05.08.2021

Still Loving the Alien

Vampires of poverty
Gegenschuss der Subalternen: Vampires of Poverty
(Foto: Carlos Mayolos und Luis Ospinas)

SİNEMA TRANSTOPIA zeigt in Berlin ein dekolonialisierend wirkendes Filmprogramm: »Decolonizing the Screen«

Von Dunja Bialas

Berlin ist unan­ge­foch­tene Diskurs­haupt­stadt. Seit der pande­mie­be­dingten Pause findet seit Juni dort wieder, teils als Open Air, teils im Haus der Statistik, die fort­lau­fende Film-mit-Diskurs-Reihe von SİNEMA TRANSTOPIA statt, die noch bis September das Thema »Deco­lo­ni­zing the Screen« beleuchtet. Filmr­a­ri­täten sollen den euro­zen­tris­ti­schen Blick aushebeln und Denk­muster freilegen, zugunsten des früher »drittes« Kino genannten Film­schaf­fens, mit Filmen, die beispiels­weise die Migration von ihrem Ursprungs­land oder den »Kultur­schock« von der »fremden« Kultur her denken. Eine Umkehrung der Perspek­tive, die allemal erkennt­nis­ge­win­nend ist und verbor­genen Filmo­gra­phien zur Geltung verhilft.

»Tran­stopia« zielt, von Foucaults Hetero­topie-Konzept eines Kinos (oder eines ähnlich abge­schlos­senen Raums) als »Andersort« herge­leitet, auf einen Ort, an dem, nach dem Kölner Sozio­logen und Migra­ti­ons­for­scher Erol Yıldız, »gren­zü­ber­schrei­tende Bindungen und Verbin­dungen zusam­men­laufen, neu inter­pre­tiert werden und sich zu Alltags­kon­texten verdichten«. Dem Film kommt als Tran­stopie besondere Bedeutung zu, ist er selbst doch eine in viele Länder migra­ti­ons­fähige Kunstform, die dialog­stif­tend wirken kann und Viel­stim­mig­keit zu erzeugen vermag. Im Zentrum stehen »trans­na­tio­nale Narrative, Migra­tions- und Mobi­li­täts­dis­kurse«, so die Macher von SİNEMA TRANSTOPIA, Malve Lippmann und Can Sungu.

Das Programm will bewusst machen und viel­leicht auch hinter sich lassen, dass seit Beginn der Film­ge­schichte der »Andere« auch immer ein Fremder oder gar Alien war, unmöglich zu begreifen und mit Andacht ange­staunt, aber ohne dem »Subal­ternen« je Subjek­ti­vität und eine Stimme gegeben zu haben (vgl. Gayatri Chakra­vorty Spivak: »Can the Subaltern Speak?«, 2007).

»Poverty Porn« nennt man in ironie­be­gabten Fach­kreisen, wenn der Blick auf die Armut mit einem Lust­ge­winn aus der filmi­schen Darbie­tung verbunden wird. Das ist gar nicht so selten, allein die Beschrei­bung eines zerfal­lenen Dorfes als »pittoresk« kann als Poverty Porn gelten. Die Grenze freilich ist nicht immer leicht zu ziehen. War es zynisch und »Poverty Porn«, wenn beispiels­weise Luis Buñuel in seinem Doku­men­tar­film Las Hurdes (1933) der Wirk­lich­keit nachhalf, um das Leiden der Bevöl­ke­rung im sich selbst über­las­senen spani­schen Hinter­land deut­li­cher zum Vorschein zu bringen?

Die kolum­bia­ni­schen Filme­ma­cher Carlos Mayolos und Luis Ospinas bringen den Zynismus des Gutge­meinten in ihrem Poverty-Porn-Mocku­men­tary Agarrando Pueblo (The Vampires of Poverty, 1977) zum Vorschein. Gnadenlos lassen sie Armut­szenen für die Kamera entstehen – jetzt bitte noch ein bisschen effekt­voller mit der Geld­büchse betteln – das soll »respekt­voll« passieren, zitieren sie den angeblich ethischen Anspruch von Filme­ma­chern auf der Jagd nach ergrei­fenden Szenen. Das ist entlar­vend und komisch zugleich und ein harter Gegen­schuss der Kolo­nia­li­sierten auf die Blicke, die auf sie geworfen werden. (Alle, die nicht in Berlin sind, können den Film auf Youtube sehen.)

Stellt man ein Doku­men­tar­film­pro­gramm zusammen, sollte aus Gründen des schnell »kolonial« wirkenden euro­zen­tris­ti­schen Blicks darauf geachtet werden, dass die Filme­ma­cher*innen der Kultur entstammen, die sie doku­men­tieren – ohne jedoch dies im falsch verstan­denen iden­ti­tären Sinne zu meinen. Die Kate­go­rien »von innen« / »von außen« bedeuten mehr als nur die handelnde Subjekt­haf­tig­keit oder die passiv wirkende Verge­gen­ständ­li­chung einer Ethnie. In der eigenen Sprache und mit der eigenen Stimme zu sprechen ist seit der bahn­bre­chenden Streit­schrift »Nur Stämme können überleben« (1969) des india­nisch-ameri­ka­ni­schen Akti­visten Vine Deloria seit gut fünfzig Jahren ein wichtiger Indikator für die Selbst­be­stim­mung.

Die post­ko­lo­niale Differenz-Theo­re­ti­kerin und Filme­ma­cherin Trinh T. Minh-ha (»Woman, Native, Other«,1989) zeigt in ihrem Essay Surname Viet Given Name Nam (1989) die auch nach der Entko­lo­nia­li­sie­rung noch anhal­tende Mechanik der Unter­drü­ckung. In der machis­ti­schen Gesell­schaft trifft dies freilich nur noch die Frauen, familiär, privat und gesell­schaft­lich. Archiv­ma­te­rial zeigt die über­lie­ferte Aufgabe der Frau, »schön« zu sein, in Tänzen und Gesang. Die Frau, so scheint es, steht für Tradition und ethnische Identität, ist ganz wörtlich als Bäuerin dem Boden verhaftet. Trinh hat Frauen in den USA und der Heimat Vietnam befragt, gibt ihnen eine Stimme, damit sie ihre Sicht­weise auf die viet­na­me­si­sche Gesell­schaft kundtun können. Ein histo­ri­sches Dokument in Sachen Femi­nismus, aber auch darüber, wie formal befreit das poli­ti­sche Filme­ma­chen einmal war.

Der kana­di­sche Regisseur Denis Ville­neuve hat sich, ganz in der Anti­zi­pa­tion seiner Alien-Ethno­logie von Arrival (2016), in seinem Debüt dem Kultur­schock als diffe­renz­erzeu­gendem Moment gewidmet. REW-FFWD (1994) heißt sein Kurz­do­ku­men­tar­film, in dem er einen Foto­grafen nach Jamaika reisen lässt, der ange­sichts der entfes­selten Kultur mit ihren eigenen Codes ordent­lich ins Strau­cheln gerät. Der Titel enthält, für alle, die nicht mehr mit der Tape-Kultur vertraut sind, die Akronyme fürs Zurück- und Vorspulen. Etwas, was man sich ange­sichts präsen­ti­scher Wirk­lich­keits­be­geg­nung bisweilen wünschen würde. (Der Film ist ebenfalls auf Youtube zu sehen.)

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Deco­lo­ni­zing the Screen (4.8. – 22.9.)
SİNEMA TRANSTOPIA im Haus der Statistik
Otto-Braun-Straße 72, Berlin
Programm