Geigerzähler der Gegenwart |
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Road- und Railmovie: Tim Boehmes Die Heimreise erzählt vom Befreiungsweg zweier Behinderter | ||
(Foto: Barnsteiner-Film) |
Von Jens Balkenborg
2020 ist das Jahr der Zeitkorridore, speziell auch für die Film- und Kinokultur. Nachdem die Kolleginnen und Kollegen vom Dokfest München ihr Festival im Mai als reine @home-Ausgabe abfackeln mussten und das DOK Leipzig kurz vor Torschluss in der letzten Oktoberwoche als kreatives Hybridfestival stattfinden durfte – »Ein letztes Mal Kino« schrieb Anna Hoffmeister im »Freitag« – drängt die aktuelle Pandemiesituation auch das Kasseler Dokfest in den virtuellen Raum: DokfestOnline nennt sich die diesjährige Ausgabe, die vom 18. und 27. November 2020 großformatig digital an den Start geht.
So ärgerlich alles auch ist, dieses hartnäckig an den Nerven und allem anderen zehrende Virus, dieser kaum vermeidbare, aber doch satte Tritt in den Hintern der vorbildlich sich in Sachen Pandemiepräventionen engagierenden Kulturszene: es muss auch betont werden, dass der kreative Umgang, diese hybriden oder ganz virtuellen Festivalausgaben mehr sind als ein bloßes Lebenszeichen. Sie sind produktives Experiment und zugleich Chance auf dem Weg zu neuen Formaten, die das Kino als wichtigen Ort des kulturellen und demokratischen Miteinanders verfestigen und dabei dennoch weitere, faire Verwertungswege etablieren. Und, so muss man das auch mal sehen: Wenn wir schon nicht ins Kino dürfen, kann das Kino der Digitalisierung sei Dank immerhin zu uns kommen.
Das Kasseler DokfestOnline bietet die Möglichkeit, von der heimischen Couch aus einen Streifzug durch die verschiedenen Spielarten des gegenwärtigen Dokumentarfilms zu unternehmen. 202 Kurz- und Langfilme sind als Stream deutschlandweit verfügbar, außerdem diskursive Formate oder DJ-Sets in den DokfestChannels. Auf eigenen Plattformen finden im Rahmen des DokfestOnline die Workshop-Tagung »interfiction« und der 11. Hessische Hochschulfilmtag statt.
Auch in Kassel wird der Dokumentarfilm zum Geigerzähler unserer Gegenwart. Mit Yulia Lokshinas Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit etwa läuft ein Film über den Fleischhersteller Tönnies im Programm, genauer: über die südosteuropäischen Arbeiter, die sich in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen abrackern und von dem größten deutschen Schweineschlachtbetrieb in Baracken untergebracht sind. Ein Film am Puls der Zeit, verstärkt noch durch den Corona-Skandal, der das Rheda-Wiedenbrücker Unternehmen in die Presse brachte.
Lokshinas Film hatte, wie Carmen Losmanns Oeconomia auch, aufgrund der Coronamaßnahmen nur wenig Zeit, sein Publikum im Kino zu finden. Losmann wirft einen Blick in den »Maschinenraum des Kapitalismus« und spricht mit Experten aus der Branche über das Finanzsystem. Anders als in ihrem Debüt Work Hard – Play Hard, der ohne Off-Kommentare auskam und über die streng konzentrierten Bilder funktionierte, hat Losmann ihr neues Werk als Lehrfilm angelegt. Sie selbst führt als Off-Stimme durch nachgestellte Recherchetelefonate und macht ihre Gedankengänge in Skizzen auf einer computergenerierten Rastermatrix transparent. »Wie entsteht Geld?«, ist eine der Fragen, die Losmann auf der Matrix notiert.
Oeconomia kreist um die Hybris unseres auf ewiges Wachstum angelegten Systems, dessen Problem ein anonymer Bankangestellter wie folgt erklärt: »Für steigende Gewinne und steigendes Wirtschaftswachstum ist eine ständige Ausweitung der Verschuldung nötig. Das ist der berühmt-berüchtigte 'elephant in the room', über den niemand spricht.« Losmann hat eine nüchterne, absurde Komödie gedreht, die sich immer stärker zu einer Tragödie wandelt.
Ebenfalls politisch, wenn auch weniger offensichtlich, ist Tim Boehmes Die Heimreise. Mit seinem sympathischen dokumentarfilmischen Roadtrip beweist der Regisseur das Inklusionspotential des Kinos. Er porträtiert den am Fetalen Alkoholsyndrom leidenden Bernd Thiele auf seiner Reise in die Vergangenheit. Thiele kann weder lesen noch schreiben, weil die Mutter während der Schwangerschaft getrunken hat. Aufgewachsen ist er bei Pflegeeltern und in Heimen, heute lebt er auf einem Biobauernhof in Schleswig-Holstein, zugleich sozialtherapeutische Einrichtung für geistig Behinderte, wo er sich um die Tiere und die Ernte kümmert.
Bernd will wissen, woher er kommt, und macht sich, begleitet von Boehmes Kamera und seinem kauzig-coolen Sidekick Joann Nathanael Zeylmans van Emmichoven, einem ebenfalls geistig behinderte Arbeitskollegen, der lesen und navigieren kann, auf die Suche. Auf zwei Erzählebenen zeigt der Film die Reisevorbereitungen auf dem Bauernhof und die Reise selbst, die sich als berührender Trip durch eine Familiengeschichte entlang der Mauer entwickelt.
37. Kasseler Dokfest
17.-22.11.2020