24.09.2020

Anders als gewohnt, aber doch nicht so wie befürchtet

The Longest Night
Eine von vielen Entdeckungen: Moroco Colmans The Longest Night
(Foto: Filmfest Oldenburg)

Das 27. Internationale Filmfest Oldenburg wurde als Hybrid-Festival durchgeführt – mit Erfolg

Von Eckhard Haschen

Ein Filmfest Oldenburg unter Corona-Bedin­gungen einschließ­lich Abstands­re­geln und Masken­pflicht, kann das überhaupt funk­tio­nieren? So lautete die große Frage im Vorfeld der dies­jäh­rigen Ausgabe. Denn stärker als die meisten anderen Film­fes­ti­vals lebt das führende deutsche Inde­pend­ent­film­fes­tival neben seinem Film­pro­gramm von seiner beson­deren Atmo­s­phäre. Ja, man könnte fast sagen: von der Intimität, die dort bei Begeg­nungen irgendwie besonders leicht entsteht, und die das vorge­schrie­bene »social distancing« nun mal gerade nicht erlaubt.

Weil ein reines Online-Event für ihn nicht infrage kam, da dies dem Geist des Festivals wider­spro­chen hätte, hatte der Festi­val­leiter Torsten Neumann sich früh entschlossen, die dies­jäh­rige 27. Ausgabe als Hybrid-Festival durch­zu­führen. Und so wurden die Filme unter Berück­sich­ti­gung der gegen­wär­tigen Bestim­mungen wie gewohnt im Kino gezeigt, zur selben Zeit und zu bestimmten anderen Terminen aber auch online gestreamt. Dementspre­chend wurden auch die gewohnten Galas auf vertret­bare kleinere Formate herun­ter­ge­fahren. Über­ra­schen­der­weise waren gar nicht mal so wenige auslän­di­sche Gäste angereist, viele weitere wurden via Skype zuge­schaltet. So war in diesem Jahr in Oldenburg also einiges anders als gewohnt, am Ende aber doch nicht so viel wie befürchtet.

Und was die Filme angeht, gab es auch diesmal wieder eine ganze Reihe von Entde­ckungen. Allen voran The Longest Night, ein True-Crime-Drama der etwas anderen Art aus Argen­ti­nien. In seinem zweiten Spielfilm rollt der Regisseur Moroco Colman die Geschichte des Trieb­tä­ters Marcelo Mario Sajen auf, dem 93 Verge­wal­ti­gungen nach­ge­wiesen werden konnten, die dieser zwischen 1985 und 2004 in der Gegend von Córdoba verübte. Nach außen hin ein braver Fami­li­en­vater, bedeutete die Aufde­ckung seiner Verbre­chen für die Menschen, die ihn kannten, einen umso größeren Schock. Ein ganz klein wenig so ergeht es einem auch als Zuschauer, wenn man den für diese Rolle mit dem Seymour Cassel Award für die beste männliche Darstel­ler­leis­tung ausge­zeich­neten Schau­spieler Daniel Aráoz zuvor als geradezu liebens­wür­digen Menschen kennen­ge­lernt hat. Colmans Insze­nie­rung bewegt sich jeden­falls stil­si­cher auf dem stets schmalen Grat zwischen ästhe­ti­scher Über­höhung und Distan­zie­rung.

Um ein schon weiter zurück­lie­gendes Verbre­chen, in diesem Fall eine Entfüh­rung, drehte sich ebenfalls der mit dem Publi­kums­preis des Festivals ausge­zeich­nete Doku­men­tar­film Miracle Fishing. Dieser besteht zum größten Teil aus Aufnahmen, die der damals 20-jährige Miles Hargrove Anfang der 1990er Jahre in Kolumbien gemacht hat, als sein Vater, der Agrar­wis­sen­schaftler und Jour­na­list Tom Hargrove von der Rebel­len­or­ga­ni­sa­tion FARC entführt wurde. Mit einem Abstand von gut 25 Jahren sehen wir so zugleich das intime Tagebuch einer Entfüh­rung und das Porträt einer Familie, die sich nicht einschüch­tern lässt, und damit ein hohes Risiko eingeht. Hargroves ebenso fesselnder wie erschüt­ternder Film bildet ein schönes Gegen­s­tück zu Taylor Hackfords ebenfalls auf diesem Fall beru­henden Proof of Life.

Die Tugenden, wie auch die eine oder andere Untugend, des Inde­pen­dent­kinos ließen sich in Oldenburg an einer Reihe weiterer Filme ablesen: Eine berüh­rende Außen­sei­ter­bal­lade ist etwa dem kana­di­schen Regisseur Michael Maxxis mit seinem als Eröff­nungs­film gezeigten Erstling Puppy Love gelungen. Hopper Penn als geistig Behin­derter, der sein Leben lang nur herum­ge­schubst wurde, und Paz de la Huerta, die für ihre Rolle als drogen­ab­hän­gige Prosti­tu­ierte mit dem Seymour Cassel Award für die beste weibliche Darstel­ler­leis­tung ausge­zeichnet wurde, bilden sicher­lich eines der origi­nellsten Liebes­paare seit langem, gefallen sich aber mit ihrer Spiel­freude manchmal etwas zu sehr. Ähnliches gilt für John Turturro, der für The Jesus Rolls tatsäch­lich seine Rolle aus The Big Lebowski nach über zwanzig Jahren noch einmal aufge­nommen hat. Das Ganze ist zugleich ein Remake von Bertrand Bliers Die Ausge­bufften und irgendwie ganz nett anzu­schauen, aber alles andere als zwingend notwendig. Als wäre er in den Neun­zi­gern gedreht worden, wirkt dagegen Ben Epsteins Buck Alamo, in dem ein sehr alter Mann (Sonny Carl Davis), der irgend­wann dem Alkohol verfiel und zu spät wieder davon loskam, versucht, sich mit den verschie­denen Familien, die er im Lauf seines Lebens gegründet hat, zu versöhnen. Wenn auch nicht wirklich originär, ist dies, besonders in seinen schwarz­weißen Sequenzen, ein schöner Rückgriff auf die große Zeit des ameri­ka­ni­schen Inde­pen­dent-Kinos, das nicht zuletzt auch die Gründung des Filmfests Oldenburg mit inspi­riert hat.

Und hier gab es nun nach einem Jahr Pause wieder eine Retro­spek­tive, die keinem Gerin­geren als dem inzwi­schen 85-jährigen William Friedkin gewidmet war, der in einem 45-minütigen Online-Event sehr lebendig Auskunft über sein Schaffen gab. Einen weiten Bogen von der Kunst­ge­schichte über Dreyers Ordet bis zu Hitch­cocks Psycho spannt Friedkin gar in Alexandre O. Philippes Doku­men­ta­tion Leap of Faith, die auf muster­gül­tige Weise die spiri­tu­ellen Aspekte von The Exorcist heraus­ar­beitet.

So sind in Oldenburg einmal mehr das New Hollywood und das Gegen­warts­kino aufs Schönste zusam­men­ge­kommen.