30.09.2021

Ein Regisseur wird zum Adjektiv

Ekberg und Mastroianni
Gründungsmythos für eine ganze Stadt, und doch nur ein Kuss
(Foto: Museo Federico Fellini)

Mit einem phantastischen Museum an drei Standorten ehrt Rimini seinen großen Sohn Federico Fellini

Von Katrin Hillgruber

Da ruht sie auf dem rauhen Ziegel­boden des Castello, die raum­fül­lende Männer­phan­tasie: eine üppige Blondine im pail­let­ten­be­stickten kleinen Schwarzen, die signal­roten Zehen­nägel an den puderrosa Beinen sorgsam lackiert. Mit der zimmer­großen Puppen-Nach­bil­dung der Schau­spie­lerin Anita Ekberg, 1960 zur Ikone geworden durch den Film La Dolce Vita, gelingt dem Federico-Fellini-Museum an seinem Haupt­standort, dem Castello Sismondo am Rande der histo­ri­schen Altstadt von Rimini, eine seiner sinn­lichsten und komischsten Über­ra­schungen. Marco Leonetti war als Leiter der städ­ti­schen Kine­ma­thek maßgeb­lich an der Gestal­tung des Ende August eröff­neten Museums beteiligt. Er freut sich über den bishe­rigen Publi­kums­zu­spruch und ist sichtlich stolz auf die Ekberg-Puppe: »Das war eine über­ra­schende Idee des Studio Azzurro, das sonst immer mit der größt­mö­g­li­chen philo­lo­gi­schen Genau­ig­keit vorgeht«, erklärt er: »Dieses Element steht für das Bizzarre und Phan­tas­ti­sche, das bei Fellini immer präsent ist. Dieser Farb­tupfer passt perfekt zu der ansonsten ausge­spro­chen nüch­ternen Gestal­tung.«

Ekberg
Traum­ge­wor­dene Männer­phan­tasie (Foto: Museo Federico Fellini)

»Marcello, come here!«, befiehlt die Schwedin dem römischen Foto­grafen in La Dolce Vita, für das Publikum durch einen Vorhang aus Perlen­schnüren mitzu­er­leben. Marcello Mastroi­anni, den der Regisseur oft als sein Ebenbild insze­nierte, gelangte durch diese Rolle 1960 zu Weltruhm. Doch der Paparazzo zögert, zu Ekberg in den Trevi-Brunnen zu steigen, und murmelt halblaut vor sich hin: »Wir machen alles falsch.« Dieses für Mastroi­anni typische Zögern ist in die Film­ge­schichte einge­gangen, wie sie nun auf rund 1650 Quadrat­me­tern zu erkunden und im Sinne des Meisters vor allem zu erträumen ist. Leonardo Sangi­or­gios Studio Azzurro will das Publikum in Fellinis filmi­schen Kosmos eintau­chen lassen und zu eigenen Erkun­dungen anregen.

Fellini: Sohn der Stadt Rimini

Am 20. Januar 1920 in Rimini als Sohn eines Vertre­ters für Süßwaren geboren, erinnerte sich Federico Fellini stets an den dortigen Winter: »Die Rolläden herun­ter­ge­lassen, die Pensionen geschlossen, eine große Stille und das Geräusch des Meeres.« Dieses Zitat eröffnet den Rundgang im Castello. Dazu wurde das winter­liche Meer herbei­ge­holt, bestehend aus Stoff, der aufge­blasen wird. Darüber sind Video­pro­jek­tionen von Strand­szenen aus Filmen wie Julia und die Geister oder zu sehen und entfalten einen verfüh­re­ri­schen Klang­tep­pich. Zugleich sind diese Szenerien von einer ähnlichen Künst­lich­keit, wie sie Fellini in der römischen Cinecittà herstellen ließ – in seinem Universum blieb nichts dem Zufall über­lassen.

RiminiFellini
Eine Stadt insze­niert sich selbst (Foto: Museo Federico Fellini)

Das Castello Sismondo wurde im 15. Jahr­hun­dert von dem Renais­sance-Archi­tekten Filippo Brunel­le­schi entworfen. Fellini kannte es noch als städ­ti­sches Gefängnis. Davor gastierten gele­gent­lich Zirkus­kom­pa­nien, einer hätte er sich als Junge fast ange­schlossen, schreibt der Lokal­his­to­riker Tommaso Panozzo in einem neuen Buch, das sich auf die »Spuren von Fellinis Rimini« begibt (»Sulle tracce della Rimini di Fellini«). Die Trutzburg aus rotem Backstein bildet den größt­mö­g­li­chen Kontrast zu dem weißen Grand­hotel am Strand, das er schwär­me­risch verehrte. Es sei eine Heraus­for­de­rung gewesen, filmische Gegen­warts­kunst in einem histo­ri­schen Gebäude so zu insze­nieren, dass dessen Charakter erkennbar bleibe, sagt Marco Leonetti – das Wagnis ist gelungen.

Filme mit Ohrwurm­qua­lität

Nino Rotas Film­mu­siken mit Ohrwurm-Qualität ist ein kleiner quadra­ti­scher Raum im Ober­ge­schoss gewidmet, durch dessen Decke eine mächtige goldene Kugel bricht. Nebenan baumelt eine Schaukel herab: eine Hommage an »Lo sceicco bianco« (»Der weiße Scheich«) aus dem Jahr 1952, mit Italiens großem Komiker Albert Sordi in der Titel­rolle des windigen Verfüh­rers einer naiven Flit­ter­wöch­nerin. Szenen daraus sind auf segel­ar­tigen Projek­ti­ons­flächen zu sehen, kontras­tiert von einem Film­be­richt der RAI, der gesichts­lose Neubau­viertel im Nach­kriegs-Rom zeigt: zweimal trüge­ri­sche Verspre­chen, von Wirt­schafts­wunder und von Liebe. »Das ist eine der Ideen des Museums«, erläutert Marco Leonetti, »die Geschichte Italiens im 20. Jahr­hun­dert anhand der Filme Fellinis zu erzählen. Wir tun dies, indem wir Szenen seiner Filme mit Archiv­bil­dern der RAI und des natio­nalen Film­in­sti­tuts Istituto Luce kombi­nieren.«

Und so ist Rimini in diesem Früh­herbst ganz auf den fünf­fa­chen Oscar-Preis­träger einge­stellt, der ein ambi­va­lentes Verhältnis zu seiner Heimat­stadt hatte; seit 1993 liegt er hier begraben. »Rimini, lo dici e sorridi! – ›Rimini – du sagst es mit einem Lächeln!‹: Mit diesem Slogan wirbt das über 2000 Jahre alte Ariminum für sich. Seit Ende der 1990er Jahre wurde das Fellini-Museum geplant, konnte aber erst jetzt durch die Finan­zie­rung des Kultur­mi­nis­te­riums reali­siert werden. Es dürfte eine ähnlich segens­reiche Wirkung für die im Zweiten Weltkrieg stark bombar­dierte und durch den anschließenden Massen­tou­rismus und dessen archi­tek­to­ni­sche Scheuß­lich­keiten gebeu­telte Stadt entfalten wie einst das Wirken des kunst­sin­nigen Kaisers Augustus. Unweit des städ­ti­schen Museums mit seiner reichen römischen Abteilung sind die Überreste der ›Domus del chirurgo‹ zu besich­tigen, einer Villa mit herr­li­chen Mosa­ik­fuß­böden.«

Kritische Reflexion auf das 20. Jahr­hun­dert

Nach 1945 habe sich Rimini mit seinem parzel­lierten Traum­strand zu einer »ameri­ka­ni­sierten Stadt« entwi­ckelt, schreibt Tommaso Panozzo. Über Italien hinaus ist kaum bekannt, dass der einstige elegante Jugend­stil-Badeort zwischen November 1943 und September 1944 insgesamt 396 Bombar­de­ments erlebte. Rund 600 Menschen starben, tausende Bauwerke wurden zerstört und damit das Rimini von Fellinis Jugend­saga I Vitelloni vernichtet.

1857 war das prächtige Teatro Amintore Galli an der zentralen Piazza Cavour einge­weiht worden, mit einer Auftrags­kom­po­si­tion, Giuseppe Verdis Oper »Aroldo«. Das Haus wurde bei einem briti­schen Flie­ger­an­griff am 28. Dezember 1943 völlig zerstört und ist erst seit drei Jahren wieder in Betrieb. Diese Saison nun über­raschten Emilio Sala und Edoardo Sanchi mit einer hoch­po­li­ti­schen Neuin­ter­pre­ta­tion der selten aufge­führten Oper. Dazu ließen sie den Titel­helden Aroldo (»Harold«) aus Eritrea heim­kehren, das von 1936 bis 1941 zur faschis­ti­schen Kolonie Africa Orientale Italiana (A.O.I.) gehörte. Als Aroldo (Antonio Coranò) entdeckt, dass ihn seine Frau Mina (die phan­tas­ti­sche Lidia Fridman) in seiner Abwe­sen­heit betrogen hat, leuchten rot die faschis­ti­schen Schlüs­sel­be­griff »Blut« und »Ehre« auf. Aber auch sich selbst bindet das Opernhaus in diese kritische Reflexion des 20. Jahr­hun­derts mit ein: Von den Bühnen­tech­ni­kern bis hin zur Kostüm­ab­tei­lung wird alles sichtbar gemacht und aus dem Hinter­grund auf die Bühne geholt. Durch ihre realen und poli­ti­schen Bezüge bildet diese außer­ge­wöhn­liche Insze­nie­rung einen reiz­vollen Kontrast zu Fellinis Filmen mit ihren eher märchen­haft gedämpften Wirk­lich­keits­an­klängen.

Ich erinnere mich

»Ich hätte nie gedacht, einmal ein Adjektiv zu werden« ist eine »passeg­giata felli­niana« betitelt, ein Rundgang auf den Spuren des Regis­seurs und dessen Frau Giulietta Masina. Ihr Porträt ziert eine Hauswand im Borgo San Giuliano, jenem Viertel, in dem Fellini aufwuchs; sein Geburts­haus gibt es heute nicht mehr. »Amarcord« bedeutet im örtlichen Romagnolo-Dialekt »Ich erinnere mich«. Fellini hat am ehesten noch in diesem Film aus dem Jahr 1973 über die Stadt gelächelt, in der er seine Jugend unter dem Faschismus verbrachte. Nach dem Abitur versuchte er ab 1939 in Rom sein Glück als Jour­na­list und vor allem Kari­ka­tu­rist. Seine tref­fenden Skizzen hatten dem Schüler noch in Rimini freien Eintritt in das Jugend­stil­kino Fulgor (Blitz) am Corso d’Augusto beschert. Im Oktober öffnet neben dem Castello Sismondo und der zentralen, mit allerlei Remi­nis­zenzen wie der einla­denden Bank aus bestückten Piazza Malatesta dieser magische Ort als dritter Muse­ums­standort – magisch deshalb, weil Federico Fellini hier 1926 im Matro­sen­anzug in Beglei­tung seines Vaters Urbano seinen ersten Film sah. Er trug den Titel »Maciste all’inferno«, Herkules im Inferno.