17.02.2022
72. Berlinale 2022

Die beiden Seiten der Rasierklinge

Un été comme ça
Im Garten der Lüste: Un été comme ça
(Foto: © Lou Scamble / Metafilms)

Ruth Beckermann, Denis Côté und Claire Denis inszenieren in drei sehr unterschiedlichen Filmen weibliche Sexualität – als Fantasie, als Sucht, als Spiel

Von Dunja Bialas

Frauen als Männer­fan­tasie: Mutzen­ba­cher

»Wir leben in einer männer­feind­li­chen Zeit.« So ernüch­tert fällt das Fazit eines der Männer aus, die in Ruth Becker­manns Mutzen­ba­cher zum Casting vorspre­chen. Die versierte öster­rei­chi­sche Doku­men­tar­fil­merin hat sich den eroti­schen Roman »Josefine Mutzen­ba­cher« vorge­nommen, dem sie sich in einer Versuchs­an­ord­nung annähert. Geschrieben hat den Skan­dal­roman Felix Salten, auch bekannt für seine »Bambi«-Phantasie. Und da es sich bei den Sex-Aben­teuern, die die minder­jäh­rige Josefine im Keller ihres Wohn­hauses initiiert, zwei­fels­ohne um eine Männer­phan­tasie handelt, die heute so nicht mehr veröf­fent­licht werden könnte, ist das Vorgehen von Becker­mann auch sehr behutsam und sehr vorsichtig, und auch ein klein wenig thera­peu­tisch. Sie lässt die Männer den schlüpf­rigen Text verlesen, detail­reich in den Erotismen und deftig in seinem anzüg­li­chen Wiene­risch. Ob er sich vorstellen könnte, in dem zu drehenden Film auch einen Sexpart zu spielen?, fragt sie einen der Männer. Ja, könnte er. Ein anderer nur, weil er sich der verant­wor­tungs­vollen Regis­seurin anver­trauen würde. Mutzen­ba­cher ist ein Reigen von unter­schied­li­chen männ­li­chen Typen, die einen mit dunklen Tränen­sä­cken unter lichten, wasser­blauen Augen, andere noch ganz weich im Gesicht, viele wirken vulnerabel, verletzbar, sind getroffen in ihrer Männ­lich­keit.

Ist das der female gaze auf die Männer, die auf der Beset­zungs­couch Platz nehmen? Ruth Becker­mann gibt ihnen den Raum, eine Inner­lich­keit frei­zu­geben, die man nur selten erfährt und noch viel seltener im Kino zu sehen bekommt. Dafür hat sie den Preis für den Besten Film in der immer noch neuen Reihe »Encoun­ters« gewonnen. Ein wenig thera­peu­tisch ist das, wirkt aber auch sehr ehrlich und nicht didak­tisch. Divers ist das aber nicht, wie N. anmerkt, homo­se­xu­elle Fantasien haben in diesem Cis-Reigen keinen Platz – könnten aber viel­leicht auch mit der extremen Hetero­fan­tasie von Mutzen­ba­cher / Salten nur wenig anfangen.

Männer als Frau­en­fan­tasie: Un été comme ça

Denis Côté, der im Wett­be­werb in Un été comme ça wiederum provo­zie­rend frei einen Film über die weibliche Sexua­lität gemacht hat, würde jetzt sagen: Who cares? Ihm wurde verein­zelt ein male gaze zuge­schrieben, mit dem er auf junge sexsüch­tige Frauen in einem Retreat während des kana­di­schen Winters blickt. Hier geht es ausdrück­lich um Anti-Therapie. Weder sollen die Sexbe­ses­senen geheilt noch bestraft werden. Es geht um einen geschützten Raum, in dem außer Sex mit anderen alles erlaubt ist: Cham­pa­gner­trinken, Boot­fahren, Tanzen, Reiten, alles könnten Aphro­di­siaken sein für eine erfüllte Sexua­lität, die aber ins Leere fährt, denn man sieht die Frauen immer wieder – manchmal auch ein wenig verzwei­felt – mastur­bieren.

Dass dies kein schlüpf­riger »Schul­mäd­chen in Uniform« geworden ist, verdankt sich aber der Grund­per­spek­tive: Wir sehen hier insgesamt die Fantasien von jungen Frauen, die eine Sexologin zum Drehbuch beigesteuert hat. Vor allem aber die behutsame Kadrie­rung des 35mm-Materials, dessen Filmkorn mit den Hautporen in vielen extremen Close-ups zur Kern­schmelze geführt werden, nimmt dem Film jeglichen vulgären Anstrich, den er als Potential natürlich auch in sich trägt – als trashiges Retreat à la »Love Island«. Dann wieder hält die Kamera von François Messier-Rheault Abstand, kommt den Frauen nicht zu nahe, lässt sie bei sich. Montiert hat Dounia Sichov, die unter anderem auch Damien Manivels Tanzfilm Les enfants d’Isadora geschnitten und schon oft mit Côté gear­beitet hat. Sie weiß, dass es Zeit braucht, damit die Körper sich im Raum entfalten können. Der Film nimmt sich Zeit für die Szenen. In einer Bondage-Szene – die Frauen haben 24 Stunden Freigang, während dem sie ihre Fantasien wieder körper­lich ausleben – darf der Fesseler das Seil noch um den kleinen Zeh führen, bevor die Frau als Körper­kunst­werk in der Luft schwebt.

Dass Côté hier nicht ausrutscht, und weder pater­na­lis­tisch noch voyeu­ris­tisch von der Trieb­ge­trie­ben­heit weib­li­cher Sexua­lität erzählt, hat wohl auch damit zu tun, dass die Frauen bis auf eine Backstory Wound, die von einer Kindheit unter Miss­brauch erzählt, das Objekt­schema umdrehen und ihre Sexua­lität ganz und gar aktiv ausagieren. Die Schau­spie­le­rinnen – unter anderem Anne Ratte Polle als Leiterin des Retreats – wirken teilweise verträumt, ja, aber auch sehr aufrecht in ihrem Verlangen, und Côté vermeidet auch tunlichst alle Plot­dra­ma­ti­sie­rungen, die sich durchaus anbieten. So wird weder der Freigang der Frauen zur Kata­strophe noch lässt sich die einzige männliche Figur, der Sozi­al­ar­beiter Samir, von den über­se­xua­li­sierten Frauen provo­zieren. Un été comme ça ist ein heute eigent­lich unmög­li­cher Film, bei dem aber vor allem auch das warme Licht seiner Aufnahmen nachwirkt.

Liebe als Mädchen­fan­tasie: Avec amour et acharne­ment

Viele Frauen hätten einen male gaze, ohne dass das so genannt wurde, meint Denis Côté am Rande seiner Film­vor­füh­rung. Eine von ihnen könnte Claire Denis sein, die mit Avec amour et acharne­ment den Silbernen Bären für die Beste Regie gewann. Juliette Binoche darf hier zum dritten Mal nach Un beau soleil intérieur (2017) und High Life (2018) ihre körper­liche Lust ausspielen. Während aber der utopische Weltraum­film noch eine Entfes­se­lungs­phan­tasie war, die ihres­glei­chen sucht, und Un beau soleil intérieur als »Dreh­buch­vor­lage« Roland Barthes' philo­so­phi­sche »Fragments d’un discours amoureux« hatte und mit viel Humor und Selbst­ironie garniert war, nimmt sich Avec armour et acharne­ment doch deutlich ernst. Co-Autorin des Drehbuchs ist Christine Angot, die ihren eigenen Roman »Un tournant dans la vie« (2018) adaptiert hat. Der Film handelt von einer erwach­senen Frau, die ihren Verflos­senen wieder­sieht und um die es von da an geschehen ist. Im Roman heißt das so: »Ich über­querte die Straße ... Vincent ging auf dem Bürger­steig gegenüber vorbei. Ich blieb in der Mitte der Kreuzung stehen. Ich stand da wie erstarrt. Mit klop­fendem Herzen. Ich beob­ach­tete seinen Rücken, der sich entfernte. Breiter Ober­körper, schmale Hüften, er hatte eine beein­dru­ckende Statur. Ich hätte rennen und ihn einholen können. Er bog um die Ecke. Ich blieb mit ange­zo­genen Beinen stehen. Die Augen starrten auf die Richtung, die er einge­schlagen hatte. Ich zitterte. Ich konnte nicht mehr atmen.«

Es ist überhaupt nichts dagegen zu sagen, wenn Frauen unver­mutet wieder zu kopflosen Teenagern werden, noch dazu, wenn sie von Juliette Binoche gespielt werden, der das ausge­spro­chen gut steht. Das hatte sie schon in Safy Nebbous Celle que vous croyez unter Beweis gestellt. Forciert wirkt es trotzdem, zumal wenn ihr Partner Jean soeben aus einem längeren Gefäng­nis­auf­ent­halt zurück in ihr Leben gekommen ist – er war uner­reichbar, nicht der andere, François. Gut, aber Plau­si­blität kann kein Kritie­rium sein, wenn es um Filme geht. Das Problem ist eher das Drehbuch, auch, dass Binoche so schwach sein muss in diesem Film, neben dem starken und zärt­li­chen – und auch besser erzählten – Vincent Lindon, um den sich eine Paral­lel­hand­lung spinnt, die mit der Binoche-Sphäre kaum Berüh­rungs­punkte findet. Hier kommt eher der Denis-Plot zum Tragen, denn Lindon hat aus einer früheren Beziehung einen halb­wüch­sigen Sohn, der als Farbiger mit Iden­ti­täts­pro­blemen zu kämpfen hat, weil er ohne Mutter bei der Oma (Bulle Ogier) aufge­wachsen ist. Lindons Figur gibt ihm beein­dru­ckenden Halt. Er ist der sich sorgende Vater, der fürsorg­liche Vater gar, er übernimmt den Care Part. Mit seinem Körper, der sich seit Titane auf wunder­bare Weise zu einem Zwischen­zu­stand von Verlet­zung und Stärke trans­for­miert hat, verankert er den Film mit großer Ruhe und Selbst­ge­wiss­heit. Während Binoche sich wiederum auf der leicht­ge­wich­tigen Seite des Films (der inter­na­tio­nale Titel heißt so auch: Both Sides Of The Blade) mit dem jüngeren Ex-Geliebten (Grégoire Colin) vergnügt, sich dabei aber unsicher ist und alles als ein Spiel ohne Konse­quenzen nehmen will. Das ist eine ein bisschen sehr kindliche Auffas­sung über den Gemüts­zu­stand einer erwach­senen Frau, selbst wenn sie sich in einer leiden­schaft­li­chen Liebe »verlieren« mag, die aber bei Denis / Angot eben auch immer das sein soll: Liebe. Und nicht nur Sex, wie bei Côtés sexsüch­tigen jungen Damen.

Eine Actor’s Explosion im letzten Drittel des Films aber kann über dieses Ungleich­ge­wicht hinweg­trösten. Als Jean hinter Saras Affäre mit François kommt, entfaltet sich mit voller Wucht eine Streit­szene, die in ihrer Verve an Who’s Afraid of Virginia Woolf? (1966) mit Elizabeth Taylor und Richard Burton zu erinnern vermag. Binoche und Lindon sind wie sie ein Traum-Lein­wand­paar, das viele Gegen­sätze ausspielen kann: das Weibliche und das Männliche, das Mädchen­hafte und das Männer­große, das Egois­ti­sche und das Verletz­bare. Quer über die Gender-Grenzen hinweg. Mit einem anderen Drehbuch hätte das einer der besten Filme der Berlinale werden können.