rand einer Nieder­lage brachte. Der Film zeigt auch, welches Risiko der Popstar dabei eingeht.

Dieser wirklich gute und beein­dru­ckende Doku­men­tar­film ist deshalb sehr gelungen, weil er selten zu sehende Afrika-Bilder zeigt, und dabei weder klischee­be­laden ist, noch ein allzu idyl­li­sches roman­ti­sie­rendes Afrika-Bild präsen­tiert. Er zeigt Glück und Bruta­lität, er zeigt Not und Elend und er zeigt, was an einem Land wie Uganda faszi­nieren kann. Er zeigt, welchen Preis Demo­kra­ti­sie­rung kostet, und er zeigt Menschen, die bereit sind, ihn zu zahlen.

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Am Donners­tag­morgen dann gab es erstaun­liche Bilder. Dreimal hob der Schatten vom Wüsten­sand ab, erst beim dritten Mal flog er davon, und die Leinwand zeigt Wüste von oben, so weit das Auge blicken kann. Birdman im Llano Estacado.

Die zweite Szene zeigt eine Geburt: Irgend­etwas ist mit dem Kind. »He wants to stay inside«, sagt der Arzt. »What do you mean?«, fragt die Mutter. »He say’s, the world is fucked up.«
Kurz darauf sieht man sie das Kran­ken­haus verlassen, während sie die blutige Nabel­schnur hinter sich her zieht, die sich meterlang durch den ganzen Kran­ken­haus­gang schlän­gelt.

Das dritte Bild zeigt dann den Held (und Vater des Kindes) beim morgend­li­chen Aufstehen: Auch hier ein Absur­dismus, aber nicht so bild­ge­waltig, sondern in den Worten der Fern­seh­nach­richten: »Amazon kauft Baja Cali­fornia« ist da zu hören.

Es ist (noch) keine ganz realis­ti­sche Welt, die Alejandro González Iñárritu zeigt.

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Der Regisseur (Amores perros) erzählt von einem mexi­ka­ni­schen Schrift­steller in der Lebens­krise. Im Zentrum steht ein Endfünf­ziger, Schrift­steller und Jour­na­list, der in den USA einen großen Preis (einen »Gringo Award«) gewinnt und aus diesem Anlass auf sein Leben zurück­blickt. In Tagträumen und Visionen begegnet er sich selbst in der Kindheit; er begegnet seinem toten Vater, seinem unge­bo­renen Sohn, den Frauen seines Lebens; aber er begegnet auch den Toten und den Orten der mexi­ka­ni­schen Geschichte, dem Spanier Hernando Córtez, der vor 500 Jahren Mexiko eroberte,und über »500 Jahre Miss­ver­s­tändnis« klagt – »ich legte den Grund­stein für ein Imperium« –, den Soldaten des US-mexi­ka­ni­schen Kriegs, er begegnet Geistern und Visionen.

Bardo, der im Unter­titel »Falsche Chronik einiger Wahr­heiten« heißt, erzählt in diesem mit Phan­ta­sien gespickten episo­dischen Statio­nen­drama drei Stunden lang und eher episch als drama­tisch, und sehr katho­lisch unrein: Blut fließt, zu Ekel gibt es Anlass, immer wieder gibt es Szenen mit konkreten, absurden, surrealen Effekten: Plötzlich fallen auf einer Straße alle Passanten um. Auf der riesigen Plaza de la Consti­tu­ción, dem »Platz der drei Kulturen« in Mexiko City, türmt sich ein Toten­haufen.

Sand ist zenti­me­ter­hoch in der Wohnung, eine Straßen­bahn ist voller Wasser. Alejandro González Iñárritu schafft immer wieder groß­ar­tige sinnlich-satte Bilder.

Zugleich legt sich dieser Regisseur selbst Steine in den Weg. Dadurch, dass er immer alles will: eine persön­liche Geschichte erzählen, und zugleich die Geschichte eines ganzen Landes, seines Mexiko; dem großen Federico Fellini huldigen, große Bilder schaffen voller surrealer und absur­dis­ti­scher Effekte, und so weiter und so weiter, dadurch verhed­dert er sich im Absichts- und Anspruchs­ge­flecht.

Aber besser so als anders. Besser zu viel wollen als zu wenig. Besser unsauber sein als porentief rein.

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Ähnlich wie der konsu­mis­mus­kri­ti­sche Eröff­nungs­film White Noise ist Bardo ein Manifest gegen die, wie es im Film heißt, »pasteu­ri­sierte Wirk­lich­keit« unseres Wohl­stands­le­bens – ein Film, der uns daran erinnern will, worauf es im Leben wirklich ankommt.

Zugleich ist Bardo humorvoll und warm­herzig.

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Auch dies ist im Übrigen ein Film, der wieder einmal mit dem Geld von Netflix produ­ziert wurde. Aber im Unter­schied zu den meisten Produk­tionen der Strea­ming­dienste zeigt er Bilder, die wirklich fürs Kino gemacht sind und die nur dort funk­tio­nieren können.

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Darum nochmal zurück zu White Noise. Der Vergleich dieser beiden von Netflix produ­zierten Werke zeigt markante Unter­schiede: In White Noise dominiert formal jener lang­wei­lige mittlere Realismus, der nicht nur die Fern­seh­sender kenn­zeichnet, sondern eben auch mehr und mehr die Strea­ming­dienste – weil diese im Prinzip nichts anderes sind als Fern­seh­sender der anderen Art. Aus dem angeb­li­chen neuen Erzählen der Strea­ming­dienste und dem Serien-Erzählen überhaupt wurde bald durch die enormen Kosten und die Inflation an Angeboten statt einem neuen Medium nur eine Art neues weiteres Fernsehen, also ein neues Altes.

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White Noise ist formal voll­kommen unin­ter­es­sant. Ein Film ohne starke Bilder, ohne Extreme, ohne echte Totalen, gewagte lange Einstel­lungen, ohne Groß­auf­nahmen, sondern immer nur eine Aufein­an­der­folge von Halb­to­talen – wie man es eben auf dem Telefon gut ansehen kann.
Inhalt­lich ist die Geschichte gut, aber das genügt nicht, und für die Geschichte ist auch weit mehr Don DeLillo verant­wort­lich.

(to be continued)