Dann sollen sie doch Kuchen essen! |
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Warum lief der nur nicht im Wettbewerb? Adil El Arbis Rebel | ||
(Foto: Presseservice 75. Filmfestspiele Cannes) |
»Die Alte hatte sich nur freundlich angestellt, sie war aber eine böse Hexe, die den Kindern auflauerte, und hatte das Brothäuslein bloß gebaut, um sie herbeizulocken. Wenn eins in ihre Gewalt kam, so machte sie es tot, kochte es und aß es, und das war ihr ein Festtag. Die Hexen haben rote Augen und können nicht weit sehen, aber sie haben eine feine Witterung wie die Tiere und merken’s, wenn Menschen herankommen. Als Hänsel und Gretel in ihre Nähe kamen, da lachte sie boshaft und sprach höhnisch: ›Die habe ich, die sollen mir nicht wieder entwischen!‹« – Grimms Märchen, »Hänsel und Gretel«
»Das schönste an männlichen Männern ist etwas Feminines. Das schönste an weiblichen Frauen ist etwas Männliches.« – Susan Sontag
»Er sah nichts als die blaue Blume, und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; ... Sein süßes Staunen wuchs mit der sonderbaren Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme seiner Mutter weckte.« – Novalis
13. The revolution will not be televised Es ist keine Zeit für die Revolution. Die Zeit mag reif sein für eine Revolution – Cannes ist es noch lange nicht.
Das Festival von Cannes ist mehr denn je das Versailles des Films, das Zentrum des Weltkinos. Und seine Bühne. Hier wird dem Kino selbst der Hof gemacht, nicht seinen Funktionären, nicht politischen Korrektheiten oder den Wünschen der Medien und Kommentatoren.
Ort, Zeremoniell und Pathos sind kein Selbstzweck, sie dienen dem einen Ziel: Das Kino soll auf dem Thron sitzen, und unbeschränkt durch andere Zwänge herrschen können.
Im Übrigen sollten die, die jetzt mal wieder die Revolution fordern, nicht vergessen: Nach der Revolution werden die Höflinge als Erstes geköpft. Als Zweites die Revolutionäre.
Das Schöne ist ja gerade, dass alles hier ein höfisches Ritual ist, ein Ritual, das dem Kino den Hof macht. Wer glaubt, dass das Kino dadurch besser wird, dass es demokratisiert wird, unterliegt einem schweren Irrtum. Das Kino als Kino muss nicht demokratisiert werden. Im Gegenteil muss das Kino als Kino den demokratischen Institutionen entzogen werden. Mehrheiten können nicht über Kunst entscheiden.
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12. Basis und Überbau. Ebenso wie Sport und Gesellschaft sind auch Film, Wirtschaft, Macht und Gesellschaft seit weit über 100 Jahren ein inniges Geflecht; das Kino ist Labor und Kondensat, Spiegel und Medium zugleich. Wie Fußballturniere, so sind auch Filmfestivals ein Schauplatz für das gesellschaftliche Ringen um Emanzipation und Teilhabe und für den politischen, ökonomischen und kulturellen Wettkampf zwischen Nationen und Kontinenten.
Wie der Sport ist auch
das Kino ein Medium der Eroberung öffentlichen Raums durch neue gesellschaftliche Gruppen, durch neue Diskurse. Er ist grundsätzlich von einer großen sozialen Offenheit geprägt, von relativer Durchlässigkeit im Vergleich zu der Undurchlässigkeit anderer Gesellschaftsbereiche. Kino war, wieder wie der Sport, auch eine der wenigen Bühnen, auf denen während des Kalten Kriegs der Ostblock mit dem Westen gleichziehen oder ihn sogar überholen konnte.
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10. Fischerdorf. Der Zustand von Cannes, nicht der des Festivals, sondern der dieser Stadt, dieser Maschine zum Filme-zeigen, spricht Bände über die Lage des Kinos. Mir tun die Kollegen ein bisschen leid, die diesmal zum allerersten Mal die Filmfestspiele von Cannes besuchen und die – da werden bestimmt andere mir zustimmen – keinen richtigen Eindruck bekommen von dem Flair, den dieses Festival entfalten kann. Dabei spricht einiges dafür, dass auch wir in den letzten 20 Jahren – wäre nicht die Pandemie dazwischen gekommen, wäre dies in diesem Jahr mein 20. Festivalbesuch – dass also auch wir keineswegs das goldene oder auch nur das silberne Zeitalter dieses Festivals erlebt haben, sondern eher das Eiserne. Was ist es jetzt? Das steinerne?
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9. Triangle of Happiness. Am letzten Tag sass ich nach der Preisverleihung mit den Italienern zusammen, darunter Anna Maria aus Rom und ihrem Freund Francesco. Im Gespräch ergab sich eine großartige Spinnerei: Stellen wir uns mal vor, wie es wäre, wenn die Motive aller Filme miteinander korrespondierten und in sich zusammenfielen: Auf der Insel von »Triangle of Sadness« käme dann aus dem direkt zum Strand führenden Fahrstuhl des Luxusresorts plötzlich Benoit Magimel im
weißen Anzug, der Hochkommissar aus Albert Serras Film. In dem orangenen Rettungsboot würden Desplechins hassende Geschwister Frère et Soeur zusammengepfercht. Und der Esel, der im Dschungel erschlagen wird, ist selbstverständlich der Held aus Skolimowskis Film.
Das wäre ein besserer Film, als so manche...
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8. Koloniale Phantasie. Das Highlight der letzten Tage war Albert Serras »Pacifiction«. Hat mich sehr positiv überrascht, ich hatte eher mit Tranquilizer-Kino gerechnet. Das Gegenteil war der Fall: Ein hypnotischer Dreistünder, der einen mit der ersten Kamerafahrt in Bann zieht.
In einem Schlüsselmoment von Pacifiction erklärt De Roller – Benoît Magimel – Hochkommissar der französischen Republik auf der Insel Tahiti, mit einem Anhauch von Kulturpessimismus, aber keineswegs von Niederlage, sondern triumphierend, dass Politik »eine Diskothek ist«. Von hier aus beginnt ein langer und intensiver Monolog, in dem er die Ohnmacht der Machthaber erkennt, er nimmt an, dass die falschen Chimären nur Teil einer Darstellung sind, nach der die Menschen alles kontrollieren wollen, ohne zu erkennen, dass alles entweicht, dass es andere, tiefere Kräfte gibt, die die Welt wirklich kontrollieren. Pacifiction ist eine Chronik des Wirkens dieser Kräfte, eine Reflexion über politische und menschliche Ohnmacht, und über die Unfähigkeit, das Böse in der Welt auszurotten. Etwas Schreckliches und Unheimliches kommt an die Oberfläche, etwas Seltsames treibt uns auf eine Art Apokalypse zu, in der der vorhergesagte Verfall des Westens erst noch geschehen wird. Das Böse ist auch in einen Raum eingedrungen, der vor Jahren von einigen als das letzte Paradies angesehen wurde, der als mögliche Zuflucht ermüdeter Westler galt, als Jungbrunnen. Claire Denis' Film L’intrus erzählte davon, vor über 15 Jahren. Wir befinden uns im Herzen Polynesiens, aber dieses Paradies ist zu einem miesen Nachtclub verkommen, in dem sich eine Reihe von sinistren Figuren betrinkt, die dazu verdammt sind, als tote Seelen durch die dunkelste Nacht zu wandern. Es gibt keine Touristen mehr auf dieser Insel, nur ein paar Parasiten, die auf die Dämmerung warten, um in das Herz ihrer eigenen Hölle einzudringen.
An diesem Ort am Rande der Welt verkleiden sich die Eingeborenen, um Rituale aufrechtzuerhalten, die zu bloßen Simulakren geworden sind. Die Natur allein leuchtet weiter, wird aber nicht mehr in ihrer ganzen Pracht, sondern als etwas Geheimnisvolles betrachtet. De Roller ist auf die Insel gekommen, um ein paar Dinge in Ordnung zu bringen, um an Dingen herumzubasteln, die sein politisches Handeln rechtfertigen. Im Laufe des Films werden wir Zeuge einiger protokollarischer Besuche des Funktionärs, deren großartigster ein Surftest vor den großen Wellen ist, eine Fahrt auf hoher See in die Schattierungen von Blau.
Ein Märchen, eine koloniale Phantasie zwischen Coppola, Querelle, Chantal Akerman und Claire Denis – ein wunderbarer letzter Film dieses verträumten Cannes.
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7. Film im Film. Dass der Zustand der Filmkultur in Deutschland so vergleichsweise desaströs ist, hat vielleicht auch damit etwas zu tun: Wie viel deutsche Film-im-Film-Filme gibt es, wieviel Reflexion über das Filmemachen? Wie viel Beschwörung auch des Zaubers, den Kino bedeutet? Es hat alles etwas miteinander zu tun. Sowas kommt von sowas. Es ist nicht voneinander zu trennen. Wer das Medium nicht liebt, wer die Künstler nicht liebt, wer sie nur als Stellvertreter eigener
Gelüste und Ansichten sieht, aber nicht für sich genommen, nicht in ihrem Eigenwert, der kann auch kein gutes Kino machen.
Es ist interessant den Film Les Pires, der Un Certain Regard gewann, vor dem Hintergrund von Olivier Assayas Irma Vep zu sehen.
Was leistet Kino? Welt vergessen; Welt spiegeln; Welt anders sehen.
Die narzisstische Kränkung der Deutschen gegenüber Cannes. Sie fühlen sich nicht geliebt, vielleicht sogar zu Recht – und darum lieben sie nicht zurück. Sondern sie hassen. Sie kompensieren ihre Unsicherheit darin, Cannes kleinzureden und zu banalisieren.
Das alljährliche Gemäkel bringt aber nix, ist durchschaubar und die schlechte Stimmungsmache schafft nur Eure eigenen Jobs ab. Zu Recht am Ende...
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6. Märchenstunde am Hof. Ey Tante! Warum hast du so große Zähne? Wenn ältere Leute sich plötzlich Jugendsprache anverleiben, unvermittelt »geil« oder »ey Alter« sagen, und sich dabei noch toll vorkommen. Meine alte Tante ist so eine.
Es gibt einen Enthusiasmus der Jungen für Cannes. Aber warum? Weil Cannes so ist wie es ist. Nicht weil Cannes sich ihnen anbietet oder anpasst, sondern weil sie in Cannes etwas erleben, was sie nirgendwo sonst erleben können.
Anspruch, Niveau, ein elitäres Denken, ja, auch das. Aber es geht um eine Leistungselite, nicht um Ansprüche, die sich aus Stand, Klasse, Stammesidentität oder Geschlechterzugehörigkeit ableiten lassen.
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5. Humanismus. Der holländische Kollege Berend, mit dem zusammen wir die Niederlage von Feyenoord Rotterdam gegen den AS Rom erlitten hatten, hat seine eigene These, die ich verführerisch genug finde, um sie wirken zu lassen: Jedes Filmfestival sei eigentlich extrem unnatürlich, ja unmenschlich: »Es ist doch lächerlich und absurd, fünf Filme am Tag zu sehen. Nach Claire Denis wäre es normal, alles sacken zu lassen und mit Freunden zu reden, und über seinen Text nachzudenken und nicht gleich hinterher zweieinhalb Stunden lang Cristi Mungiu zu sehen. Das ist inhuman.«
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Cannes ist heruntergekommen, sagt auch M., ein weitgereister kosmopolitischer Produzent. Die Wokeness von Teilen der Filmindustrie geht ihm genauso auf die Nerven wie der immer schlechtere Filmgeschmack. »Aus Unsicherheit« sagt er.
Früher war alles besser? Nein, bestimmt nicht. Aber manches schon.
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4. Frauenfeindlichkeit. Immerhin 4 von 24 Wettbewerbsfilmen stammen von Frauen. »Es geht nicht um Quote, sondern um Qualität« – so lautet die einzig vernünftige Antwort auf die Zumutung, Filme nach Geschlechtsmerkmalen auszuwählen, oder Quoten für Geschlechter einzuführen.
Wen hätte man denn bitte in den Wettbewerb einladen sollen? Mia Hansen-Love war nun erst vor 10 Monaten im Wettbewerb, das könnte ein Grund sein, warum sie es diesmal nicht war.
Cannes
funktioniert selbstverständlich auch über Loyalität.
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Aber Frauenfeindlichkeit?! Ich habe nicht den Eindruck, dass die Nespresso-Girls, die hier im hellblauen oder roséfarben im T-Shirt herumlaufen, und hier nicht nur zur Freude der Süddeutschen Sponsorenkaffee ausschenken, besonders unglücklich sind, und dass es sie empowern würde, wenn die Hälfte von ihnen im Job verlöre und dafür 50 Prozent Nespresso-Boys einzustellen.
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Man sollte die Dinge mal ein bisschen leichter nehmen. Mehr höfische Liberté an den Tag legen.
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3. Die armen Kritiker. Ob A oder P, um nur mal die zu nennen – man möchte die Kolleginnen und Kollegen in den Arm nehmen und trösten, sagen wie leid einem das tut, dass sie in Cannes sein müssen, die Armen, die doch so viel lieber woanders wären, man möchte sie aber auch fragen, ob sie schon vergessen haben, was zum Beispiel im vergangenen Jahr in Cannes gezeigt wurde: Finden sie das wirklich besser?
Erinnern wir uns nur an den ungarischen Film Die Geschichte meiner Frau, aus dem wir – es ist gerade mal zehn Monate her – kollektiv zum gleichen Zeitpunkt herausmarschierten, darunter unter anderem einige der hier erwähnten Autoren.
Oder finden Sie die Filme diesmal noch schlechter und glauben, dass Cannes insgesamt ein unwichtiges Festival ist?
Vielleicht ist es einfach nicht der richtige Ansatz, Filmfestivals wie Wein zu betrachten und in Jahrgängen zu denken. Vielleicht lohnt es, sich einmal auf die Überlegungen einzulassen, dass sich Filmfestivals ähnlich wie das Kino gerade in einer massiven Grundsatzkrise befinden, die nichts mit der Qualität einzelner Filme zu tun hat und nichts mit der alten Qualität einzelner Jahrgänge.
Schon die Tatsache, wie uneinig wir Kritiker uns darüber sind, welcher Film gut ist und welcher schlecht – ich z.B. finde Cronenbergs Film einen vollkommen missglückten Film, andere finden ihn super, während viele The Triangle of Sadness nicht verstehen, und ihn mindestens zynisch finden, während ich den für einen ausgezeichneten Film halte und für einen der wenigen, der das Zeug hat, das Kino aus der Gleichgültigkeit und Postpandemiestarre zu retten.
Vielleicht macht es mehr Sinn, einmal mit Frédéric Jaeger zum Auftakt von Cannes zu fragen, ob es eine Berlinalisierung von Cannes gibt?
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Die ganzen Rezepte, die jetzt zur Kur angeboten werden – Verjüngung des Programms, seine Verweiblichung, neue Namen, eine Altersgrenze für Teilnehmer im Wettbewerb, Länderquoten und dergleichen mehr – sind Zeitgeist pur und sonst gar nichts. Also leere Luft; zum Scheitern geboren schon in dem Moment, wo man zum ersten Mal darüber redet. Verjüngung und Verweiblichung wird Filmfestivals so wenig retten, wie das Kino. Solche Themen ernähren allenfalls ein paar akademische Räte in den Universitäten.
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2. Kunstverständnis. Aber was ist das für ein armseliges Verständnis von Kunst: Kunst als das, was die Menschen »sehen müssen«? Kunst ist das, was sie sehen wollen. Und auch das, was sie nicht sehen wollen. Aber bestimmt nichts, das sie sehen müssen, weil es in die Agenda irgendeiner Filmkritikerin oder eines Präsidenten passt.
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Skolimowski: Der Regisseur ist über 80 und in seiner ganzen Haltung aus meiner Sicht einer der allerjüngsten. Der Film ist tatsächlich etwas ganz Besonderes und auch ein guter Film: einfach schön gefilmt und unterhaltsam und trotzdem tief und man kann darin auch ein politisches Statement z.b. für Europa und gegen eine bestimmte Art der Tierbehandlung entdecken. Muss man aber alles nicht. Und das finde ich so angenehm.
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1. Zwei Stunden Hochdruckkino, zwei Wochen Genre: Elvis vom Australier Baz Luhrman brachte am Mittwochabend den Strand neben der Croisette von Cannes zum Beben und auch Tom Hanks wackelte auf dem Roten Teppich ein bisschen mit den Füßen. Das war noch nicht der letzte »Crowdpleaser« eines Festivals, das jenseits des stillen sensiblen Autorenkinos in diesem Jahr eine Menge Genrekino bot.
Für Aufsehen und minutenlange stehende Ovationen am Ende der
»Mitternachtsvorstellung« um kurz vor 3 sorgte der belgische Film Rebel. Bei dem Film des Belgiers Adil El Arbi handelt es sich tatsächlich um nichts Geringeres als ein Dschihad-Musical, das mit Gesangseinlagen von einer Mutter erzählt und ihren beiden Söhnen, die aus Leichtsinn, aber am Ende unfreiwillig in die Fänge der syrischen »Isis« geraten. Rebel ist erstaunlich gut und nicht wenige fragten am Freitag, warum dieser Film nicht im
Wettbewerb lief.
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0. Fazit. Cannes war super, wie immer.
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»Gretel schüttelte sein Schürzchen aus, daß die Perlen und Edelsteine in der Stube herumsprangen, und Hänsel warf eine Handvoll nach der andern aus seiner Tasche dazu. Da hatten alle Sorgen ein Ende, und sie lebten in lauter Freude zusammen. Mein Märchen ist aus, dort lauft eine Maus, wer sie fängt, darf sich eine große Pelzkappe daraus machen.«