29.10.2020

Wie aus einer anderen Zeit

Moon Rock for Monday
Preis der FIPRESCI-Jury und Lobende Erwähnung der Juniorfilm-Jury: Moon Rock For Monday
(Foto: IFF SCHLINGEL)

Das Internationale Filmfestival für Kinder und junges Publikum in Chemnitz, der „Schlingel“, feierte dieses Jahr seinen 25. Geburtstag – allerdings unter denkwürdigen Umständen

Von Christel Strobel & Holger Twele

Die einstige Indus­trie­stadt Chemnitz, in der eine Reihe bekannter Marken entwi­ckelt und produ­ziert wurden, was man im Indus­trie­mu­seum entdecken kann (in der Gieße­rei­halle einer ehema­ligen Wekzeug­ma­schi­nen­fa­brik, die selbst ein Zeugnis der Industrie-Archi­tektur ist), nennt sich heute selbst­be­wusst „Stadt der Moderne“ – und das ist, wie man auf den zweiten Blick fest­stellt, nicht nur ein Name. Der Offenheit gegenüber der Klas­si­schen Moderne und zeit­genös­si­schen Werken ist es zu verdanken, dass der Münchner Kunsthändler Alfred Gunzen­hauser seine bedeu­tende Sammlung, bestehend aus rund 3000 Werken von 270 Künstlern des 20. Jahr­hun­derts, nach Chemnitz gegeben hat. Dort, in einem 2007 zum „Gunzen­hauser Museum“ umge­bauten ehema­ligen Spar­kas­sen­ge­bäude im Stile der Neuen Sach­lich­keit, sind Haupt­werke der Sammlung in wech­selnden Dauer­aus­stel­lungen zu sehen.

Offenheit zeigt sich auch beim Kinder­film­fes­tival, das finan­zi­elle sowie kommu­nal­po­li­ti­sche Unter­stüt­zung erhält. 1996 hat es als „Kinder­film­schau“ mit 15 Filmen begonnen, und Michael Harbauer, Festi­val­leiter und Geschäfts­führer des Säch­si­schen Kinder- und Jugend­film­dienstes, erinnert sich: »Ange­fangen haben wir im Kraftwerk / Haus Einheit im großen Saal, wo alle Tanzen gelernt haben. Damals gab es mit dem Metropol nur noch eine Leinwand in Chemnitz.« Nach zwei Kinder­film­schauen kam das Angebot, ins neue Kino Luxor zu ziehen, »da haben wir sofort zugesagt, natürlich! Im neuen großen Kino von Chemnitz ließ man uns weit­ge­hend freie Hand und Miet­zah­lungen kannten wir auch noch nicht. Wir waren einfach froh, dass wir dort was machen konnten und haben mit der Zeit immer mehr Säle in Beschlag genommen – es wuchs und gedieh«. Im weiteren Verlauf folgte der Vorschlag vom damaligen Kultur­bür­ger­meister: »Wenn das jetzt ein Festival werden soll, dann brauchen wir auch einen Preis« und 2001 gab es erstmals den mit 10.000 Mark dotierten Preis von der Stadt Chemnitz. Was zunächst als Kenn­lern­an­gebot von Filmen wichtiger anderer deutscher Festivals für die Kinder in Chemnitz gedacht war, hat sich bei der 6. Kinder­film­schau zu einer Präsen­ta­tion von Erst­auf­füh­rungen entwi­ckelt. Möglich wurde das sowohl durch ziel­stre­bige Recherche der Festi­val­ma­cher Michael Harbauer und Sylvia Zimmer­mann als auch durch den poli­ti­schen Rücken­wind seitens der Stadt Chemnitz.

Die Schließung des bewährten und sympa­thi­schen Festi­val­kinos Luxor bedeutete einen fast exis­tenz­be­dro­henden Einschnitt für den „Schlingel“ – der Aufbau einer neuen Spiel­stätte im „Roten Turm“, einem für Block­buster bekannten Kino in der oberen Etage eines Geschäfts­zen­trum, war nicht einfach und brachte erst mal einen starken Rückgang der Besu­cher­zahlen. Michael Harbauer erinnert sich: »Das lag nicht am netten Kino­per­sonal! Aber alle Leute sagten ‚unser Festi­val­kino ist das Luxor´. Wir haben aber von der Galerie tolle Unter­stüt­zung erhalten, so konnte der Schlingel dort Fuß fassen – und letztlich hat der Umzug dem Kino und dem Schlingel gut getan.« Das Film­pro­gramm wurde nach und nach flankiert von Workshops, medi­en­pä­d­ago­gi­schen und film­po­li­ti­schen Veran­stal­tungen, Fach­ge­sprächen und Treffen von Orga­ni­sa­tionen wie Bundes­ver­band Jugend und Film, Förder­verein deutscher Kinder­film etc.

Im Bericht über die achte Ausgabe des „Schlingel“ im Oktober 2003 – inzwi­schen Inter­na­tio­nales Kinder­film­fes­tival – wird bereits auf weitere Angebote einge­gangen: »Manches, was im Zusam­men­hang mit dem Chem­nitzer Film­fes­tival im Laufe der Jahre die Fachwelt über­rascht hat, kam auf leisen, bisweilen sogar sehr leisen Sohlen daher. Das gilt auch für die seit drei Jahren im Rahmen des Festivals statt­fin­denden Podi­ums­ge­spräche. Ange­sichts der weit verbrei­teten medialen Selbst­in­sze­nie­rung vieler Veran­stal­tungen, wo die ausschwei­fende Präsen­ta­tion oft nichts mehr mit der substan­zi­ellen Bedeutung des Ereig­nisses zu tun hat, kann die Chem­nitzer Praxis als außer­or­dent­lich wohltuend empfunden werden. Nach­hal­tig­keit wird hier aus dem originären Ereignis abge­leitet und weniger aus der Insze­nie­rung desselben.« (Klaus-Dieter Felsmann in KJK Nr. 97’2004)

2006 wurde mit dem „Ehren­sch­lingel“ ein beson­derer Preis etabliert und erster Preis­träger war der tsche­chi­sche Regisseur Václav Vorlíczek (u.a. Drei Haselnüsse für Aschen­brödel). Dieser „Ehren­sch­lingel“ – symbo­li­siert durch eine pfiffige, in einer Erzge­birgs-Werkstatt gefer­tigte Holzfigur – wird seitdem jährlich für besondere Leis­tungen im Kinder- und Jugend­film verliehen. Ab dem zehnten Jahr firmierte außerdem der „Schlingel“ als »Inter­na­tio­nales Film­fes­tival für Kinder und junges Publikum« und findet weiterhin und bis heute jährlich im Oktober statt.

Was einst mit 15 Produk­tionen vorwie­gend aus dem osteu­ro­päi­schen Raum begonnen hat, ist mit einem ständig stei­genden Film­an­gebot für das junge Publikum – aktuell beim 25. Schlingel waren es 263 Lang- und Kurzfilme aus 40 Ländern – ein gern und viel besuchtes filmi­sches Event für Schul­klassen und Familien (2019 ca. 25.000 Kinder und Erwach­sene) sowie ein wichtiger Termin im Festi­val­ka­lender der Fach­be­su­cher geworden. Inzwi­schen hat sich auch die Zahl der Preise und der Jurys verviel­facht; Preise vergeben außer der Euro­päi­schen Kinder­jury (9 Mitglieder), der Junior- (6) und Jugend­jury (8) noch diverse Fachjurys, u.a. für Spielfilm Inter­na­tional und National, FIPRESCI-Jury , ECFA (Euro­päi­sche Kinder­film­ver­ei­ni­gung), Ökume­ni­sche Jury und „Club of Festivals“ (20 Mitglieder).

Zum 25. Jubiläum dieses Film­fes­ti­vals, mit dem mich viele Erin­ne­rungen verbinden an inter­es­sante wie herzliche Begeg­nungen, die im Laufe der Jahre zu Freund­schaften wurden, an nach­hal­tige Film­erleb­nisse und kolle­giale Fach­ge­spräche, wäre ich auch in diesem Jahr gerne wieder gefahren. Kurz­fristig aber machte mir das »Beher­ber­gungs­verbot für Personen aus Risi­ko­ge­bieten« (das in Sachsen sogar früher als in Bayern in Kraft trat) einen Strich durch die Rechnung. Den folgenden aktuellen Bericht verfasste Holger Twele, der glück­li­cher­weise nicht aus einem Risi­ko­ge­biet kam...

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Trotz Corona fand die Jubiläums­aus­gabe des Festivals wie vorge­sehen statt und weder das wie immer umfang­reiche Gesamt­pro­gramm mit zahl­rei­chen Sektionen noch der über 200-seitige Katalog ließen erkennen, wie stark die gesamte Film­branche und damit auch dieses Festival betroffen sind. Natürlich blieben viele Festi­val­gäste vor allem aus dem Ausland fern und fast alle Jurys konnten ihre Preise nur anhand von Online-Konfe­renzen festlegen und vergeben. Trotz der strikt einge­hal­tenen Vorgaben und Hygiene-Maßnahmen, denen am Ende dann doch die Preis­ver­lei­hung in der Stadt­halle zum Opfer fiel, wurden immerhin 13.000 vorwie­gend junge Zuschauer*innen erreicht. Nahezu alle der gezeigten Filme sind vor der Pandemie gedreht worden, was umso mehr ins Bewusst­sein rückt bei dem Gedanken, dass viele Insze­nie­rungen und Geschichten heute kaum reali­sierbar wären. So wirkten selbst die aktuellen Filme manchmal wie aus einer anderen Zeit. Not macht in Teilen aber auch erfin­de­risch. Gerade weil so viel Fach­pu­blikum fehlen würde, kam Festi­val­leiter Michael Harbauer auf die Idee eines „Club of Festivals“, in dem Leiter*innen von Kinder­film­fes­ti­vals aus der ganzen Welt ihre eigenen Favoriten kürten, aufge­schlüs­selt nach den drei zentralen Wett­be­werben des Festivals für den Kinder­film, Junior­film und Jugend­film.

Kinder ganz allein in der Wildnis

Wie schon in früheren Jahren lagen die meisten Entde­ckungen und Über­ra­schungen im Junior­be­reich. Für Kinder, die noch nicht über ein umfang­rei­ches Film­wissen verfügen und daher nur begrenzt Vergleiche ziehen können, ist vieles ohnehin immer neu und damit über­ra­schend. Aus Erwach­se­nen­sicht bot der als originärer Filmstoff entstan­dene norwe­gi­sche Film Der Sommer; In Dem Wir Allein Waren von Silje Salo­monsen und Arild Østin, ausge­zeichnet mit dem Sonder­preis des MDR, die größte Über­ra­schung im Kinder­film­sektor. Denn die neun­jäh­rige Vega und ihre fünf­jäh­rige Schwester sind mitten in der norwe­gi­schen Wildnis plötzlich ganz allein auf sich gestellt, nachdem der Vater bei einem gemein­samen Ausflug in eine Fels­spalte gefallen ist. Die beiden Mädchen sollen Hilfe holen, aber sie verlaufen sich und müssen sogar im Wald über­nachten. Kindliche Fantasie, Ängste, Strei­te­reien und erwa­chendes Selbst­be­wusst­sein gehen hier in teils poeti­schen Bildern der Natur eine Verbin­dung ein, die den Film zu einem filmi­schen Abenteuer werden lässt.

Roadmovie und Science-Fiction – „neu“ erzählt

Drei Filme aus dem Junior­film­wett­be­werb stachen besonders hervor: Der austra­li­sche Film Moon Rock For Monday von Kurt Martin wurde gar mit dem Haupt­preis der Inter­na­tio­nalen Fachjury, dem Preis der FIPRESCI-Jury und einer Lobenden Erwähnung der Junior­film-Jury ausge­zeichnet. Ein schräges Roadmovie, ange­sie­delt über­wie­gend im austra­li­schen Outback, mit skurrilen Neben­fi­guren und beein­dru­ckenden Haupt­fi­guren, das bekannte Erzähl­stile und Motive aufgreift, um sie in komplett neue Zusam­men­hänge zu stellen und Vorur­teile zu hinter­fragen. Wo sonst etwa in einem Film für Kinder ab 13 Jahren treffen ein neun­jäh­riges, schwer erkranktes Mädchen und ein acht­zehn­jäh­riger Dieb, der wegen Mordes von der Polizei gejagt wird, aufein­ander, um gemeinsam eine Reise anzu­treten, deren Ende nicht vorher­sehbar ist, nicht einmal für das weiße Kaninchen im Hand­ge­päck? Das Mädchen Monday möchte unbedingt einen Mondstein weit über tausend Kilometer entfernt in der Nähe des heiligen Bergs Uluru finden, von dem die Abori­gines behaupten, er könne Krank­heiten heilen. Der durch einen Unfall trau­ma­ti­sierte Junge benutzt Monday zuerst, um sich besser vor der Polizei verste­cken zu können, bis auch er den Beweis antritt, dass man Menschen niemals nur dem ersten äußeren Eindruck nach beur­teilen sollte.

Club der hässlichen Kindern
Der Club der häss­li­chen Kinder (Foto: IFF SCHLINGEL)

Der nieder­län­di­sche Film Der Club Der Häss­li­chen Kinder von Jonathan Elbers (Junior­film­preis Club of Festivals) entwirft eine dysto­pi­sche Gesell­schaft in naher Zukunft mit Paral­lelen zur Nazi-Diktatur und zu „1984“. Alle Kinder, die nicht den äußeren Normen von „Schönheit“ entspre­chen, sollen aus der Gesell­schaft ausge­son­dert werden, egal ob sie eine Narbe haben, eine Zahn­spange tragen oder Segel­ohren haben wie Paul, dessen Vater einer der führenden TV-Jour­na­listen und Meinungs­ma­cher im Land ist. Der Präsident des Landes hat aller­dings nicht mit dem Wider­stand vieler Kinder gerechnet, die sich mit ihren Fami­li­en­mit­glie­dern und Mitschüler*innen soli­da­ri­sieren und zur Wehr setzen. Eine mitunter etwas einfach konstru­ierte Gesell­schafts­pa­rabel, die dennoch unter die Haut geht und demons­triert, wie wichtig und unab­dingbar es ist, dass sich junge Menschen Gehör gegenüber den Erwach­senen zu verschaffen wissen.

Die Schwarze Mühle von Mariusz Pelaj, nicht zu verwech­seln mit dem bekannten Filmstoff um den Zauber­lehr­ling Krabat, entstand nach einer Roman­vor­lage von Marcin Szczy­gieski aus dem Jahr 2010. Der polnische Film mit SF-Elementen wurde in Chemnitz in Weltur­auf­füh­rung gezeigt, erhielt den Preis der deutschen Junior­jury und nähert sich dem Thema Inklusion von Behin­derten auf voll­kommen unge­wöhn­liche Weise. Iwo, dessen Vater vor neun Jahren bei einem Großbrand in der schwarzen Mühle ums Leben kam, möchte viel lieber mit seinen Freunden spielen, als ständig auf seine schwer behin­derte Schwester aufpassen, die beim Großbrand als Früh­ge­burt zur Welt kam. Als im Dorf plötzlich uner­klär­liche Dinge passieren, Gegen­s­tände verschwinden und Vögel tot vom Himmel fallen, machen Iwos Freunde seine Schwester dafür verant­wort­lich. Fast schon zu spät erkennen sie, dass die Schwester ihre einzige Rettung sein könnte, denn nur sie scheint der Schlüssel dafür zu sein, das Dorf vor der völligen Vernich­tung zu bewahren. Geschickt verbindet Palej mit seinem aufwändig produ­zierten Film Elemente des klas­si­schen polni­schen Kinder­films mit modernen Main­stream-Elementen.

(Erste) Liebe und Suche nach Akzeptanz

Vorherr­schende Themen des Jugend­film­wett­be­werbs waren erste wichtige Liebes­er­fah­rungen und die Suche nach Akzeptanz – natürlich nichts Neues, aber doch immer wieder neu und anders erzählt. Das gilt insbe­son­dere für den spani­schen Film Leben Ohne Sara Amat von Laura Jou, ein zärtlich-poeti­sches Kammer­spiel mit zwei jungen Liebenden, die durchaus auch hand­greif­lich zur Sache gehen. Der 13-jährige Pep verbringt wie jedes Jahr seine Sommer­fe­rien bei seinen Groß­el­tern in einem kleinen spani­schen Dorf. Doch diesmal hat er sich unsterb­lich in die nur ein Jahr ältere Sara verliebt. Sie ist trotz des geringen Alters­un­ter­schieds nicht nur in sexueller Hinsicht schon deutlich reifer, inter­es­siert sich vor allem für Kunst und Werke der großen Welt­li­te­ratur. Sara, die mit ihren Eltern nicht zurecht­kommt und sich von einer heim­li­chen Affäre der Mutter belastet fühlt, verschwindet plötzlich ohne äußerlich erkenn­baren Grund. Sie versteckt sich im Zimmer ihres Freundes Pep, dem allein sie ihr Vertrauen schenkt. Auf diese Weise kommen sich die beiden nicht nur körper­lich näher, sondern Pep macht auch wichtige Erfah­rungen mit der Welt der Erwach­senen, die keines­wegs so heil ist, wie er bisher glaubte.

Völlig aus der Bahn geworfen fühlt sich die 14-jährige begabte Spit­zen­tur­nerin Leigh in Perfect 10 von Eva Riley aus Groß­bri­tan­nien, als nach dem Tod der Mutter auch noch ihr bisher unbe­kannter älterer Halb­bruder auftaucht. Dieser bean­sprucht selbst­be­wusst seinen neuen Platz in der Wohnung des Vaters und er handelt mit gestoh­lenen Motor­rä­dern. Gleich­wohl fühlt sich Leigh von diesem unge­bun­denen freien Leben des Bruders und seiner Clique angezogen, die jeweils am Abend zusam­men­kommt und ihre Männ­lich­keits­ri­tuale prak­ti­ziert. Leigh riskiert eine Menge, um ihm eben­bürtig zu werden, findet in ihm schließ­lich aber einen Verbün­deten, der ihr hilft, mit den Problemen in der Familie zurecht­zu­kommen und auch in sport­li­cher Hinsicht Selbst­ver­trauen zu gewinnen.

Soundtrack to Sixteen
Sound­track to Sixteen (Foto: IFF SCHLINGEL)

Uner­schöpflich und natürlich besonders alltags­re­le­vant ist wohl das Problem vieler junger Menschen, die sich in ihrer Klasse oder an einer neuen Schule behaupten müssen, schüch­tern sind und toll­pat­schig wirken, häufig anecken oder abblitzen, auf der Suche nach passenden (neuen) Freunden sind und nicht zuletzt auch noch beim „anderen“ Geschlecht punkten wollen. Die 16-jährige Maisy etwa, in Sound­track To Sixteen von Hillary Shake­speare, die ein ganzes Schuljahr dafür benötigt, um fest­zu­stellen, mit wem sie zusammen sein möchte und wer sich nur über sie lustig macht. Insze­niert ist das in einer sehr direkten, spontanen und fast schon doku­men­ta­ri­schen Weise, die nach­voll­ziehbar macht, warum dieser britische Film den Publi­kums­preis Chemnitz erhielt. Oder die fran­zö­sisch-belgische Komödie Man Up! (Un vrai bonhomme) von Benjamin Parent, in der ein Sech­zehn­jäh­riger sich seinen durch einen Unfall ums Leben gekom­menen älteren Bruder so sehr zum Vorbild nimmt, dass er erst spät erkennt, zu sich zu stehen und seine eigenen Stärken zu entwi­ckeln.

Lola und das Meer
Lola und das Meer (Foto: IFF SCHLINGEL)

Mit ganz anderen Problemen ist die 18-jährige Lola in Lola Und Das Meer (B/F 2019, Laurent Micheli) konfron­tiert. Als Junge geboren hat sie sich in ihrer Haut nie wohl­ge­fühlt und ist fest entschlossen, eine operative Geschlechts­um­wand­lung als letzten verblie­benen Schritt vorzu­nehmen. Heimlich immer von der gerade erst verstor­benen Mutter unter­stützt, hat der Vater den Kontakt zu Lola voll­s­tändig abge­bro­chen. Sie hingegen fordert ihr Recht darauf, vom Vater wenigs­tens gehört zu werden und so beginnt eine erzwun­gene gemein­same nächt­liche Autofahrt ans Meer, die Urne mit der Asche der Mutter als einziges Binde­glied zwischen Vater und Tochter mit dabei. Ein starker Film, der vom Verleih Salzgeber bald ins Kino gebracht wird, mit symbol­kräf­tigen Bildern, knappen Dialogen und einer so zarten wie schlag­kräf­tigen Haupt­figur, die lange in Erin­ne­rung bleiben wird. (Jugend­film­preis Club of Festivals).

Eine weitere Entde­ckung ist Das Verspre­chen Von Pisa (NL/B 2019, Norbert ter Hall), der mit dem Preis der deutschen Jugend­jury ausge­zeichnet wurde und nach einem biogra­fisch gefärbten Best­seller entstand. Mit der italie­ni­schen Stadt Pisa hat der Film rein gar nichts zu tun, es sei denn in der Über­in­ter­pre­ta­tion, dass Sam mit seiner aus Marokko stam­menden Familie in eine „Schief­lage“ geraten ist. Die Familie lebt in einem sozialen Brenn­punkt im Norden von Amsterdam, Sams älterer Bruder gehört einer orga­ni­sierten Diebes­bande an und wandert dafür schließ­lich ins Gefängnis. Die ganze Hoffnung ruht daher auf Sam, den Jüngsten der Familie und einem begna­deten Trom­pe­ten­spieler, der den Sprung in eine renom­mierte Musik­schule schaffen soll. Mit den Diebes­touren seines Bruders hat er nichts zu tun, außer dem Umstand, dass er immer dann Trompete spielen muss, wenn ein neuer Coup geplant wird und die Polizei versucht, die Wohnungs­fenster auf Schall­wellen abzu­tasten und mitzu­hören. Sam schafft es dank eines loyalen Musik­leh­rers – der in Sams vom Bruder geschenkter Trompete sein eigenes gestoh­lenes Instru­ment wieder­erkennt – an der Schule ange­nommen zu werden. Doch der Weg zum Erfolg ist weit und immer wieder wird er von seiner Herkunft eingeholt. Mit den beiden genannten Beispielen ist am besten umrissen, dass der Film eine große Band­breite des Lebens im Armen­viertel erfasst, die schlechten Seiten genauso wie die schönen, die durch viel Humor und die Musik wunderbar zum Klingen gebracht werden.