07.07.2022
39. Filmfest München 2022

Die Rückkehr der Kinder

Wild Roots
Hätte auch einen Preis verdient: Wild Roots
(Foto: 39. Filmfest München)

Das Kinderfilmfest des 39. Filmfest München überzeugte nicht nur durch einen neuen, perfekt ausgestatteten Spielort

Von Christel Strobel

Auch die Kinder sind In diesem Jahr beim Filmfest ins Kino zurück­ge­kehrt, den »Ort des unge­störten Sehens«, und zwar zahlreich – trotz schönstem Bade­wetter. Zudem zeigte sich bald, dass mit dem neuen Spielort »HFF Audimax«, dem Kinosaal der Hoch­schule für Fernsehen und Film, ein perfekt ausge­stat­teter Ort fürs Kinder­film­fest zur Verfügung stand.
Und Kinder­film­fest­leiter Tobias Krell verlieh seiner Freude Ausdruck, indem er in seiner Begrüßung die Kinder immer wieder mal aufmerksam machte, in welcher Umgebung sie sich hier befinden und wie gut das Kinder­film­fest in dieses Haus passt, in dem junge Menschen Film studieren! Für die dies­jäh­rige Ausgabe hatten er und sein Team sechs Langfilme und ein Kurz­film­pro­gramm ausge­wählt.

Schon die Eröffnung mit der Neuver­fil­mung der bekannten Geschichte vom Räuber Hotzen­plotz erwies sich im voll­be­setzten Audimax als erfolg­reiche Entschei­dung. Zunächst fragte man sich zwar, warum dieser Film nach dem so bekannten und mehrfach verfilmten Buch von Otfried Preußler für die Eröffnung auser­koren wurde, doch die Bedenken zerstreuten sich ange­sichts der Spiel­freude des gesamten Teams, allen voran Nicholas Ofczarek als Hotzen­plotz und August Diehl, dem die Rolle als dämo­ni­scher Zauberer Petro­si­lius Zwackel­mann sichtlich Vergnügen bereitet hat und der mit vollem Einsatz in Mimik und Gestik die beiden Buben Kasperl und Seppel einzu­schüch­tern versucht. Das mag für kleine Kinder erschre­ckend sein, aber es ist ja bekannt, dass es ein heiteres, entspanntes Ende gibt. Anlass für diese aktuelle Verfil­mung – Regie: Michael Krum­men­acher, gedreht wurde in Bayern, im Harz und in der Schweiz – ist das Jubiläum des 1962 erschie­nenen Buchs von Otfried Preußler.
Auch die FBW-Jugend-Filmjury hat den neuen Räuber Hotzen­plotz (FSK Alters­frei­gabe: ab 0) disku­tiert und bewertet, und zum Adjektiv »preuß­le­risch« die Höchst­zahl von 5 Sternen und auch eine Alters­emp­feh­lung gegeben: »Wenn man das Buch gelesen hat, ab 7 Jahren, und wenn man es nicht kennt, ab 8 Jahren.« Außerdem war die Münchner Gruppe der FBW-Jugend-Filmjury bei einer Vorfüh­rung im HFF Audimax und sprach danach auf der Bühne mit dem Filmteam.

Drei Filme widmeten sich dem Thema »Vater-Tochter-Bezie­hungen«:
Comedy Queen (Regie: Sanna Lenken, Schweden 2022) erzählt mit großer Sensi­bi­lität von einer schwie­rigen Phase im Leben der 13-jährigen Sasha. Sie muss mit dem Tod ihrer Mutter, die unter Depres­sionen litt und ihrem Leben ein Ende setzte, zurecht­kommen. Nach ersten, weniger gelun­genen Versuchen, auch den trau­ernden Vater durch ein paar witzig gemeinte Wort­spie­le­reien aufzu­mun­tern, legt sie eine „Über­le­bens­liste“ an mit persön­li­chen Zielen, um nicht zu werden wie ihre Mutter: 1. „Haare schneiden“ – 2. „Keine Bücher lesen“ – 3. „Niemals um ein Lebewesen kümmern“ und 4. „Werde eine Comedy Queen!“, um den Vater wieder zum Lachen zu bringen. Auf ihrem Weg heraus aus dem Schmerz wird sie von ihrer besten Freundin Märta und von ihrem liebe­vollen, aber tief­trau­rigen Vater begleitet. So kämpft sich Sasha durch ihre Gefühle, schwankt zwischen Trauer und Wut, macht gute wie uner­freu­liche Erfah­rungen und verfolgt beharr­lich ihr Ziel, eines Tages als „Comedy Queen“ aufzu­treten, den Schmerz in Humor zu verwan­deln. Sanna Lenken hat diese Geschichte einfühlsam und für das junge Publikum (empfohlen ab 10 J.) nach­voll­ziehbar insze­niert und Sigrid Johnson als Sasha spielt ihre anspruchs­volle Rolle mit einer beein­dru­ckenden Natür­lich­keit.

Wild Roots (Regie: Hajni Kis, Ungarn/Slowakei 2021)
Dieser Film (empfohlen ab 11 J.) thema­ti­siert eine schwie­rige Vater-Tochter-Beziehung: Tibor, sportlich und schnell mit der Faust, wenn sich Konflikte anbahnen, ist gerade aus dem Gefängnis entlassen, Niki lebt bei ihrer Groß­mutter ohne Kontakt zum Vater – bis sie ihn auf der Fahrt im Stadtbus entdeckt und ihm heimlich folgt. Er verhält sich ablehnend, doch Niki will ihren Vater kennen lernen. Beide haben es schwer mit sich und ihren Gefühlen, und so sind es nur kleine, oft auch rührende Schritte der Annähe­rung, die jedoch durch Tibors schnell aufflam­mende Gewalt­be­reit­schaft in seinem Job im Club gefährdet ist. Als Nikis Groß­mutter erfährt, dass die Enkelin Kontakt mit ihrem Vater hat, versucht sie dies zu unter­binden. Letztlich bringt Tibor eine unbe­herrschte Handlung im Sicher­heits­dienst erneut für drei Jahre in Haft. Der Film hat kein klas­si­sches »happy end«, lässt aber einen Hoff­nungs­schimmer, dass Vater und Tochter sich nicht mehr aus den Augen verlieren werden. »Wild Roots« beein­druckt durch eine zutiefst mensch­liche Haltung, die beiden – obwohl sie von ihren Schwächen und Defiziten geprägt sind – eine Chance gibt.
So war das beein­dru­ckend intensive Spiel­film­debüt der unga­ri­schen Regis­seurin Hajni Kis, die 2019 für ihren Abchluss­film den Young Talent Award beim Film­school­fest Munich bekam, ein Highlight im dies­jäh­rigen Kinder­film­fest.

Die Tochter Der Sonne (Regie: Catalina Razzini, Bolivien / Spanien / Deutsch­land 2021)
In Bolivien, auf der land­schaft­lich faszi­nie­renden Sonnen­insel im fast 4000 m hoch gelegenen Titi­ca­casee, entstand dieser außer­ge­wöhn­liche Film (empfohlen ab 8 J.).
Die male­ri­sche Insel wird inzwi­schen zahlreich von Touristen besucht, darauf haben sich die Insel­be­wohner mit ihren Hand­ar­beiten einge­stellt. So auch Lucia, die mit ihrer Familie und ihrem treuen Alpaka namens Panchito dort wohnt. Nach der Schule geht es zu Hause mit Hand­ar­beit weiter. Vater und Tochter weben aus Tatora-Schilf typische Figuren, die die Mutter an Touristen verkauft. An einem Morgen verlässt der Vater seine Familie mit dem Boot Richtung La Paz in der Hoffnung auf eine bezahlte Arbeit. Während das Leben mit Mutter und Bruder gleich­förmig weiter­geht, vermisst Lucia ihren Vater sehr und wartet sehn­süchtig auf dessen Rückkehr. Es wird aber nicht viel darüber geredet zu Hause, die Mutter ist wortkarg und streng. Eines Tages kommt der Vater so selbst­ver­s­tänd­lich zur Familie zurück, wie er sie verlassen hat, jetzt mit etwas Geld für den Haushalt. Aber während seiner Abwe­sen­heit hat sich seine Tochter verändert, das spürt er jetzt. Sie muss nun ihren eigenen Weg heraus­finden. Der Film faszi­niert durch die grandiose Seen-Land­schaft und vermit­telt mit großer Ruhe die Verän­de­rung der Vater-Tochter-Beziehung.

Mit One In A Million, der neuen Produk­tion von Joya Thome, war diesmal auch ein Doku­men­tar­film im Programm, dessen kleines, effek­tives Dreh-Team – Philipp Wunder­lich, Drehbuch mit Joya Thome, und Lydia Richter, Kamera – dasselbe war wie bei Thomes beson­derem Debütfilm Königin von Niendorf (2017). Der aktuelle Film porträ­tiert zwei Mädchen, Whitney, die in Georgia / USA lebt, und Yara in Neumünster im Norden Deutsch­lands. Beide sind in den sozialen Medien unterwegs und sie verbindet eine virtuelle Freund­schaft. Whitney ist zu Beginn der Dreh­ar­beiten Kunst­tur­nerin und Influen­cerin und Yara sozusagen ihr Fan. Ausgangs­punkt für diese Geschichte war Joya Thomes Faszi­na­tion am »Social Media-Ruhm für junge Menschen«, wofür sie gründlich recher­chiert, viele Skype-Inter­views im Vorfeld geführt sowie im Rahmen der Recherche in den USA mit ihrem Team mehrere 12- bis 15-jährige Mädchen zum Probedreh getroffen hat. Schließ­lich wurde doch das urprüng­liche Konzept, die Fan-Influen­cerin-Beziehung reali­siert, was einen leben­digen, teilweise auch erschre­ckenden Einblick in das harte Training der Kunst­tur­nerin in Georgia gibt. Whitney hat sich momentan vom Leis­tungs­sport ab- und der Musik zugewandt, hat eine klang­volle Stimme, wovon sich auch das begeis­terte Kinder­film­fest-Publikum im HFF-Audimax über­zeugen konnte. Yara in Neumünster, die Joya Thome ebenfalls mehrere Jahre begleitet hat, war virtuell auf der Leinwand anwesend. Wie Joya erzählte, »hat sich Yara von einem recht schüch­ternen Mädchen, das sich kaum getraut hat, auf andere Menschen zuzugehen, gewandelt und ist total aufge­blüht«. Großer Applaus für das Filmteam, das von 2018 bis August 2021 einschließ­lich der Pandemie mit dem Projekt beschäf­tigt war: »Das war fürs Projekt einer­seits gut, da durch den langen Dreh­zeit­raum Yara und Whitney vor unseren Augen groß geworden sind und wir diese spannende Zeit einfangen konnten, aber natürlich war die psychi­sche Belastung ziemlich heftig.«

Mit OINK (Mascha Halber­stadt, Nieder­lande 2022) war das Genre Anima­ti­ons­film / Puppen­trick vertreten, mit einer witzigen sowie auch ziemlich derben Geschichte.
Die neun­jäh­rige Babs verbringt ihre Sommer­fe­rien auf dem Land, wo es so etwas Sonder­bares wie den »Wurst­könig-Wett­be­werb« gibt. In die ländliche Idylle bricht ihr poltriger Cowboy-Opa ein, der sich aber mit seinem Geburts­tags­ge­schenk, dem kusche­ligen rosa Schwein­chen »Oink«, bei seiner verschreckten Enkelin erst mal gleich beliebt macht. Nach dem Willen der Eltern aber soll das Tierchen die Hunde­schule besuchen, um dort ein ordent­li­ches Benehmen zu lernen. Dass der Großvater aber ganz andere Pläne mit Oink hat, stellt sich bald als große Gefahr heraus. Der »wunderbar anar­chi­sche Trickfilm für Groß und Klein« hat eindeutig sein Ziel im Audimax der HFF erreicht…

Aus dem klug zusam­men­ge­stellten Kurz­film­pro­gramm mit sechs Beiträgen seien hier noch zwei besonders bemer­kens­werte Produk­tionen erwähnt: Der Zeichen­trick­film »Der Besuch« von Alexandra Schatz, Deutsch­land 2020, erzählt in vier Minuten die Geschichte einer ängst­li­chen Frau, die sich nie aus dem Haus traut, das in tristem schwarz-weiß traurig aussieht, doch als eines Tages ein bunter Papier­flieger durchs Fenster herein fliegt, bringt der wunder­bare Farben ins Haus und auf ihrem Gesicht kehrt ein Lächeln ein. Ein kleiner, ästhe­ti­scher Film – auch für kleine Kinder wunderbar.
Für schon etwas ältere Kinder eignet sich der islän­di­sche 16-minütige Realfilm über einen sechs­jäh­rigen Jungen, der von seiner Mutter übers Wochen­ende auf den Bauernhof des allein lebenden Vaters gebracht wird. Hier, in einer kargen und kahlen Land­schaft gibt es nichts, was einen Jungen inter­es­siert, und der Vater weiß auch nicht, was er mit seinem Sohn anfangen soll – bis sie beim Spazier­gang über die Wiesen ein verletztes Pferd finden… Ein ernste, aber nicht hoff­nungs­lose Geschichte, wovon einem noch lange das aufmerk­same, still fragende Gesicht des Jungen im Gedächtnis bleibt.

Am Ende des 39. Kinder­film­festes gab es zwei Preise und eine lobende Erwähnung:
Den nach einer exakten Formel errech­neten Publi­kums­preis erhielt – fast erwar­tungs­gemäß – die Neuver­fil­mung von Räuber Hotzen­plotz.

Zum ersten Mal wurde der CINEKINDL AWARD verliehen, dotiert mit 2500 Euro, gestiftet von Megaherz, der Münchner Produk­ti­ons­firma für Kinder­filme und -sendungen, deren Anliegen seit fast 40 Jahren es ist, »die heran­wach­senden Gene­ra­tionen in den Bann zu ziehen, zu infor­mieren und zu bilden«. Über diesen Preis entscheidet die »Cinekindl-Jury«, der im ersten Jahr angehörten: Pia Amofa-Antwi, Schau­spie­lerin und Mode­ra­torin, Reza Memari, Autor und Regisseur, und Jana Kreissl, Produ­zentin.
Eine lobende Erwähnung erhielt der Doku­men­tar­film One in a Million von Joya Thome.
»Durch den respekt­vollen Blick unter die Ober­fläche werden in diesem Film zwei Lebens­rea­li­täten erfahrbar, die – zumindest geogra­fisch – nicht weiter ausein­ander liegen könnten.«
Der erste CINEKINDL AWARD ging an Comedy Queen von Sanna Lenken mit der Begrün­dung: »Der Verlust eines Eltern­teils ist der wohl schlimmste Schmerz, den Kinder erleben können. Sich diesem Thema in einem Film für ein (wohl­ge­merkt nicht nur) junges Publikum zu widmen, ist mutig, wichtig und hier heraus­ra­gend umgesetzt.«
So setzt sich der Preis­segen für diesen Film fort; der Film erhielt bereits bei der Berlinale / Gene­ra­tion Kplus 2022 von der Kinder­jury den »Gläsernen Bären«.
Schade, dass der brisante sozi­al­kri­ti­sche Film Wild Roots aus Ungarn von der Jury bei ihrer Preis­ver­gabe nicht berück­sich­tigt wurde.