Gegen die »pasteurisierte Wirklichkeit« unseres Wohlstandslebens |
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Esoterisch Tanzen: Bardo | ||
(Foto: Filmfestspiele Venedig / Iñarritu, BARDO) |
»Please could you stop the noise,
I am trying to get some rest.«
Radiohead, Paranoid Android
Gestern am ersten Abend der Filmfestspiele von Venedig musste schnell geschrieben werden, damit der Berichterstatter auch wieder schnell ins Kino gehen konnte. Heute habe ich etwas mehr Zeit.
Der Applaus für Noah Baumbachs Eröffnungsfilm White Noise blieb am Mittwochabend in Venedig noch relativ verhalten. Zu recht. Bevor ich aber darauf nochmal etwas eingehe, erstmal zu zwei neuen
Werken, zwei richtigen, allerdings sehr unterschiedlichen Hammer-Filmen, mit denen es in Venedig jetzt richtig losging.
Die Rolle der Kunst und des Künstlers in der Gesellschaft ist wohl in allen Teilen der Welt bedeutender als in Deutschland – natürlich auch, weil die Not der politischen Verhältnisse dort größer ist.
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Habt ihr, liebe Leser, schon jemals etwas von Bobi Wine gehört? Wahrscheinlich nicht, so wie wohl kaum ein Zuschauer im Palazzo di Cinema bei den Filmfestspielen auf dem Lido. Aber jetzt kennt ihn zumindest in Venedig jeder: Bobi Wine ist in Afrika und in den schwarzen Communities der westlichen Länder sehr bekannt, in seiner Heimat Uganda ist er der größte Popstar des Landes.
Wine ist aber nicht nur ein großes Unterhaltungstalent – er ist auch ein sehr tapferer Mann. Bobi Wine: Ghetto President heißt ein Dokumentarfilm von Chistopher Sharp und Moses Bwayo, der noch am Mittwochabend, direkt nach der Eröffnungsveranstaltung in Venedig gezeigt wurde. Er erzählt, wie aus einem namenlosen Ghettokid ein Popstar wurde. Und wie dieser Popstar sich in wenigen Jahren erst zu einem ambitionierten Nachwuchspolitiker, dann
einem Bürgerrechtler und einer moralischen Instanz entwickelte.
Denn in Uganda regiert seit 36 Jahren der gleiche Präsident namens Yoweri Museveni mit harter Hand das Land. Nicht alles ist schlecht, was er tut, Bobi Wine selbst hat ihn, wie er im Film erzählt, lange bewundert. Er hat den Bürgerkrieg beendet, ist ein Verbündeter des Westens und es gibt demokratische Wahlen, bei denen er regelmäßig mit Mehrheiten zwischen 50 und 70 Prozent gewählt wird. Aber diese Wahlen stehen
unter Verdacht, und es ist ganz klar, dass der inzwischen über 70-jährige Museveni nicht willens ist, seine Macht abzugeben. Um seine politischen Gegner einzuschüchtern, ist ihm fast jedes Mittel recht, auch Folter und andere Gewalt.
Bobi Wine gehört zu den wenigen, die sich nicht einschüchtern lassen. Der Film verfolgt, wie er zum wichtigsten Gegenspieler des Präsidenten wird und ihn bei den letzten Wahlen vor wenigen Monaten an den Rand einer Niederlage brachte. Der Film zeigt auch, welches Risiko der Popstar dabei eingeht.
Dieser wirklich gute und beeindruckende Dokumentarfilm ist deshalb sehr gelungen, weil er selten zu sehende Afrika-Bilder zeigt, und dabei weder klischeebeladen ist, noch ein allzu idyllisches romantisierendes Afrika-Bild präsentiert. Er zeigt Glück und Brutalität, er zeigt Not und Elend und er zeigt, was an einem Land wie Uganda faszinieren kann. Er zeigt, welchen Preis Demokratisierung kostet, und er zeigt Menschen, die bereit sind, ihn zu zahlen.
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Am Donnerstagmorgen dann gab es erstaunliche Bilder. Dreimal hob der Schatten vom Wüstensand ab, erst beim dritten Mal flog er davon, und die Leinwand zeigt Wüste von oben, so weit das Auge blicken kann. Birdman im Llano Estacado.
Die zweite Szene zeigt eine Geburt: Irgendetwas ist mit dem Kind. »He wants to stay inside«, sagt der Arzt. »What do you mean?«, fragt die Mutter. »He say’s, the world is fucked up.«
Kurz darauf sieht man sie das Krankenhaus verlassen, während sie die blutige Nabelschnur hinter sich her zieht, die sich meterlang durch den ganzen Krankenhausgang schlängelt.
Das dritte Bild zeigt dann den Held (und Vater des Kindes) beim morgendlichen Aufstehen: Auch hier ein Absurdismus, aber nicht so bildgewaltig, sondern in den Worten der Fernsehnachrichten: »Amazon kauft Baja California« ist da zu hören.
Es ist (noch) keine ganz realistische Welt, die Alejandro González Iñárritu zeigt.
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Der Regisseur (Amores perros) erzählt von einem mexikanischen Schriftsteller in der Lebenskrise. Im Zentrum steht ein Endfünfziger, Schriftsteller und Journalist, der in den USA einen großen Preis (einen »Gringo Award«) gewinnt und aus diesem Anlass auf sein Leben zurückblickt. In Tagträumen und Visionen begegnet er sich selbst in der Kindheit; er begegnet seinem toten Vater, seinem ungeborenen Sohn, den Frauen seines Lebens; aber er begegnet auch den Toten und den Orten der mexikanischen Geschichte, dem Spanier Hernando Córtez, der vor 500 Jahren Mexiko eroberte,und über »500 Jahre Missverständnis« klagt – »ich legte den Grundstein für ein Imperium« –, den Soldaten des US-mexikanischen Kriegs, er begegnet Geistern und Visionen.
Bardo, der im Untertitel »Falsche Chronik einiger Wahrheiten« heißt, erzählt in diesem mit Phantasien gespickten episodischen Stationendrama drei Stunden lang und eher episch als dramatisch, und sehr katholisch unrein: Blut fließt, zu Ekel gibt es Anlass, immer wieder gibt es Szenen mit konkreten, absurden, surrealen Effekten: Plötzlich fallen auf einer Straße alle Passanten um. Auf der riesigen Plaza de la Constitución, dem »Platz der drei Kulturen« in Mexiko City, türmt sich ein Totenhaufen.
Sand ist zentimeterhoch in der Wohnung, eine Straßenbahn ist voller Wasser. Alejandro González Iñárritu schafft immer wieder großartige sinnlich-satte Bilder.
Zugleich legt sich dieser Regisseur selbst Steine in den Weg. Dadurch, dass er immer alles will: eine persönliche Geschichte erzählen, und zugleich die Geschichte eines ganzen Landes, seines Mexiko; dem großen Federico Fellini huldigen, große Bilder schaffen voller surrealer und absurdistischer Effekte, und so weiter und so weiter, dadurch verheddert er sich im Absichts- und Anspruchsgeflecht.
Aber besser so als anders. Besser zu viel wollen als zu wenig. Besser unsauber sein als porentief rein.
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Ähnlich wie der konsumismuskritische Eröffnungsfilm White Noise ist Bardo ein Manifest gegen die, wie es im Film heißt, »pasteurisierte Wirklichkeit« unseres Wohlstandslebens – ein Film, der uns daran erinnern will, worauf es im Leben wirklich ankommt.
Zugleich ist Bardo humorvoll und warmherzig.
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Auch dies ist im Übrigen ein Film, der wieder einmal mit dem Geld von Netflix produziert wurde. Aber im Unterschied zu den meisten Produktionen der Streamingdienste zeigt er Bilder, die wirklich fürs Kino gemacht sind und die nur dort funktionieren können.
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Darum nochmal zurück zu White Noise. Der Vergleich dieser beiden von Netflix produzierten Werke zeigt markante Unterschiede: In White Noise dominiert formal jener langweilige mittlere Realismus, der nicht nur die Fernsehsender kennzeichnet, sondern eben auch mehr und mehr die Streamingdienste – weil diese im Prinzip nichts anderes sind als Fernsehsender der anderen Art. Aus dem angeblichen neuen Erzählen der Streamingdienste und dem Serien-Erzählen überhaupt wurde bald durch die enormen Kosten und die Inflation an Angeboten statt einem neuen Medium nur eine Art neues weiteres Fernsehen, also ein neues Altes.
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White Noise ist formal vollkommen uninteressant. Ein Film ohne starke Bilder, ohne Extreme, ohne echte Totalen, gewagte lange Einstellungen, ohne Großaufnahmen, sondern immer nur eine Aufeinanderfolge von Halbtotalen – wie man es eben auf dem Telefon gut ansehen kann.
Inhaltlich ist die Geschichte gut, aber das genügt nicht, und für die Geschichte ist auch weit mehr Don
DeLillo verantwortlich.
(to be continued)