Time Will Tell |
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Fernab von identitätspolitischen Zuschreibungen | ||
(Foto: Starzplay) |
Von Jens Balkenborg
»Right Here, Right Now« ist der Titel einer jeden Folge, zwischendurch frieren die Bilder ein. Eine Unmittelbarkeitshypothese, die so unglaublich gut passt zu jenen direkten, suchenden, zwischen Euphorie, Exzess und Unsicherheiten lavierenden Teenagerjahren. Und eine Hypothese, die diese erste Serie von Luca Guadagnino mehr denn je einlöst als viele anderen, die dem Genre des Coming-of-Age zugerechnet werden. We Are Who We Are ist Serie gewordenes Kino, das sich tänzelnd, kopfnickend, in seiner formalen Verspieltheit regelrecht abdrehend – manchmal auch buchstäblich, wenn die Kamera sich in hektischen Kreisen neue Räume erschließt – vom Gros der horizontalen Formate abhebt.
Wo also ereignet sich dieses »Hier uns Jetzt«, dem wir uns in jeder Folge aufs Neue hingeben, mit wachen Augen und der Idee, etwas ganz und gar eigenes zu erleben? In dem fiktiven amerikanischen Militärstützpunkt in Chioggia, nahe Venedig gelegen. Ein seltsamer, auf den ersten Blick kontrapunktischer Ort für das Anliegen, das Guadagnino und seine Koautor:innen Paolo Giordano und Francesca Manieri im Auge haben: eine Serie über fluide Geschlechterrollen. Doch erweist sich gerade dieser Mikrokosmos als ideale Projektionsfläche, als produktiver Kontrapunkt sozusagen. Es ist wie ein little America in mediterraner Hitze, das den vielleicht besseren Spiegel einer Gesellschaft liefert, als es eine amerikanische Stadt selbst jemals hätte tun können. In der Ferne sieht man scharf.
In jedem Fall ist der Stützpunkt ein alles andere als geläufiger Ort, in den wir, gemeinsam mit Fraser (Jack Dylan Grazer), dem Neuankömmling, hineingeworfen werden. Polternd kommt er mit seiner Mutter Sarah (als würde sich ein Kreis schließen: Chloë Sevigny aus Kids), der neuen Oberkommandantin des Stützpunkts, und ihrer Ehefrau Maggie (Alice Braga) in dem Fertighaus an. Es wird gemeckert und gemurrt, das Verhältnis von Fraser und Sarah ist Hassliebe par excellence.
Dann geht es hinaus in die streng organisierte neue Welt, in der der Ausweis der wichtigste Begleiter ist. Wir streunen mit Fraser, dem exzentrischen Paradiesvogel mit flatternden Leoparden-Baggies, blonden Strubbelhaaren, lackierten Nägeln und Dauermusikbeschallung auf den Ohren, umher. Die dynamische Kamera (Fredrik Wenzel, Yorick Le Saux, Massimiliano Kuveiller) folgt ihm, lässt uns mit ihm umhertapsen durch die unbekannte italienische Hitze, zwischen die quadratische organisierte Topografie der Basis, Soldaten im Drill- und Liegestützmodus, hinein in die neue Schule, wo es zur ersten flüchtigen Begegnung mit Caitlin (Jordan Kristine Seamón) kommt.
Guadagnino lässt seine Serie über jugendliche Identitätssuche(n) mit einem Umhersuchen beginnen, in dessen Folge sich zwischenmenschliche Dynamiken auftun. Da ist Fraser, der emotionale, intellektuelle, design- und modeinteressierte Sohn der Kommandantin, der in dem einfühlsamen Soldaten Jonathan (Tom Mercier) ein Objekt der Begierde findet; da ist mit Caitlin seine Seelenverwandte, die Tochter eines Trump feiernden Soldaten (Scott Mescudi) und seiner aus Nigeria stammenden Frau (Faith Alabi), die gerne Hemden trägt und sich mehr als Junge denn als Mädchen fühlt. Und da sind weitere Jugendliche (darunter auch Francesca Scorsese, Tochter von Martin Scorsese), alle auf ihre Art oszillierend und gestrandet in diesem schräg-sympathisch gezeichneten Gegenraum.
Es ist ein Gegenraum, in dem der italienische Regisseur für viel Altbekanntes einen eigenen Beat findet. Mit durch die Bank fantastischen Schauspieler:innen, allen voran Grazer und Seamón, erzählt »We Are Who We Are« erschlagend selbstverständlich von Gender-Fluidität. Hier wird herumprobiert, selten wirkt Nacktheit so natürlich, jeder kann mit jedem, die meisten wissen noch gar nicht, was sie wollen. Das alles erscheint angenehmerweise fernab von identitätspolitischen Zuschreibungen, die Kids machen, wonach sie sich fühlen, nichts wird vereinfacht in We Are Who We Are. Hier ist man nicht einfach »schwul« oder »lesbisch« oder als Republikaner ein seelenloser Teufel – die Welt ist komplexer.
Das mit dem Beat ist in der Tat auch wörtlich zu nehmen, denn stärker noch als in Call Me by Your Name, Guadagninos gefeierter, flirrender Sommerromanze zwischen einem Jungen und einem älteren Doktoranden, spielt die Musik in seiner Serie eine zentrale Rolle. Zusammengestellt von Devonté Hynes alias Blood Orange, der selbst präsent ist in der Serie als Frasers Idol, changiert der ebenfalls fluide Soundtrack locker-flockig zwischen knackigen Popklassikern (David Bowie), Dada-Pop (Klaus Nomi), Jazz (Arto Lindsay) oder Alternative (Radiohead).
Guadagnino schenkt den geneigten Zuschauer:innen eine pulsierende Serie voller Leben, Exzess und Emotionen, die vor erinnerungswürdigen Szenen wimmelt: eine Wasser-, Kleidungs- und Getränkeschlacht in Superzeitlupe, eine ausufernde Party in einer Oligarchen-Villa, Haare, die im Wind wehen, gemeinsame Kopfhörer-Momente und und und. Neben alldem schlägt die Serie, die zeitlich 2016 angesiedelt ist, mitten im Wahlkampf zwischen Donald Trump und Hillary Clinton, einen gesellschaftspolitischen Bogen. Zwischendurch flackert der orange Clown mit seiner »MAGA«-Kappe über TV-Geräte, auch der Krieg in Afghanistan spielt eine Rolle.
Wohin wird die Reise gehen? Time Will Tell, um den Titel des nach der Serie unvergessenen Blood Orange-Songs zu zitieren, der sich als eine Art Refrain durch die Folgen zieht.
We Are Who We Are ist bei Starzplay über Amazon abrufbar.