72. Berlinale 2022
Fragmente einer Sprache des Kinos |
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Zweitbester Film bislang: Mitra Farahanis À vendredi, Robinson | ||
(Foto: Berlinale Presseservice) |
»Ich kann nicht genau erklären warum, aber für mich ist das ICC typisch Berlin, das Ding sieht aus wie ein Raumschiff im futuristischen Design der 1980 er Jahre. 1982 habe ich das Finale meine Superhelden Filmchen 'Captain Berlin – Retter der Welt' vor dem ICC gedreht. An einem Sonntagvormittag auf Super 8 und ohne Drehgenehmigung. Damals konnte man sowas noch ungestraft machen.«
- Jörg Buttgereit, in: »Berlin Visionen«; Berlin 2021, S.198
Wem unsere differenzierten Artechock-Analysen nicht kurzweilig genug, und meine Texte zu lang sind – Gruß an K.E. : –, dem empfehlen wir einschränkungslos den Kritikerspiegel von den konkurrierenden Kollegen von Critic.de. Dies natürlich auch deswegen, weil dort Artechock-Redakteurin Dunja Bialas genauso ihre Punkte vergibt, wie ich, aber auch andere gelegentliche Autoren: Anne Küper und Till Kadritzke und überhaupt so geschätzte wie in der Punktevergabe disparate Kollegen.
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Den wahrscheinlich besten Film des ganzen Festivals habe ich gleich am ersten richtigen Tag, am Freitagmorgen gesehen: Coma von Bertrand Bonello. Und den vielleicht Zweitbesten gleich hinterher: À Vendredi Robinson von Mitra Farahani, einer Iranerin.
Coma ist ein in jeder Hinsicht außerordentlicher, grandioser Film. Ein Film über den Lockdown. Ein Film über Freundschaft, über Psychoanalyse, über das Unbewusste unserer Gegenwart. Es gibt Filme, die ignorieren unsere jetzigen Zustände komplett, in denen finden sich nicht mal Spurenelemente von Corona und von Lockdown, obwohl sie erst dann
gedreht worden. Coma geht mitten hinein, ohne je zu moralisieren, ohne sich in Lager einspannen zu lassen.
Natürlich wäre dies der zehnmal bessere Eröffnungsfilm gewesen, wenn Carlo Chatrian denn den Mut hätte, den dieses Festival braucht, um wieder zu Cannes oder Venedig aufzuschließen. Denn dieser Film trägt das ganze Kino, alle seine
Facetten in sich.
Mehr zu beiden Filmen in den nächsten Tagen.
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Im Schnelldurchlauf jetzt erstmal erste Eindrücke von Sektionen und von anderen Filmen. Bisher habe ich nur Filme aus zwei Sektionen gesehen, dem Wettbewerb und der Encounter Sektion. Am Sonntag beginne ich dann auch mit Filmen aus den anderen Reihen.
Grundsätzlich wird es diejenigen, die ein bisschen was wissen von der Berlinale, nicht überraschen zu hören, dass der Wettbewerb einmal mehr vergleichsweise schwach ist, wenn man ihn mit dem Wettbewerb von Cannes und Venedig vergleicht, die er in seiner Qualität und seinem Niveau, seiner Vielfalt und letztendlich auch seinem Anspruch meilenweit unterbietet. Der Wettbewerb der Berlinale ist einfach nicht auf Augenhöhe mit dem der beiden anderen Film-Festivals.
Eine weitaus
spannendere Sektion ist die »Encounters«.. Hier ist jeder der vier Filme, die ich bisher gesehen habe, hochinteressant, sehr speziell und in einem gewissen Sinn einzigartig. Man kann die Filme dort alle nicht miteinander vergleichen, außer in der Tatsache, dass es ihnen um so etwas geht, wie das, was ich hier mal »reines Kino« nennen möchte. Das heißt: Es geht ihnen darum, auch die Ausdrucksformen des Kinos zu erkunden. Natürlich haben die Leute was zu erzählen. Mal mehr, mal
weniger. Sie haben wenn man so will eine Geschichte. Aber Geschichten und Themen und Figuren und die Frage, ob »wir« uns mit denen identifizieren oder nicht und was uns diese Figuren »zu sagen« haben – das alles ist zweitrangig gegenüber der Frage, was die Haltung der Filmemacher ist. Die Filmemacher der »Encounters«-Reihe haben in jedem Fall eine klar erkennbare individuelle Haltung. Und eine überzeugende noch dazu – was auch für den Geschmack der zuständigen
Auswahlkommission spricht.
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Zum Wettbewerb muss man sagen, dass, so groß der Abstand des Berlinale-Wettbewerbs zu Cannes und Venedig ist, so sehr muss man auch zugeben, dass dieser Abstand sich durch Carlo Chatrians Auswahl verkleinert. Zum ersten Mal nach langer Zeit ist mir auch am dritten Tag des Festivals noch kein Film begegnet, bei dem ich mir gesagt habe: Dieser Film hätte genauso gut in Locarno oder San Sebastian laufen können oder sogar in noch kleineren Festivals. Das mag daran liegen, dass ich den einen oder anderen Film absichtlich versäumt habe und vielleicht ist es so, dass der mexikanisches Film Robe of Gems schon in San Sebastian oder in Locarno laufen könnte. Ich habe den Eindruck, dass er nur deswegen im Berlinale Wettbewerb läuft, weil die Regisseurin Natalia Lopez Gallardo die Frau von Carlos Reygadas ist. Also entsprechend gut vernetzt. Und weil es daher entsprechende Verpflichtungen, seien es moralische, seien es ökonomische des Festivals gibt, und weil man außerdem natürlich gerne einen mexikanischen Film im Wettbewerb hat. Ansonsten ist es schon so, dass man sich zum Beispiel den sehr starken Film Rimini von Ulrich Seidl sehr gut auch in Venedig oder Cannes im Wettbewerb vorstellen kann. Er würde dort vielleicht etwas weniger stark wirken und in Cannes würde man sich vielleicht fragen, warum er nicht in »Un Certain Regard« läuft – aber eigentlich auch nicht, denn es gibt viele gute Gründe, auch Gründe die im Film liegen, warum dieser Film eben in einem A-Festival-Wettbewerb läuft.
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Rimini ist zum einen der menschlichste Film von Ulrich Seidl seit langer Zeit, und es ist ein Film, bei dem sich nie die Frage stellt, ob es sich um einen Dokumentarfilm handelt oder um einen Spielfilm. Es ist ein Film, bei dem die Form ein Teil des Films ist und eine Einheit bildet mit allen anderen. Bei dem die Form nicht wie eine Schablone oder ein Muster nach Ulrich-Seidl-Methode dem Ganzen übergestülpt ist und entsprechend mitunter einen lackierten Eindruck hinterlässt. Ich habe Ulrich Seidls Filme immer für interessant gehalten Und teilweise auch für sehr gut. Aber ich hatte an ihnen eigentlich immer mehr auszusetzen als diesmal. Mich hat immer etwas gestört. Hier nun hat man nicht den Eindruck, dass ein Filmemacher in erster Linie das Gefühl hat, seine eigene Methode exekutieren zu müssen und das Ulrich Seidl in aller erster Linie wieder einen Ulrich-Seidl-Film gemacht hat. Genau dadurch ist es ein Ulrich-Seidl-Film geworden – versteht man, was ich meine?
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Kaum überraschend ist Claire Denise' Film Avec Amour et Acharnement der wohl spannendste unter den Wettbewerbs-Filmen bisher. Wie immer macht Claire Denis etwas, das nicht ganz ausrechenbar ist und von dem man sich auch nach Ende des Films noch fragt, was man da genau gesehen hat.
Wenn ich eben von der Methode Ulrich Seidls gesprochen
habe, dann wäre analog dazu die Methode von Claire Denis, sich selbst zu riskieren, sich selbst in eine Art Vorhölle zu begeben, auf ein Seil, auf dem sie dann tanzen muss. Es sind tatsächlich ihre Geschichten das, in das sich die Regisseurin vor allem hineinwirft, ihre Art Filme zu machen und zu erzählen ist eigentlich immer eine ähnliche, sie bekommt aber durch den Gegenstand immer etwas Neues und Überraschendes. Auch hier ist es überhaupt kein Thema, dass sie erzählt. In diesem Fall
ist es auch kein Genre. Sondern es sind Personen, Figuren, Menschen, vielleicht noch ein Milieu. Über dieses Milieu hätte man allerdings gerne mehr erfahren: Fußball und Kriminalität, Nachtleben, erwachsene Menschen, die in häufig wechselnden Beziehungen leben.
Es sind die Blicke der Frauen, die einem aus diesem Film vor allem in Erinnerung bleiben. Und zwar nicht nur die Blicke der Hauptdarstellerin Juliette Binoche, beziehungsweise ihrer Hauptfigur Sara, sondern auch die Blicke von der Figur, die nur in 2,3 Szenen zu sehen ist, aber hier doch eine ziemlich prägnant wird als die Freundin von Francois. Und die Blicke von Mati Diop, die eine ganz klare Nebenfigur spielt und nur zwei Auftritte hat. Aber diese zwei Auftritte haben es eben in sich.
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Ein Film, über den man auch sprechen muss, er ist der neue Film von Andreas Dresen. Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush. Ich weiß nicht recht was ich von diesem Film halten soll. Es ist erstmal kein schlechter Film. Es ist allerdings ein Film, der mich überhaupt nicht interessiert hat. Vorher nicht, während des Films dann ein bisschen mehr, und als der Film vorbei war dann wieder nicht wirklich.
Es ist ein anständiger, auch anständig gemachter Film. Aber man kann einen Film nicht nur deswegen gut finden, weil einem die moralische und politische Position die er artikuliert, gefällt. Oder weil man mit einer Figur Sympathie und Mitleid hat. Sympathie und Mitleid hat man natürlich mit der Hauptfigur, und viel Sympathie hat man vor allem auch mit ihrem Anwalt. Was Alexander Scheer auch in diesem Film wieder macht, unterstützt von einer starken Maske die zugleich nie aufdringlich ist, das ist nicht nur die interessanteste und stärkste Leistung des Films, sondern es ist auch über diesen hinaus beeindruckend.
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Auf Basis des Programmheftes vermutete David Steinitz in der SZ am Donnerstag »ein weiteres Jahr mit einem B-Programm«. Ich kann das soweit noch nicht nachvollziehen. Ich habe ein paar Filme vorab gesehen, über die ich inhaltlich jetzt noch nicht sprechen oder schreiben sollte, aber ich kann sagen: die sind ganz gut. Und ein Festival, das es sich erlauben kann, einen Bertrand Bonello nur in der Nebenreihe vorzuführen, das kann ja gar nicht so schlecht sein. Oder?