02.12.2021

Carte Blanche für das Kino

El Gran Movimiento
Aus Bolivien meldet sich mit El Gran Movimiento das lateinamerikanische Dritte Kino eindrucksvoll zurück
(Foto: IFF Mannheim)

Das Internationale Filmfestival Mannheim Heidelberg (IFFMH) wartet unter neuer Leitung mit einer herausfordernden, ja enthusiasmierenden Programmierung auf

Von Wolfgang Lasinger

Schon das Programm des letzten Jahres, das pande­mie­be­dingt nur online statt­finden konnte, ließ die neue Hand­schrift von Festi­val­leiter Sascha Keilholz und dem orga­ni­sa­to­ri­schen Programm­leiter Frédéric Jaeger deutlich erkennen. Nun konnte das IFFMH zum 70. Jubiläum dieses Jahr auch wirklich im physi­schen Raum des Kinos geschehen, und da zeigte sich auf der konkreten Leinwand umso mehr die tatsäch­liche Präsenz und Strahl­kraft der program­mierten Filme: eine reiche Auswahl aus dem Weltkino mit Filmen, die Grenzen aller Art ausloten (»Pushing the Boun­da­ries«, wie die entspre­chende Reihe heißt) oder aufstre­bende, viel­ver­spre­chende Talente präsen­tieren (»On the rise«, so die andere Kernreihe des Festivals). Als hätte das Team des Festivals dem Kino selbst eine Carte blanche eingeräumt, so überkommt einen das dicht gewebte Programm, das die von Film zu Film Taumelnden in einen regel­rechten Trance­zu­stand versetzt, der das trüber Novem­ber­wetter im Außenraum vollends hinter einer Ciné­trance verschwinden lässt.
Aus der Fülle des Angebots seien hier stell­ver­tre­tend einige High­lights aus dem spanisch­spra­chigen Bereich heraus­ge­griffen.

Verfrem­dete Sitten­bilder aus Spanien und Latein­ame­rika

Ainhoa Rodríguez bringt mit ihrem ersten Langfilm Destello bravío eine Art Sitten­bild aus der spani­schen Provinz, der Region der Extre­ma­dura, und zwar aus einem Dorf, das unter den Folgen der Land­flucht vor allem der Jüngeren zu veröden droht. Nur bürstet die Regis­seurin das in Spanien seit der Romantik wohl­be­kannte Genre des länd­li­chen Sitten­bildes des »cuadro de costum­bres«, das Land und Leute in folk­lo­ris­ti­scher Verbrä­mung zeigt, ordent­lich gegen den Strich. Nicht dass der Film auf Lokal­ko­lorit ganz verzichten würde, er bietet sogar wunder­schöne Aufnahmen von der abge­le­genen länd­li­chen Region. Doch es erfolgt eine signi­fi­kante Verschie­bung der Perspek­tive, eine sanft-abstruse Ver-Rückung der Koor­di­naten, die den extrem patri­ar­chalen Verhält­nissen hier wider­fährt. Es ist die Perspek­tive gerade der nicht mehr jungen und der alten Frauen im Dorf, die in der Reihe der sorg­fältig kadrierten Tableaus mit manchmal auch aggres­sivem Humor entschieden zur Geltung gebracht wird. Einiges erinnert an Buñuels trans­gres­sive Phan­ta­sien, nur dass sie hier eine dezidiert femi­nis­ti­sche Umpolung erfahren, wenn etwa die spät nachhause kommende Frau den bereits zur Nachtehe gebet­teten Gatten noch einmal aufstehen und auf eine Leiter steigen lässt, damit er an der Zimmer­decke lecken und heraus­finden kann, ob diese noch genauso wie immer schmeckt: Einer­seits eine leicht erkenn­bare Freud'sche Traum­ver­schie­bung, ander­seits als konkretes Bild in seiner schrägen Absur­dität unschlagbar komisch. Auch ein zunächst wohl gesittet wirkendes Damen­kränz­chen gerät bald aus den Fugen, wenn die immer lasziver werdenden Gesten in Posen mysti­scher Verzü­ckung übergehen.

Die eine oder andere Befremd­lich­keit, die eine über­sinn­liche und phan­tas­ti­sche Dimension einfließen lässt, mag entbehr­lich erscheinen, doch bekommen Tableaus dadurch durchaus einen weiteren Drall ins Abge­fahren-Aber­wit­zige, der letztlich gut spürbar macht, wie durch diesen länd­li­chen Kosmos ein Sturm fegt, oder besser, wie darin der titel­ge­bende heftige Blitz einschlägt. Ein Blitz, der alles schmerz­haft erhellt und über­scharf in seinen Eigen­arten ausstellt. Kein zerstö­re­ri­scher Blitz, sondern einer, der das Unge­heu­er­liche als Entgren­zung und Erwei­te­rung der vertrauten Welt begrüßt. Ein Film, der auch als Liebes­er­klärung an eine Heimat zu lesen ist, die keines­falls verloren gegeben wird.

Ein anderes Sitten­bild, El Fulgor von Martín Farina aus Argen­ti­nien, setzt ebenfalls eigen­wil­lige Akzente. Auch in Latein­ame­rika diente die aus dem kolo­nialen Mutter­land Spanien bezogene kostum­bris­ti­sche Tradition zur Charak­te­ri­sie­rung regio­naler Beson­der­heiten, aller­dings mit dem Hinter­ge­danken, den sich eman­zi­pie­renden Nationen im Ablö­sungs­pro­zess der Entko­lo­nia­li­sie­rung ein eigenes Iden­ti­fi­ka­ti­ons­profil zu bieten. Das Genrebild verkleidet sich hier bei Martín Farina in mit doku­men­ta­ri­schem Gestus erfassten Aufnahmen als deli­rie­rendes Trugbild, das dem Nach­mittag eines schwulen Fauns zu entspringen scheint. Nackt inmitten des Grüns erblickt oder imagi­niert er die Hand­griffe und die Tätig­keiten der Männer auf einer Rinder- und Pfer­de­ranch in der Pampa, der argen­ti­ni­schen Natio­nal­land­schaft schlechthin, die seit dem 19. Jahr­hun­dert in Gaucho-Epen und Gaucho-Romanen als Reso­nanz­raum für die Staats­bil­dung dient. Der Kame­ra­blick trans­por­tiert schwules Begehren vor allem dann, wenn er die Vorbe­rei­tungen der Männer­körper für den Karneval beob­achtet, wie sie sich schminken, die Haut mit Flitter bestäuben, sich in ihre knappen Kostüme zwängen, wie sie schließ­lich beim Karne­vals­umzug in Ekstase geraten. Das alles wird nicht in einer konti­nu­ier­li­chen zeit­li­chen Abfolge entwi­ckelt, sondern als sugges­tive Montage von Frag­menten und Impres­sionen, von Aufnahmen in Farbe und in Schwarz-Weiß darge­boten. Krude Fleisch­teile, in die geschlach­tete Tiere zerlegt werden, auf Zäunen aufge­spießt, von Vögeln zerpickt, Gerät­schaften wie Messer und Jagd­ge­wehre, Insignien der Gaucho-Masku­li­nität, nackte Haut, Täto­wie­rungen, Karne­vals­gla­mour mit Elementen von Camp-Ästhetik, buko­li­sche Szenerien: Imaginäres und Sinn­li­ches vermählen sich hier auf betörende Weise. Die mate­ri­al­ori­en­tierte Arbeits­weise dieses Films zeigt sich auch daran, dass einige der Einstel­lungen parallel in einem doku­men­ta­ri­schen Werk über den Karneval in Buenos Aires Verwen­dung fanden, in einem Film von Marco Berger, mit dem Martín Farina im Übrigen öfter zusam­men­ar­beitet, um schwule Sujets aus Argen­ti­nien zu gestalten.

Ein Nachfahre des Dritten Kinos

Aus einem Land in Latein­ame­rika, das selten mit Filmen aufwartet, stammt schließ­lich eines der beein­dru­ckendsten Werke dieses Festivals, das im Jubiläums­pro­gramm »Film Expe­ri­ence 2021« als einer der besonders heraus­ra­genden Höhe­punkte des Jahres präsen­tiert wurde. El gran movi­mi­ento, der zweite Film von Kiro Russo, kommt aus Bolivien. Wie Jorge Sanjinés, der große Filme­ma­cher Boliviens, der in den 60er Jahren jenseits von Hollywood und dem europäi­schen Autoren­film das soge­nannte »Dritte Kino« in Latein­ame­rika mitbe­grün­dete, setzt er mit ästhe­ti­scher Radi­ka­lität vor allem sozial prekäre Verhält­nisse ins Bild.
Minen­ar­beiter, zu Protest­kund­ge­bungen in die Haupt­stadt La Paz gekommen, dort gestrandet, verdingen sich als Tagelöhner. Elder, einer von ihnen, trägt eine kräf­te­zeh­rende Krankheit in den Lungen. Eine der Frauen vom Markt glaubt in ihm ihren Patensohn zu erkennen; Max, ein Bekannter von ihr, eine Art Schamane, den immer wieder Visionen heim­su­chen, versucht mit magischen Tränken und Zere­mo­nien, die Krankheit zu heilen.
Diese narra­tiven Linien werden nur sche­men­haft skizziert, der Film stellt mehr ein quasi-doku­men­ta­ri­sches Portrait der Stadt La Paz dar, vor allem des Milieus der Margi­na­li­sierten und Armen. Es entstehen dabei eindrucks­volle Bilder voller Frik­tionen und Reibungen, in denen immer wieder die Straßen und Trans­port­mittel in der hoch in den Anden gelegenen Stadt eine Rolle spielen. Die »große Bewegung« des Film­ti­tels nimmt einmal Bezug auf die von den Figuren zurück­ge­legten Wege in den engen Gassen, auf den Märkten, in der grandiose Blicke eröff­nenden Seilbahn. Die andere Bewegung ist eine poli­ti­sche, die Protest­be­we­gung, die die Arbeiter in die Haupt­stadt führte. Die dritte Bewegung ist eine spiri­tu­elle Bewegung, die immer wieder Weitungen des Blickes in einen geistigen Gegenraum schafft, eine innere Reise, die dem fieber­kranken Elder Visionen eingibt. Die andere, die eigent­lich große Bewegung ist eine des filmi­schen Mediums selbst. Neben den choreo­gra­phierten Bewe­gungen der Kamera entwi­ckelt das filmische 16mm-Material eine rauhe Eigen­be­we­gung, sowohl bei der körnigen Reibung in den Bildern als auch bei der schroffen Montage, die es immer wieder schafft, die Aufnahmen über eine bloße doku­men­ta­ri­sche Abbild­lich­keit hinaus­zu­ka­ta­pul­tieren. Der visionäre Raum des Schamanen, des Fieber­kranken oder der Koka­blätter kauenden Minen­ar­beiter erschließt eine neue Dimension und Qualität der Film­ma­te­rials. Das gipfelt etwa in einem groß­ar­tigen Tableau der Markt­frauen oder in einer video­clip­ar­tigen Tanz­ein­lage auf dem Markt, Sequenzen, die die Tristesse der Verhält­nisse auf wunder­same Weise aufheben, ohne sie auszu­strei­chen.
Die Verzau­be­rung und Trance, die Kiro Russos »große Bewegung« erzeugt, ist eben genau von der Beschaf­fen­heit, die einen beim IFFMH von Film zu Film trägt.