10.06.2021

Film als subversive Kunst

2551.01
2551.01 – adrenalintreibende Gore-Groteske von Norbert Pfaffenbichler
(Foto: Sixpackfilm)

Das 18. Crossing Europe in Linz beweist in der Reihe »Local Artists«, dass man sich Österreich als glückliches Land vorstellen muss – zumindest für die einheimische Filmproduktion

Von Dunja Bialas

Die großen Festivals Berlinale und Filmfest München geben sich derzeit größte Mühe, sich zu verküns­teln und als Open-Air-Crowd-Pleaser ihre Bestim­mung zu finden. Mariette Rissen­beck und Carlos Chatrian haben zwar ein anspruchs­volles Programm zusam­men­ge­stellt, setzen jetzt aber doch auf den Event­cha­rakter. Diana Iljine, die für Glamour zustän­dige Münchner Leiterin, lädt dieses Jahr gar zur »Beer­garden Conven­tion« ein. Die Berliner und Münchner Festi­val­leiter nehmen dafür billigend Einschrän­kungen in Kauf, die ihnen Corona nicht einge­brockt hat, denn die Kinos können bereits öffnen. So beginnen alle Vorstel­lungen gleich­zeitig bei Einbruch der Dunkel­heit (mit wenigen früheren Abspiel­mö­g­lich­keiten), Open Air Spaces sind extrem teuer, Leinwände müssen hoch­ge­zogen werden, die Technik muss instal­liert, Liege­stühle heran­ge­karrt werden. Man verbiegt sich über Maßen, um sich und anderen zu beweisen: Schaut her, Kultur ist wieder möglich! Dabei könnte das auch ohne viel Tamtam und mit einem echten Bekenntnis zur Kultur über die Bühne gehen – wie Öster­reich es gerade vormacht.

Diagonale Graz

Im Nach­bar­land herrschen cine­as­ti­sche Zustände. In Graz findet noch bis zum 13. Juni die Diagonale, das Festival des öster­rei­chi­schen Films, statt, ein konzen­trierter Think Tank über doku­men­ta­ri­sche Formen und die Erneue­rungen der filmi­schen Sprachen, das mit zahl­rei­chen Diskus­sionen zu Kino und Film aufwartet. Die beiden Festi­val­leiter Peter Schern­huber und Sebastian Höglinger haben sich letztes Jahr, als das DOK.fest München und die Kurz­film­tage Ober­hausen über die neuen Möglich­keiten des Online-Formats schwärmten und die »Zukunft des Kinos« ausriefen, dezidiert dem Kino zugewandt.

Damit stehen sie in Öster­reich aber nicht alleine da oder sind etwa als Kultur­kon­ser­va­tive verschrien, wie es in Deutsch­land Menschen ergeht, die am Kino fest­halten und den Stream nur als behelfs­mäßige Krücke verstehen. In Öster­reich gibt es eine Urbe­geis­te­rung am Kino, die das kleine Land zu einer Kader­schmiede der Subver­sion à la Amos Vogel (»Film as a Subver­sive Art«) werden ließ. Keine andere deutsch­spra­chige Film­na­tion feiert mit seinen Filmen so beständig inter­na­tio­nale Erfolge wie Öster­reich. Auch im Line-up von Cannes finden sich in der Sektion »Un Certain Regard« mit Moneyboys von CB Yi und Great Freedom von Sebastian Meise zwei öster­rei­chi­sche Produk­tionen – aber wieder mal keine deutschen.

Crossing Europe Linz

Auch das erst 2004 von Kino­be­treiber Wolfgang Stei­ninger gegrün­dete Crossing Europe in Linz feierte vor wenigen Tagen das Kino – und zwar im Kino. 50 Prozent Saal-Auslas­tung sind in Öster­reich möglich, weil das Publikum die drei Gs – getestet, geimpft oder genesen – nach­weisen und FFP2-Masken im Kinosaal tragen muss. Im Gegenzug muss nur ein Platz Abstand zwischen den Zuschaue­rinnen und Zuschauern gehalten werden, keine einzige Reihe bleibt frei. Das ist das in Deutsch­land vergeb­lich von den Kino­ver­bänden gefor­derte Schach­brett­muster. Man hat so tatsäch­lich das Gefühl, zusammen mit anderen einen Film zu sehen und nicht wie in einer Hygie­nekapsel einsame Kino­trau­rig­keit erleben zu müssen. Die einzige Hürde des Festi­val­be­suchs war die bis Sonntag immer noch geltende frühe Sperr­stunde von 22 Uhr. Wenn man also aus dem Abendfilm rauskam, gab’s keine Erfri­schungs­ge­tränke mehr – dafür Spea­keasys, in denen man sich mit Dosenbier eindeckte.

Letztes Jahr fiel Crossing Europe komplett aus, dieses Jahr fiel sich die Festi­val­ge­meinde zumindest verbal um den Hals, so glücklich war man über die erste Reise nach dem langen Shutdown. Crossing Europe ging als eines der ersten Festivals in Europa physisch über die Bühne und konnte trotz redu­ziertem Programm an sechs Tagen knapp 10.000 Film­be­geis­terte ins Kino locken. Ein letzter Erfolg für Festi­val­lei­terin Christine Dollhofer, die im Geburts­jahr des Festivals als Inten­dantin von der Diagonale zum Crossing Europe wechselte und auch den Namen mitbrachte. Sie feierte dieses Jahr ihre letzte Ausgabe. Dollhofer wechselt in die öster­rei­chi­sche Film­för­de­rung, und wenn man sich die dies­jäh­rige Programm­aus­wahl des Festivals vor Augen führt, kann man nur sagen: Wahrlich, in Öster­reich herrschen para­die­si­sche Zustände. Zumindest, was den Film und das Kino anbelangt. Der Blick in die »Local Artists«-Reihe ließ staunen.

Augenöffner: Siegfried A. Fruhauf

Weil das so ist, war auch eine der attrak­tiven Reihen die mit den anderswo immer mit Vorsicht zu genießenden Local Artists. Ein wuchtiges Expe­ri­men­tal­film-Double-Feature sah man mit Siegfried A. Fruhauf und Norbert Pfaf­fen­bichler. Fruhaufs Disso­lu­tion Prologue (Extended Version) ist ein absoluter Film, fast »Film without Film« der nur mit den puren Mitteln des Kinos arbeitet, eine filmische Einlas­sung über Be- und Entgren­zungen, die das Öffnen und Schließen – zwei wesent­liche Merkmale der analogen Film­be­lich­tung – insze­niert. Wie der Cache der Filmbühne, die das analoge Film­ma­te­rial bei der Projek­tion trans­por­tiert – zieht sich bei Fruhauf das auf die Leinwand proji­zierte Bild auf und zu, im Wechsel von Weiß (belichtet) zu Schwarz (unbe­lichtet), während auf der Tonspur Sinustöne an- und abschwellen. Das wird auf einer symbo­li­schen Ebene verhan­delt, Fruhauf hat für seine Medi­ta­tion über die Erwei­te­rung unter­schied­lich struk­tu­riertes Papier, das ihm die gewünschte Textur bot, auf 16mm-Film gefilmt. Zur Hälfte des Films öffnet sich der physische Cache im Kinosaal vom Academy-Format auf das Quer­format 16:9, und die neu entste­henden seit­li­chen Flächen füllen sich mit dem digitalen Licht-Beam. Für ihn seien analog und digital keine Gegen­sätze oder gar Wider­sprüche, erklärt Fruhauf nach der Projek­tion seinen Film, der in Linz seine Kino­pre­miere erlebte.

Adrenalin: Norbert Pfaf­fen­bichler

Und dann kam 2551.01. Diesen Absatz muss man mit einem anhe­benden »Und« beginnen, denn was folgte, war mit Abstand die aufwüh­lendste und gräss­lichste Horror-Gore-Groteske, die man sich nur ausdenken kann. Der für seine streng-struk­tu­rellen Filme bekannte Film-Avant­gar­dist Norbert Pfaf­fen­bichler leitet mit seiner barocken Film-Apoka­lypse eine neue, narrative und dennoch auch serielle Werks­phase ein – die sich auch schon in seinem früheren Werk wie mit A Messenger From The Shadows (Notes on Film 06 A/Monologue 01) (2013) über die Horror-Stumm­fil­mi­kone Lon Chaney ange­kün­digt hatte.

Pfaf­fen­bichler insze­niert einen Stummfilm in Schwarz­weiß, der sich Charlie Chaplins The Kid vornimmt und dorthin geht, wo Fritz Langs Metro­polis wegsieht: zum Lumpen­pro­le­ta­riat, im wahrsten Sinne. Die Gestalten in 2551.01 (der nume­ri­sche Titel ist ein für Pfaf­fen­bichler typischer Spleen) sind Kreaturen, apoka­lyp­ti­sche Über­bie­tungen von Tod Brownings Freaks. Sie hausen im Unter­grund, haben vor dem Zugriff der despo­ti­schen Macht Zuflucht in einem verschach­telten Kanal­system gefunden. Alles ist dreckig, kahl, kalt, abgeranzt, aber mehr noch sind die Menschen nicht nur in Lumpen »gekleidet«, ihre Körper zerfallen geradezu in Fetzen. Sie sind geflüch­tete Opfer von Augen­am­pu­ta­tionen, die die Herr­schafts­riege für Versuchs­zwecke vornimmt. Ihre entstellten Gesichter verbergen sie hinter Masken, und wenn es mal etwas zu essen gibt, dann ist es eine schlei­mige Suppe aus Fingern, Zungen, Penissen, Gebär­müt­tern, Embryonen und anderen, höchsten Ekel hervor­ru­fenden mensch­li­chen Körper­teilen.

Der Film ist lupen­reiner Gore, der auf die Abstoßung setzt und den mensch­li­chen Geist in eine wilde Geis­ter­bahn­fahrt versetzt, bei der man sich am liebsten die Augen (!) zuhalten würde, sie aber mit begeis­tertem Schrecken aufreißt, weil die Schau­werte des Häss­li­chen und Ekel­haften einfach nur phäno­menal sind.

Pfaf­fen­bichler hat für den Film auf seine private Masken­samm­lung zurück­ge­griffen, den Film selbst wie eine Serie angelegt – 2551.01 ist die erste Episode, über­ti­telt mit »The Kid«. Mit seinem alle Sinne heraus­for­dernden Werk hat er den eindring­lichsten und durch das frei­ge­setzte Adrenalin eupho­ri­sie­rendsten Film des dies­jäh­rigen Crossing Europe vorgelegt, und bekam prompt den »Local Artists«-Preis, eine für deutsche Verhält­nisse undenk­bare Kombi­na­tion. Einen Plot, der durch die verschie­denen Stationen dieser Vorhölle geht, hat der Film natürlich auch, mit Cliff­hanger. Wir fürchten uns jetzt schon mit Vorfreude vor der Episode 2: »Orgy of the Damned«.

Serotonin: Berhard Sallmann

Wieder den Ruhepuls spüren konnte man bei Bernhard Sallmanns Über Deutsch­land. In Linz gebürtig, lebt Sallmann seit langem in Berlin. Er hat sich dem schwie­rigen Genre der von Straub/Huillet tradierten Sprech- und Kunst­filme verschrieben, während die starren Einstel­lungen seiner unbe­wegten Kamera auf die meist panora­ma­ti­sche Land­schaft an die Filme von James Benning erinnern. Sallmann ist ein lite­ra­ri­scher Perlen­tau­cher, der bekannte oder unbe­kannte Texte in ruhigen Film­be­trach­tungen zu insze­nieren weiß und ihnen so neues Leben und Aktua­lität gibt.

Nach seinem vier­tei­ligen Werk­zy­klus zu Theodor Fontane (2016-2019) hat sich Sallmann nun in Über Deutsch­land den Tage­buch­auf­zeich­nungen der russi­schen Dichterin Marina Zwetajewa zugewandt. Diese schrieb sie, als sie mit 17 Jahren nach Dresden kam. Sallmann lässt Zwetajewa unver­mit­telt in der male­ri­schen Stadt an der Elbe auftau­chen, als wäre sie mit dem Ufo gelandet, er vermeidet die Dich­ter­bio­gra­phie und das Bildungs­fern­sehen. Zwetajewa beschreibt sich selbst als Fremde, die wunder­sa­mer­weise Stöckel­schuhe trägt, während die Einhei­mi­schen »mit Sandalen geboren« zu sein scheinen. Ihr roman­tisch einge­färbter Blick auf das Deutsch­land von 1919 gibt komische und erhabene Einsichten: da ist die Kette der Eifer­sucht unter den Dichtern und Denkern (»nur Goethe war auf niemanden eifer­süchtig«), die skurillen und boden­s­tän­digen Eigen­heiten der Deutschen, das frühe Europa, der gerade zu Ende gegangene Krieg, aber auch die Phase des Coming of Age der jungen, gerade erst aufstre­benden Dichterin.

Judica Albrecht spricht die Texte, wie auch schon in Sallmanns Fontane-Filmen. Zum ersten Mal jedoch versteckt sie sich nicht im Off. Wir sehen sie im Bild, während sie auswendig die lite­ra­ri­schen Texte von Zwetajewa vorträgt, ein spre­chender Körper in den von erhöhter Position gefilmten Land­schaften – »über Deutsch­land«, das ist auch ganz buchs­täb­lich gemeint. Im Hinter­grund sieht man oft die Elbe fließen, und die male­ri­sche Silhou­ette des land­schaft­li­chen Welt­kul­tur­erbes.

Über Deutsch­land ist ein ruhiger, nach­denk­li­cher und beson­nener Film, der den Puls absenkt, und der es als Film zwischen den Sparten Kino und Literatur leider auch ein wenig schwer hat. Wer sich jedoch auf die sprach­lich virtuosen Einsichten und inneren Einkeh­rungen von Zwetajewa einlässt, wer sich dem Klang­körper von Albrechts Stimme anver­traut, wer die entschleu­ni­gende Zeitreise sucht, der wird mit Sallmanns Film reich belohnt. Alles Boden­s­tän­dige fällt schon im Kinosaal ab, frei­ges­tetzt wird das Serotonin, das Wohl­fühl­hormon, das uns im Sessel schweben lässt.