18.11.2021

Nail biting

The Innocents
Kinder mit Superkräften im norwegischen The Innocents
(Foto: Fantasy Filmfesst)

Das 35. Fantasy Filmfest gastierte mit internationalen Scary Movies acht Tage lang in sieben Städten

Von Eckhard Haschen

Für dieje­nigen, die sich beim Fantasy Filmfest viele oder gar alle Filme anschauen, ist das Festival für Thriller, Horror, Sci-Fi & more nach wie vor one hell of a ride. Und für alle anderen womöglich die einzige Gele­gen­heit, Festi­valent­de­ckungen aus Cannes oder Locarno auf der großen Leinwand zu sehen. In Hamburg kommt hinzu, dass das Festival seit einigen Jahren im schönen Premium-Kino Savoy statt­findet. (Ursprüng­lich 1957 eröffnet, war es seiner­zeit das erste Todd-AO-Kino in Deutsch­land).

Und Entde­ckungen gab es dieses Jahr in der Tat reichlich. Allein unter den asia­ti­schen Filmen gab es fünf, die – jeder auf seine Art – heraus­sta­chen. Allen voran den japa­ni­schen Gewinner des Fresh Blood Awards Beyond the Infinite Two Minutes von Junta Yamaguchi. Der Regisseur und sein Dreh­buch­autor Makato Ueda machen sich das Prinzip der Mise en abyme, also ein Bild, das sich selbst enthält, für eine verrückte Zeitrei­se­komödie zunutze: Da wird ein Café­be­sitzer eines Abends von seinem Compu­ter­bild­schirm mit den Worten »Ich bin du in zwei Minuten. Geh wieder runter in den Laden« begrüßt und gerät daraufhin in einen Iden­ti­täts­strudel, wie er einem kaum je mit einem solch verspielten Erfin­dungs­reichtum vorge­führt wurde.

Zwar keine Neuer­fin­dungen ihrer jewei­ligen Genres, aber gleich­wohl origi­nelle und äußerst spannende Varia­tionen derselben boten Benny Chans letzte Regie-Arbeit vor seinem Tod, Raging Fire, ein Poli­zei­film in bester Hongkong-Action-Manier mit Donnie Yen als Ermittler auf der Spur seines einstmals besten Freundes, der nicht ganz grundlos inzwi­schen die Seiten gewech­selt hat. Wo Chan an die Klassiker eines John Woo anknüpft, scheint sich Shipel Wen in seinem Debüt Are You Lonesome Tonight? an Wong Kar-wai zu orien­tieren. Nicht nur in seinem Stil, sondern auch in seiner Grund­kon­stel­la­tion scheint deutlich In the Mood for Love durch, aller­dings mit einem Noir-Einschlag wie in Wongs früheren Arbeiten. Kaum weniger stil­si­cher und dabei geradezu nail biting ist Midnight, der erste Film von Kwon Oh-seung aus Südkorea, geraten, in dem ein nach außen hin adretter Seri­en­mörder eine junge Call­center-Ange­stellte und ihre Mutter durch die Straßen von Seoul hetzt. Besonders eindrucks­voll: Wie Kwong die Gehör­lo­sig­keit der beiden Frauen einsetzt und diese damit umso erfahr­barer macht. Unzwei­fel­haft eine Reaktion auf die Corona-Pandemie ist der in Taiwan gedrehte Horror­film The Sadness des kana­di­schen Regis­seurs Rob Jabbaz. Die Frage: »Was wäre, wenn das Virus die Infi­zierten zu wahren Monstern machte, und die Regierung nicht weiß, was sie machen soll?« spielt er darin scho­nungslos durch.

Besonders nach­haltig vers­tö­rend waren in diesem Jahr die Filme aus den nordi­schen Ländern. In ruhigen Bildern entfaltet etwa Valdimar Jóhansson in Lamb das Drama eines kinder­losen Schaf­züchter-Ehepaares, das eines Tages ein Lamm, das Züge eines mensch­li­chen Babys hat, als Kind adoptiert. Dass das kaum gutgehen kann, drückt Noomi Rapace, die endlich einmal in einem Film islän­disch sprechen darf, allein mit ihrer Mimik aus. Ist Eskil Vogts The Innocents auch keine weitere Verfil­mung von Henry James‘ The Turn of the Screw, so ist sein ganz und gar in die kindliche Erleb­nis­welt eintau­chendes Drama mit über­sinn­li­chen Zügen aus Norwegen diesem aber doch seelen­ver­wandt. Von kind­li­cher Unschuld kann auch hier von Anfang an nicht die Rede sein. Nicht nur ihren Verstand, sondern auch ihre Identität droht die junge Heldin in Frida Kempfs Debütfilm Knocking zu verlieren, als sie als einzige in ihrem Haus ein merk­wür­diges Klopfen hört. Nicht von ungefähr gibt es zu Beginn einen Ausschnitt aus Bergmans Persona zu sehen.

Wie das fran­zö­si­sche Kino immer wieder einen ganz eigenen Zugang zu ameri­ka­nisch geprägten Genres findet, beweisen Ludovic und Zoran Boukherma in ihrem ebenso sensiblen wie fulmi­nanten Coming-of Age-Film Teddy, dessen Titelheld nachts zum Werwolf mutiert. Ebenso Bertrand Mandicos Fantasy-Science-Fiction-Film After Blue, in dem die Mensch­heit auf dem titel­ge­benden Planeten ein neues höchst eigen­ar­tiges Paradies gefunden hat. Und nicht zuletzt Jean Dujardin als fran­zö­si­sches Pendant zu James Bond in OSS 117: From Africa with Love, der diesmal unter Nicolas Bedos‘ flotter Regie nicht nur aus heutiger, post­ko­lo­nialer Sicht kein Fett­näpf­chen auslässt.

Unter den ameri­ka­ni­schen Filmen ragte Michael Sarnoskis Pig heraus, in dem Nicolas Cage einen Spit­zen­koch spielt, der sich vor Jahren mit seinem Trüf­fel­schwein in die Wildnis zurück­ge­zogen hat und sich – als ihm dieses gestohlen wird – gezwungen sieht, in die zivi­li­sierte Welt zurück­zu­kehren. Was er dabei auf seine unver­wech­sel­bare Weise anrichtet, sollte man wie so vieles auf diesem unver­zicht­baren Festival mit eigenen Augen gesehen haben.