13.02.2022
72. Berlinale 2022

Fragmente einer Sprache des Kinos

À vendredi, Robinson
Zweitbester Film bislang: Mitra Farahanis À vendredi, Robinson
(Foto: Berlinale Presseservice)

Facetten von Allem: Erste Eindrücke im Schnelldurchlauf – Berlinale-Tagebuch, Folge 3

Von Rüdiger Suchsland

»Ich kann nicht genau erklären warum, aber für mich ist das ICC typisch Berlin, das Ding sieht aus wie ein Raum­schiff im futu­ris­ti­schen Design der 1980 er Jahre. 1982 habe ich das Finale meine Super­helden Filmchen 'Captain Berlin – Retter der Welt' vor dem ICC gedreht. An einem Sonn­tag­vor­mittag auf Super 8 und ohne Dreh­ge­neh­mi­gung. Damals konnte man sowas noch unge­straft machen.«
- Jörg Butt­ge­reit, in: »Berlin Visionen«; Berlin 2021, S.198

Wem unsere diffe­ren­zierten Artechock-Analysen nicht kurz­weilig genug, und meine Texte zu lang sind – Gruß an K.E. : –, dem empfehlen wir einschrän­kungslos den Kriti­ker­spiegel von den konkur­rie­renden Kollegen von Critic.de. Dies natürlich auch deswegen, weil dort Artechock-Redak­teurin Dunja Bialas genauso ihre Punkte vergibt, wie ich, aber auch andere gele­gent­liche Autoren: Anne Küper und Till Kadritzke und überhaupt so geschätzte wie in der Punk­te­ver­gabe disparate Kollegen.

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Den wahr­schein­lich besten Film des ganzen Festivals habe ich gleich am ersten richtigen Tag, am Frei­tag­morgen gesehen: Coma von Bertrand Bonello. Und den viel­leicht Zweit­besten gleich hinterher: À Vendredi Robinson von Mitra Farahani, einer Iranerin.

Coma ist ein in jeder Hinsicht außer­or­dent­li­cher, gran­dioser Film. Ein Film über den Lockdown. Ein Film über Freund­schaft, über Psycho­ana­lyse, über das Unbe­wusste unserer Gegenwart. Es gibt Filme, die igno­rieren unsere jetzigen Zustände komplett, in denen finden sich nicht mal Spuren­ele­mente von Corona und von Lockdown, obwohl sie erst dann gedreht worden. Coma geht mitten hinein, ohne je zu mora­li­sieren, ohne sich in Lager einspannen zu lassen.
Natürlich wäre dies der zehnmal bessere Eröff­nungs­film gewesen, wenn Carlo Chatrian denn den Mut hätte, den dieses Festival braucht, um wieder zu Cannes oder Venedig aufzu­schließen. Denn dieser Film trägt das ganze Kino, alle seine Facetten in sich.

Mehr zu beiden Filmen in den nächsten Tagen.

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Im Schnell­durch­lauf jetzt erstmal erste Eindrücke von Sektionen und von anderen Filmen. Bisher habe ich nur Filme aus zwei Sektionen gesehen, dem Wett­be­werb und der Encounter Sektion. Am Sonntag beginne ich dann auch mit Filmen aus den anderen Reihen.

Grund­sätz­lich wird es dieje­nigen, die ein bisschen was wissen von der Berlinale, nicht über­ra­schen zu hören, dass der Wett­be­werb einmal mehr vergleichs­weise schwach ist, wenn man ihn mit dem Wett­be­werb von Cannes und Venedig vergleicht, die er in seiner Qualität und seinem Niveau, seiner Vielfalt und letzt­end­lich auch seinem Anspruch meilen­weit unter­bietet. Der Wett­be­werb der Berlinale ist einfach nicht auf Augenhöhe mit dem der beiden anderen Film-Festivals.
Eine weitaus span­nen­dere Sektion ist die »Encoun­ters«.. Hier ist jeder der vier Filme, die ich bisher gesehen habe, hoch­in­ter­es­sant, sehr speziell und in einem gewissen Sinn einzig­artig. Man kann die Filme dort alle nicht mitein­ander verglei­chen, außer in der Tatsache, dass es ihnen um so etwas geht, wie das, was ich hier mal »reines Kino« nennen möchte. Das heißt: Es geht ihnen darum, auch die Ausdrucks­formen des Kinos zu erkunden. Natürlich haben die Leute was zu erzählen. Mal mehr, mal weniger. Sie haben wenn man so will eine Geschichte. Aber Geschichten und Themen und Figuren und die Frage, ob »wir« uns mit denen iden­ti­fi­zieren oder nicht und was uns diese Figuren »zu sagen« haben – das alles ist zweit­rangig gegenüber der Frage, was die Haltung der Filme­ma­cher ist. Die Filme­ma­cher der »Encoun­ters«-Reihe haben in jedem Fall eine klar erkenn­bare indi­vi­du­elle Haltung. Und eine über­zeu­gende noch dazu – was auch für den Geschmack der zustän­digen Auswahl­kom­mis­sion spricht.

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Zum Wett­be­werb muss man sagen, dass, so groß der Abstand des Berlinale-Wett­be­werbs zu Cannes und Venedig ist, so sehr muss man auch zugeben, dass dieser Abstand sich durch Carlo Chatrians Auswahl verklei­nert. Zum ersten Mal nach langer Zeit ist mir auch am dritten Tag des Festivals noch kein Film begegnet, bei dem ich mir gesagt habe: Dieser Film hätte genauso gut in Locarno oder San Sebastian laufen können oder sogar in noch kleineren Festivals. Das mag daran liegen, dass ich den einen oder anderen Film absicht­lich versäumt habe und viel­leicht ist es so, dass der mexi­ka­ni­sches Film Robe of Gems schon in San Sebastian oder in Locarno laufen könnte. Ich habe den Eindruck, dass er nur deswegen im Berlinale Wett­be­werb läuft, weil die Regis­seurin Natalia Lopez Gallardo die Frau von Carlos Reygadas ist. Also entspre­chend gut vernetzt. Und weil es daher entspre­chende Verpflich­tungen, seien es mora­li­sche, seien es ökono­mi­sche des Festivals gibt, und weil man außerdem natürlich gerne einen mexi­ka­ni­schen Film im Wett­be­werb hat. Ansonsten ist es schon so, dass man sich zum Beispiel den sehr starken Film Rimini von Ulrich Seidl sehr gut auch in Venedig oder Cannes im Wett­be­werb vorstellen kann. Er würde dort viel­leicht etwas weniger stark wirken und in Cannes würde man sich viel­leicht fragen, warum er nicht in »Un Certain Regard« läuft – aber eigent­lich auch nicht, denn es gibt viele gute Gründe, auch Gründe die im Film liegen, warum dieser Film eben in einem A-Festival-Wett­be­werb läuft.

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Rimini ist zum einen der mensch­lichste Film von Ulrich Seidl seit langer Zeit, und es ist ein Film, bei dem sich nie die Frage stellt, ob es sich um einen Doku­men­tar­film handelt oder um einen Spielfilm. Es ist ein Film, bei dem die Form ein Teil des Films ist und eine Einheit bildet mit allen anderen. Bei dem die Form nicht wie eine Schablone oder ein Muster nach Ulrich-Seidl-Methode dem Ganzen über­ge­stülpt ist und entspre­chend mitunter einen lackierten Eindruck hinter­lässt. Ich habe Ulrich Seidls Filme immer für inter­es­sant gehalten Und teilweise auch für sehr gut. Aber ich hatte an ihnen eigent­lich immer mehr auszu­setzen als diesmal. Mich hat immer etwas gestört. Hier nun hat man nicht den Eindruck, dass ein Filme­ma­cher in erster Linie das Gefühl hat, seine eigene Methode exeku­tieren zu müssen und das Ulrich Seidl in aller erster Linie wieder einen Ulrich-Seidl-Film gemacht hat. Genau dadurch ist es ein Ulrich-Seidl-Film geworden – versteht man, was ich meine?

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Kaum über­ra­schend ist Claire Denise' Film Avec Amour et Acharne­ment der wohl span­nendste unter den Wett­be­werbs-Filmen bisher. Wie immer macht Claire Denis etwas, das nicht ganz ausre­chenbar ist und von dem man sich auch nach Ende des Films noch fragt, was man da genau gesehen hat.
Wenn ich eben von der Methode Ulrich Seidls gespro­chen habe, dann wäre analog dazu die Methode von Claire Denis, sich selbst zu riskieren, sich selbst in eine Art Vorhölle zu begeben, auf ein Seil, auf dem sie dann tanzen muss. Es sind tatsäch­lich ihre Geschichten das, in das sich die Regis­seurin vor allem hinein­wirft, ihre Art Filme zu machen und zu erzählen ist eigent­lich immer eine ähnliche, sie bekommt aber durch den Gegen­stand immer etwas Neues und Über­ra­schendes. Auch hier ist es überhaupt kein Thema, dass sie erzählt. In diesem Fall ist es auch kein Genre. Sondern es sind Personen, Figuren, Menschen, viel­leicht noch ein Milieu. Über dieses Milieu hätte man aller­dings gerne mehr erfahren: Fußball und Krimi­na­lität, Nacht­leben, erwach­sene Menschen, die in häufig wech­selnden Bezie­hungen leben.

Es sind die Blicke der Frauen, die einem aus diesem Film vor allem in Erin­ne­rung bleiben. Und zwar nicht nur die Blicke der Haupt­dar­stel­lerin Juliette Binoche, bezie­hungs­weise ihrer Haupt­figur Sara, sondern auch die Blicke von der Figur, die nur in 2,3 Szenen zu sehen ist, aber hier doch eine ziemlich prägnant wird als die Freundin von Francois. Und die Blicke von Mati Diop, die eine ganz klare Neben­figur spielt und nur zwei Auftritte hat. Aber diese zwei Auftritte haben es eben in sich.

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Ein Film, über den man auch sprechen muss, er ist der neue Film von Andreas Dresen. Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush. Ich weiß nicht recht was ich von diesem Film halten soll. Es ist erstmal kein schlechter Film. Es ist aller­dings ein Film, der mich überhaupt nicht inter­es­siert hat. Vorher nicht, während des Films dann ein bisschen mehr, und als der Film vorbei war dann wieder nicht wirklich.

Es ist ein anstän­diger, auch anständig gemachter Film. Aber man kann einen Film nicht nur deswegen gut finden, weil einem die mora­li­sche und poli­ti­sche Position die er arti­ku­liert, gefällt. Oder weil man mit einer Figur Sympathie und Mitleid hat. Sympathie und Mitleid hat man natürlich mit der Haupt­figur, und viel Sympathie hat man vor allem auch mit ihrem Anwalt. Was Alexander Scheer auch in diesem Film wieder macht, unter­s­tützt von einer starken Maske die zugleich nie aufdring­lich ist, das ist nicht nur die inter­es­san­teste und stärkste Leistung des Films, sondern es ist auch über diesen hinaus beein­dru­ckend.

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Auf Basis des Programm­heftes vermutete David Steinitz in der SZ am Donnerstag »ein weiteres Jahr mit einem B-Programm«. Ich kann das soweit noch nicht nach­voll­ziehen. Ich habe ein paar Filme vorab gesehen, über die ich inhalt­lich jetzt noch nicht sprechen oder schreiben sollte, aber ich kann sagen: die sind ganz gut. Und ein Festival, das es sich erlauben kann, einen Bertrand Bonello nur in der Neben­reihe vorzu­führen, das kann ja gar nicht so schlecht sein. Oder?