15.04.2021

Time Will Tell

We Are Who We Are
Fernab von identitätspolitischen Zuschreibungen
(Foto: Starzplay)

In seiner ersten Serie We Are Who We Are erzählt Luca Guadagnino in einem amerikanischen Militärstützpunkt in Italien von jugendlicher Gender-Fluidität. Eine Serie voller Leben mit einem ganz eigenen Beat.

Von Jens Balkenborg

»Right Here, Right Now« ist der Titel einer jeden Folge, zwischen­durch frieren die Bilder ein. Eine Unmit­tel­bar­keits­hy­po­these, die so unglaub­lich gut passt zu jenen direkten, suchenden, zwischen Euphorie, Exzess und Unsi­cher­heiten lavie­renden Teenager­jahren. Und eine Hypothese, die diese erste Serie von Luca Guada­gnino mehr denn je einlöst als viele anderen, die dem Genre des Coming-of-Age zuge­rechnet werden. We Are Who We Are ist Serie gewor­denes Kino, das sich tänzelnd, kopf­ni­ckend, in seiner formalen Verspielt­heit regel­recht abdrehend – manchmal auch buchs­täb­lich, wenn die Kamera sich in hekti­schen Kreisen neue Räume erschließt – vom Gros der hori­zon­talen Formate abhebt.

Wo also ereignet sich dieses »Hier uns Jetzt«, dem wir uns in jeder Folge aufs Neue hingeben, mit wachen Augen und der Idee, etwas ganz und gar eigenes zu erleben? In dem fiktiven ameri­ka­ni­schen Mili­tär­stütz­punkt in Chioggia, nahe Venedig gelegen. Ein seltsamer, auf den ersten Blick kontra­punk­ti­scher Ort für das Anliegen, das Guada­gnino und seine Koautor:innen Paolo Giordano und Francesca Manieri im Auge haben: eine Serie über fluide Geschlech­ter­rollen. Doch erweist sich gerade dieser Mikro­kosmos als ideale Projek­ti­ons­fläche, als produk­tiver Kontra­punkt sozusagen. Es ist wie ein little America in medi­ter­raner Hitze, das den viel­leicht besseren Spiegel einer Gesell­schaft liefert, als es eine ameri­ka­ni­sche Stadt selbst jemals hätte tun können. In der Ferne sieht man scharf.

In jedem Fall ist der Stütz­punkt ein alles andere als geläu­figer Ort, in den wir, gemeinsam mit Fraser (Jack Dylan Grazer), dem Neuan­kömm­ling, hinein­ge­worfen werden. Polternd kommt er mit seiner Mutter Sarah (als würde sich ein Kreis schließen: Chloë Sevigny aus Kids), der neuen Ober­kom­man­dantin des Stütz­punkts, und ihrer Ehefrau Maggie (Alice Braga) in dem Fertig­haus an. Es wird gemeckert und gemurrt, das Verhältnis von Fraser und Sarah ist Hassliebe par excel­lence.

Dann geht es hinaus in die streng orga­ni­sierte neue Welt, in der der Ausweis der wich­tigste Begleiter ist. Wir streunen mit Fraser, dem exzen­tri­schen Para­dies­vogel mit flat­ternden Leoparden-Baggies, blonden Strub­bel­haaren, lackierten Nägeln und Dauer­mu­sik­be­schal­lung auf den Ohren, umher. Die dyna­mi­sche Kamera (Fredrik Wenzel, Yorick Le Saux, Massi­mi­liano Kuveiller) folgt ihm, lässt uns mit ihm umher­tapsen durch die unbe­kannte italie­ni­sche Hitze, zwischen die quadra­ti­sche orga­ni­sierte Topo­grafie der Basis, Soldaten im Drill- und Liege­stütz­modus, hinein in die neue Schule, wo es zur ersten flüch­tigen Begegnung mit Caitlin (Jordan Kristine Seamón) kommt.

Guada­gnino lässt seine Serie über jugend­liche Iden­ti­täts­suche(n) mit einem Umher­su­chen beginnen, in dessen Folge sich zwischen­mensch­liche Dynamiken auftun. Da ist Fraser, der emotio­nale, intel­lek­tu­elle, design- und mode­in­ter­es­sierte Sohn der Komman­dantin, der in dem einfühl­samen Soldaten Jonathan (Tom Mercier) ein Objekt der Begierde findet; da ist mit Caitlin seine Seelen­ver­wandte, die Tochter eines Trump feiernden Soldaten (Scott Mescudi) und seiner aus Nigeria stam­menden Frau (Faith Alabi), die gerne Hemden trägt und sich mehr als Junge denn als Mädchen fühlt. Und da sind weitere Jugend­liche (darunter auch Francesca Scorsese, Tochter von Martin Scorsese), alle auf ihre Art oszil­lie­rend und gestrandet in diesem schräg-sympa­thisch gezeich­neten Gegenraum.

Es ist ein Gegenraum, in dem der italie­ni­sche Regisseur für viel Altbe­kanntes einen eigenen Beat findet. Mit durch die Bank fantas­ti­schen Schau­spieler:innen, allen voran Grazer und Seamón, erzählt »We Are Who We Are« erschla­gend selbst­ver­ständ­lich von Gender-Fluidität. Hier wird herum­pro­biert, selten wirkt Nacktheit so natürlich, jeder kann mit jedem, die meisten wissen noch gar nicht, was sie wollen. Das alles erscheint ange­neh­mer­weise fernab von iden­ti­täts­po­li­ti­schen Zuschrei­bungen, die Kids machen, wonach sie sich fühlen, nichts wird verein­facht in We Are Who We Are. Hier ist man nicht einfach »schwul« oder »lesbisch« oder als Repu­bli­kaner ein seelen­loser Teufel – die Welt ist komplexer.

Das mit dem Beat ist in der Tat auch wörtlich zu nehmen, denn stärker noch als in Call Me by Your Name, Guada­gninos gefei­erter, flir­render Sommer­ro­manze zwischen einem Jungen und einem älteren Dokto­randen, spielt die Musik in seiner Serie eine zentrale Rolle. Zusam­men­ge­stellt von Devonté Hynes alias Blood Orange, der selbst präsent ist in der Serie als Frasers Idol, changiert der ebenfalls fluide Sound­track locker-flockig zwischen knackigen Popklas­si­kern (David Bowie), Dada-Pop (Klaus Nomi), Jazz (Arto Lindsay) oder Alter­na­tive (Radiohead).

Guada­gnino schenkt den geneigten Zuschauer:innen eine pulsie­rende Serie voller Leben, Exzess und Emotionen, die vor erin­ne­rungs­wür­digen Szenen wimmelt: eine Wasser-, Kleidungs- und Geträn­ke­schlacht in Super­zeit­lupe, eine ausufernde Party in einer Olig­ar­chen-Villa, Haare, die im Wind wehen, gemein­same Kopfhörer-Momente und und und. Neben alldem schlägt die Serie, die zeitlich 2016 ange­sie­delt ist, mitten im Wahlkampf zwischen Donald Trump und Hillary Clinton, einen gesell­schafts­po­li­ti­schen Bogen. Zwischen­durch flackert der orange Clown mit seiner »MAGA«-Kappe über TV-Geräte, auch der Krieg in Afgha­ni­stan spielt eine Rolle.

Wohin wird die Reise gehen? Time Will Tell, um den Titel des nach der Serie unver­ges­senen Blood Orange-Songs zu zitieren, der sich als eine Art Refrain durch die Folgen zieht.

We Are Who We Are ist bei Starzplay über Amazon abrufbar.