Nail biting |
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Kinder mit Superkräften im norwegischen The Innocents | ||
(Foto: Fantasy Filmfesst) |
Von Eckhard Haschen
Für diejenigen, die sich beim Fantasy Filmfest viele oder gar alle Filme anschauen, ist das Festival für Thriller, Horror, Sci-Fi & more nach wie vor one hell of a ride. Und für alle anderen womöglich die einzige Gelegenheit, Festivalentdeckungen aus Cannes oder Locarno auf der großen Leinwand zu sehen. In Hamburg kommt hinzu, dass das Festival seit einigen Jahren im schönen Premium-Kino Savoy stattfindet. (Ursprünglich 1957 eröffnet, war es seinerzeit das erste Todd-AO-Kino in Deutschland).
Und Entdeckungen gab es dieses Jahr in der Tat reichlich. Allein unter den asiatischen Filmen gab es fünf, die – jeder auf seine Art – herausstachen. Allen voran den japanischen Gewinner des Fresh Blood Awards Beyond the Infinite Two Minutes von Junta Yamaguchi. Der Regisseur und sein Drehbuchautor Makato Ueda machen sich das Prinzip der Mise en abyme, also ein Bild, das sich selbst enthält, für eine verrückte Zeitreisekomödie zunutze: Da wird ein Cafébesitzer eines Abends von seinem Computerbildschirm mit den Worten »Ich bin du in zwei Minuten. Geh wieder runter in den Laden« begrüßt und gerät daraufhin in einen Identitätsstrudel, wie er einem kaum je mit einem solch verspielten Erfindungsreichtum vorgeführt wurde.
Zwar keine Neuerfindungen ihrer jeweiligen Genres, aber gleichwohl originelle und äußerst spannende Variationen derselben boten Benny Chans letzte Regie-Arbeit vor seinem Tod, Raging Fire, ein Polizeifilm in bester Hongkong-Action-Manier mit Donnie Yen als Ermittler auf der Spur seines einstmals besten Freundes, der nicht ganz grundlos inzwischen die Seiten gewechselt hat. Wo Chan an die Klassiker eines John Woo anknüpft, scheint sich Shipel Wen in seinem Debüt Are You Lonesome Tonight? an Wong Kar-wai zu orientieren. Nicht nur in seinem Stil, sondern auch in seiner Grundkonstellation scheint deutlich In the Mood for Love durch, allerdings mit einem Noir-Einschlag wie in Wongs früheren Arbeiten. Kaum weniger stilsicher und dabei geradezu nail biting ist Midnight, der erste Film von Kwon Oh-seung aus Südkorea, geraten, in dem ein nach außen hin adretter Serienmörder eine junge Callcenter-Angestellte und ihre Mutter durch die Straßen von Seoul hetzt. Besonders eindrucksvoll: Wie Kwong die Gehörlosigkeit der beiden Frauen einsetzt und diese damit umso erfahrbarer macht. Unzweifelhaft eine Reaktion auf die Corona-Pandemie ist der in Taiwan gedrehte Horrorfilm The Sadness des kanadischen Regisseurs Rob Jabbaz. Die Frage: »Was wäre, wenn das Virus die Infizierten zu wahren Monstern machte, und die Regierung nicht weiß, was sie machen soll?« spielt er darin schonungslos durch.
Besonders nachhaltig verstörend waren in diesem Jahr die Filme aus den nordischen Ländern. In ruhigen Bildern entfaltet etwa Valdimar Jóhansson in Lamb das Drama eines kinderlosen Schafzüchter-Ehepaares, das eines Tages ein Lamm, das Züge eines menschlichen Babys hat, als Kind adoptiert. Dass das kaum gutgehen kann, drückt Noomi Rapace, die endlich einmal in einem Film isländisch sprechen darf, allein mit ihrer Mimik aus. Ist Eskil Vogts The Innocents auch keine weitere Verfilmung von Henry James‘ The Turn of the Screw, so ist sein ganz und gar in die kindliche Erlebniswelt eintauchendes Drama mit übersinnlichen Zügen aus Norwegen diesem aber doch seelenverwandt. Von kindlicher Unschuld kann auch hier von Anfang an nicht die Rede sein. Nicht nur ihren Verstand, sondern auch ihre Identität droht die junge Heldin in Frida Kempfs Debütfilm Knocking zu verlieren, als sie als einzige in ihrem Haus ein merkwürdiges Klopfen hört. Nicht von ungefähr gibt es zu Beginn einen Ausschnitt aus Bergmans Persona zu sehen.
Wie das französische Kino immer wieder einen ganz eigenen Zugang zu amerikanisch geprägten Genres findet, beweisen Ludovic und Zoran Boukherma in ihrem ebenso sensiblen wie fulminanten Coming-of Age-Film Teddy, dessen Titelheld nachts zum Werwolf mutiert. Ebenso Bertrand Mandicos Fantasy-Science-Fiction-Film After Blue, in dem die Menschheit auf dem titelgebenden Planeten ein neues höchst eigenartiges Paradies gefunden hat. Und nicht zuletzt Jean Dujardin als französisches Pendant zu James Bond in OSS 117: From Africa with Love, der diesmal unter Nicolas Bedos‘ flotter Regie nicht nur aus heutiger, postkolonialer Sicht kein Fettnäpfchen auslässt.
Unter den amerikanischen Filmen ragte Michael Sarnoskis Pig heraus, in dem Nicolas Cage einen Spitzenkoch spielt, der sich vor Jahren mit seinem Trüffelschwein in die Wildnis zurückgezogen hat und sich – als ihm dieses gestohlen wird – gezwungen sieht, in die zivilisierte Welt zurückzukehren. Was er dabei auf seine unverwechselbare Weise anrichtet, sollte man wie so vieles auf diesem unverzichtbaren Festival mit eigenen Augen gesehen haben.