Sexyness, Saftigkeit und Sünde |
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Kopflos an Weihnachten: Merry Christmas, Mr. Bean |
Von Anne Küper
Es ist Weihnachten, und Mr. Bean stopft einen Truthahn. Irgendwann verliert er dabei seine Uhr, sodass er den hineingepackten Gemüsebrei wieder herausholen und zur Taschenlampe greifen muss. Gemäß einer gynäkologischen Untersuchung leuchtet er zwischen die rosafarbenen Schenkel, starrt angestrengt auf das, was zwischen den Beinen des toten Tieres liegt. Mr. Bean reißt den Schlund, in den er zuvor noch den Gemüsebrei packte, weit auf, immer weiter, bis sein Kopf schließlich auf der Suche nach der verlorenen Zeit dort verschwindet und stecken bleibt. Als es an der Türe klingelt, schmeißt sich der Truthahn mit Beinen ein Handtuch über. »Sorry, just doing my hair«, stammelt er Richtung Freundin Irma, als sie eintritt und er zurück in die Küche stolpert. Vorfreudig ruft die hungrige Irma aus dem Wohnzimmer: »Have you got the turkey on?« Das Truthahnwesen hinter ihr kann nur nicken.
Die unfreiwillige Verbindung von Mensch und Tier, die sich in »Merry Christmas, Mr. Bean« (Folge 7 der Serie »Mr. Bean«, 1992) vollzieht, ist nicht nur eine meiner zentralen Erinnerungen an das Fernsehschauen mit der Familie in den Weihnachtstagen; sie ist eine der vielen medialen Darstellungen in Serien und Filmen, in denen Fleisch zum prominenten Spielpartner wird. Als beständiges Motiv zieht sich Fleisch durch eine Geschichte der Filmkunst, bildet doch das menschliche Subjekt mitsamt Leib ihren Mittelpunkt. Hier schauen bewegte Körper auf bewegte Körper, die dem Kamera-Auge zum Fraß vorgeworfen werden. Dabei werden über Kino-Fleisch spezifische Diskurse ausgetragen, denen es sich gerade in ihrer Bündelung nachzugehen lohnt: Sexyness, Saftigkeit und Sünde; die vermeintliche Trennung von Körper und Seele; Leiden und Gewalt (um freizulegen, was unter der Hülle passiert). Insbesondere aber die Beziehung von Mensch und Tier wohnt der Frage nach dem Fleisch inne. All ihre Inszenierungen verweisen auf die Parameter, mit denen gesellschaftlich auf Haut, Knochen und Klumpen geschaut wird. Überlegungen zum Kino-Fleisch anzustellen heißt also zugleich, über Geschmack, Ekel und Ethik nachzudenken. Bon appétit!
Es ist Ina Weisses Drama Das Vorspiel (2019), das meine Erinnerung an den beschriebenen Sketch aus Mr. Bean aufleben lässt, obgleich es in Weisses Film weniger zu lachen gibt. Anna (Nina Hoss) arbeitet als Geigenlehrerin an einem Berliner Konservatorium und nimmt sich des Zöglings Alexander (Ilja Monti) an. In dem Eifer, den Jungen auf seine wichtige Prüfung vorzubereiten, verliert Anna den Blick für ihren Ehemann und den gemeinsamen Sohn Jonas (Serafin Mishiev), der zunehmend neidisch auf Musikus Alexander wird und um die Aufmerksamkeit seiner Mutter kämpft. Immer wieder wird im Laufe von Das Vorspiel Fleisch bearbeitet: Rillette wird geknetet, Hähnchen gebraten, eine Affäre mit dem netten Kollegen aus der Musikschule (Jens Albinus) angefangen und ordentlich rumgeknutscht. Dem unwilligen Geigenschüler schnallt Anna mithilfe eines Gürtels Gewichte an die Schultern, um dessen Positur zu korrigieren. »Es kommt darauf an, dass du dir die Töne vorstellst, bevor du sie spielst«, hatte sie in einer der vorherigen Unterrichtsstunden noch zu ihm gesagt, »letztlich ist das Üben dazu da, damit das Stück in deinen Körper kommt.« Nun diszipliniert Anna die Kompositionen in den Körper hinein. Gewalt gehört in Weisses Film zur Familientradition. Als Sohn Jonas die Ameisen im Garten ärgert, drückt Annas Vater (Thomas Thieme) dessen Hand in den Ameisenhaufen. Nur so lerne der Junge, erklärt der Vater seiner wütenden Tochter, die solche Methoden in ihrer Kindheit vermutlich auch erleben musste. Indes kommen am Esstisch dennoch alle zusammen. Immer wieder.
Die ausgestellte Fleischlichkeit, die Das Vorspiel auszeichnet, fällt im Film in ein Milieu ein, das diese Beschaffenheit eigentlich negiert; ein bürgerliches Charlottenburg, in dem alle irgendwie was mit Kunst zu tun haben und aus dessen Poren das Credo »Ich esse nur sehr wenig Fleisch, und wenn, dann nur Bio, und wo ich weiß, woher es kommt« trieft. So macht Weisse anhand der kultivierten Reserviertheit der Konservatoriums-Kulisse und der Konfrontation mit eigenen wie fremden Körpern den Habitus einer intellektuellen Klasse sichtbar. Mit von der Partie ist die Schauspielmasse Nina Hoss, ein purer Präsenz-Haufen, umgeben von einer schützenden Hülle, unter der etwas brodelt, pocht, vor sich geht, was gelegentlich seinen Weg ins Freie findet. Die Petzoldsche Schauspiel-Statue Hoss wird bei Weisse zum Austragungsort für den Konflikt des Inneren und Äußeren, der sich in dem Willen, sich selbst zu spüren, und der Lust an der Kontaktimprovisation artikuliert. In seinem Umgang mit Essen erzählt Das Vorspiel über Praktiken des Zubereitens und des Speisens Verhältnisse familiärer Nähe; durch Nahrung, das Warten auf sie und die ritualhafte Einnahme wird diese Gemeinschaft erst hergestellt. Geschlechterverhältnisse schreiben sich in ihr fort, obgleich Weisse sie zu verschieben probiert: Meist steht in der bröckelnden Ehe Instrumentenbauer Philippe (Simon Abkarian) hinter dem Herd. Er jagt und sammelt sich durch den Supermarkt, während Gattin Anna musiziert. Am Coq au vin materialisiert sich die Unvereinbarkeit von Beruf und Familie, die Anna so vehement überwinden will.
Apropos weibliche Körper: Wer wird im Kino eigentlich von wem für wen zubereitet und serviert? Zur Zeit seines Erscheinens war Après le bal, der eine einfache Antwort auf die vorherige Frage subvertiert, ein waschechter Skandal. Der kurze Stummfilm des Experimentalkünstlers und Pioniers der Stop-Motion-Technik Georges Méliès von 1897 zeigt Dienerin Jane Brady, die Jeanne d’Alcy bei alltäglichen Handlungen wie Ausziehen, Baden und Abtrocknen behilflich ist. Routiniert schält sie die Figur aus den Klamotten, die Handgriffe sitzen. Après le bal ist lustvolle Demonstration eines Dienstleistungsverhältnisses, ganz im Sinne eines cinema of attraction. Ein neckischer Blick wird von der gewaschenen Frau in Richtung der Kamera geworfen.
Der auf YouTube verfügbare Kurzfilm gilt als einer der ersten Filme mit einer Nacktszene in der Geschichte des Kinos – wobei die Darstellerin d’Alcy nicht wirklich nackt ist, trägt sie doch einen fleischfarbenen Bodysuit. Auch das Wasser, das hier verwendet wird, verwandelt sich mit einem zweiten Blick auf die bewegten Bilder in Sand. Méliès’ Interesse an der Erzeugung von Sinnestäuschungen, das in seinem stark rezipierten Science-Fiction-Film Le voyage dans la lune (1902) prominent ist, wird schon in Après le bal ersichtlich. Dokumentarisches und fiktives Material sind in diesem Fall nicht eindeutig zu trennen. Über das Spiel mit Illusion und Nacktheit sowie den Erwartungen der Zuschauenden spiegelt Méliès einen Blick zurück und lässt ihn reflexiv werden. Après le bal fragt über das scheinbar Entblößte danach, was wir sehen, wenn wir auf Fleisch sehen.
Dennoch ist Fleisch im Kino nicht nur an den humanen Körper gebunden, sondern unabdingbar an die Beziehung zu Tieren geknüpft, von denen sich der Mensch als selbsternannte Krone der Schöpfung abheben will. Während in Das Vorspiel schon eifrig gebraten und zubereitet wird, streitet Anna mit ihrem eifersüchtigen Söhnchen über das Schlachten von Schweinchen, deren Stückchen er zum Abendessen dann doch ganz gerne isst. In Das Vorspiel wird konsumiert; Bong Joon-hos Okja (2017) wiederum konzentriert sich auf die Produktion von Vieh, das zur Tötung freigegeben werden soll. Bong entwirft eine Welt in knalligen Farben, durch die Tilda Swinton, Jake Gyllenhaal und Paul Dano wüten. Protagonistin ist das kleine Mädchen Mija (Ahn Seo-hyeon), das zusammen mit dem Großvater in den Bergen Südkoreas lebt und eine Mischung aus Nilpferd und Schwein, eine Art »Hippo-Schwein«, betreut: Okja, das eigentlich der Miranda Corporation gehört, genmanipuliert ist und im Zuge einer Werbekampagne an Mijas Opa gegeben wurde, um die optimale Haltung des super pig zu erforschen.
Mädchen und Schwein freunden sich an, werden allerdings von der übermächtigen Firma unter Leitung von Lucy Mirando (Swinton) getrennt. Bei den folgenden Befreiungsversuchen in Seoul stößt Mija auf Mitglieder der Animal Liberation Front, die sie unterstützen wollen. Zugleich sind es eben jene jungen Engagierten, die Mija und Okja für ihre öffentlichkeitswirksamen Tierschutz-Zwecke instrumentalisieren – ebenso wie die Mirando Company, deren eco-friendly campaign sich nicht mit den Social-Media-Bildern verträgt, auf denen Schwein und Mädchen angegriffen werden. Okja ist Propagandafilm im besten Sinne, stellt die Problematik der Fleischindustrie zur Schau und von Menschen, denen es egal ist, was sie essen, so lange es »fucking good« schmeckt. Nachhaltiger Konsum scheint in Bongs Film möglich, wenn eine empathische Gesellschaft sich denn dafür entscheiden würde. Dabei stehen Natur und Kultur nicht in Opposition zueinander. Natur kann bei Bong ausschließlich als überformter Rest auftreten, in den sich Technologien eingeschrieben haben. Es ist der Kapitalismus, gegen den der Regisseur und seine menschliche, Greta-Thunberg-artige Protagonistin in Okja kämpfen. Und es ist der Kapitalismus, der ein filmisches wie politisches Happy End verhindert, weil er mit der Idee des nachhaltigen Konsums schlichtweg nicht vereinbar ist.
»Jetzt muss ich nur noch herausfinden, wo ich hingehöre«, seufzt einmal das Ferkel in Ein Schweinchen namens Babe (1995). In Okja können die Tiere nicht sprechen, obwohl das super pig gelegentlich an Mijas Ohrmuschel klebt, als würde es ihr ein Geheimnis zuflüstern. Im Gegensatz zu Chris Noonans Familienfilm sind in Bongs Satire die nichtmenschlichen Akteure animiert. Mit der Abstraktion, die das verspricht, geht der Film insofern um, als er sich der Gattung des Märchens bedient. Auf der Schlachtbank landen die Säue und Eber am Ende aber trotzdem. Entgegen der Animationsabstraktion sind diese Bilder nicht erträglich, sie sind nur versuchte, halbgare Übersetzungen von Leid, deren Aufnahmen aus dem bekannt sind, was sich Wirklichkeit nennen lässt. Dabei ziehen sich Übersetzung und ihr Misslingen als gestalterische Prinzipien durch den amerikanisch-südkoreanischen Film, sodass Okja in aller Komplexität auf eine ziemlich einfache, zeitlose Frage reduziert werden kann: Wie können wir uns verständigen, wenn wir unterschiedliche Sprachen sprechen? Wie miteinander reden, wenn fressen töten heißt?
Das Duo aus Fressen und Moral, das das bekannte Zitat aus Brechts »Dreigroschenoper« (1928; erstmals verfilmt bereits 1931 von Georg Wilhelm Pabst) pointiert, gibt eine Art Dramaturgie, eine Reihenfolge vor. Über ethische Fragen lässt sich dann nachdenken, wenn der Bauch vollgeschlagen ist. In Das Vorspiel wird gegessen und geprobt, bis Lieblingsschüler Alexander nicht mehr zur Prüfung erscheinen will; ein folgenschwerer Verrat an der ehrgeizigen Anna. Nach einem kurzen Auftritt, den Alexander mehr für sich als die unbeliebte, einstige Lehrerin absolviert, stellt ihm Rivale Jonas ein Bein. Alexander fällt die Treppe hinunter und bleibt mit körperlichen Einschränkungen zurück. Anna beobachtet den Vorfall, gibt dem Sohnemann ihr leises Einverständnis. Beide gehen ein Bündnis ein, als sie im Anschluss Ehemann Philippe und der Mutter ihrer einstigen Konservatoriums-Hoffnung nicht berichtet, was wirklich passiert ist. Am Ende erfolgt eine Rückkehr zur Blutsverwandtschaft und dem tätlichen Angriff. Fast hat das schon was Friedliches. Fressen und Moral, ein ewiger Kreislauf, ein Zyklus, für den der Chronist Brecht einen Riecher hatte.
Es ist kein Stein, der die Geschichte in Raw (2016) ins Rollen bringt; ein Hackbällchen verirrt sich in den Kartoffelbrei von Justine (Garance Marillier) und weckt bei der 16-jährigen Vegetarierin die Fleischeslust. Es wird nicht bei dem Hackbällchen bleiben. Das Schawarma, die fettigen Burger-Pattys aus der Mensa und rohe Hühnerbrüste können die Begierden der jungen Frau, die ein Studium der Veterinärmedizin aufnimmt, nur temporär stillen. Aufgrund seiner drastischen Aufnahmen von verletzten, blutenden Körpern und kannibalischen Praktiken wurde der Gore-Film von Julia Ducournau medial hoch und runter besprochen. Auf dem Toronto International Film Festival 2016 fielen zwei Zuschauende nach der Vorstellung in Ohnmacht, andere klagten über starke Übelkeit. Allerdings bietet Raw für die Analyse Tieferes an als die klaffenden Wunden und Bissspuren an seinem Personal, verbindet Horror mit einer Coming-of-Age-Erzählung, in der es sich bei einer ganzen Familie um ärztliches Fachpersonal handelt. Die heteronormative, akademische Kleinfamilie als Alptraum: Raw haut ihn in die Pfanne.
Ehrgeiz und Leistungsdruck werden von den Eltern (beide strikt vegetarisch unterwegs) an Justine und ihre ältere Schwester Alexia (Ella Rumpf) weitergegeben. Den Modus des permanenten Vergleichs fördert die Universität als neoliberale Konkurrenzanstalt bei den beiden Frauen weiter, ein Ort, an dem sich alle am liebsten gegenseitig aufessen würden, um den eigenen Notenschnitt zu heben. Derweil müssen im Studierendenwohnheim erniedrigende Initiationsrituale von Greenhorn Justine absolviert werden: Sie isst eine Hasenniere, wird mit Farbe übergossen, lässt sich zusammen mit dem blonden Kommilitonen in eine Abstellkammer sperren und anfassen. In den engen Strukturen von Familie und Hochschule ereignet sich in Ducournaus Film die sexuelle Selbstfindung der Protagonistin, die zusehends die Kontrolle über jegliche Triebe verliert. Der doppelte Fleischkonsum (das Essen und das Ficken) als Metapher für Verführung, für das Lockende, das von den Eltern Verbotene, wird zum gewaltigen und gewalttätigen emanzipatorischen Akt, der die blutige Schwesternschaft von Justine und Alexia miteinander verbindet. Raw ist ein sinnlicher Film. Er vermittelt, wie Schweiß und Flure in Wohnheimen riechen, wie Lippen schmecken; und wie es sich anfühlt, sich endlich dort kratzen zu können, wo es juckt. In Ducournaus Spielfilmdebüt entlädt sich etwas, das noch verdaut werden will.