Anders als gewohnt, aber doch nicht so wie befürchtet |
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Eine von vielen Entdeckungen: Moroco Colmans The Longest Night | ||
(Foto: Filmfest Oldenburg) |
Von Eckhard Haschen
Ein Filmfest Oldenburg unter Corona-Bedingungen einschließlich Abstandsregeln und Maskenpflicht, kann das überhaupt funktionieren? So lautete die große Frage im Vorfeld der diesjährigen Ausgabe. Denn stärker als die meisten anderen Filmfestivals lebt das führende deutsche Independentfilmfestival neben seinem Filmprogramm von seiner besonderen Atmosphäre. Ja, man könnte fast sagen: von der Intimität, die dort bei Begegnungen irgendwie besonders leicht entsteht, und die das vorgeschriebene »social distancing« nun mal gerade nicht erlaubt.
Weil ein reines Online-Event für ihn nicht infrage kam, da dies dem Geist des Festivals widersprochen hätte, hatte der Festivalleiter Torsten Neumann sich früh entschlossen, die diesjährige 27. Ausgabe als Hybrid-Festival durchzuführen. Und so wurden die Filme unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Bestimmungen wie gewohnt im Kino gezeigt, zur selben Zeit und zu bestimmten anderen Terminen aber auch online gestreamt. Dementsprechend wurden auch die gewohnten Galas auf vertretbare kleinere Formate heruntergefahren. Überraschenderweise waren gar nicht mal so wenige ausländische Gäste angereist, viele weitere wurden via Skype zugeschaltet. So war in diesem Jahr in Oldenburg also einiges anders als gewohnt, am Ende aber doch nicht so viel wie befürchtet.
Und was die Filme angeht, gab es auch diesmal wieder eine ganze Reihe von Entdeckungen. Allen voran The Longest Night, ein True-Crime-Drama der etwas anderen Art aus Argentinien. In seinem zweiten Spielfilm rollt der Regisseur Moroco Colman die Geschichte des Triebtäters Marcelo Mario Sajen auf, dem 93 Vergewaltigungen nachgewiesen werden konnten, die dieser zwischen 1985 und 2004 in der Gegend von Córdoba verübte. Nach außen hin ein braver Familienvater, bedeutete die Aufdeckung seiner Verbrechen für die Menschen, die ihn kannten, einen umso größeren Schock. Ein ganz klein wenig so ergeht es einem auch als Zuschauer, wenn man den für diese Rolle mit dem Seymour Cassel Award für die beste männliche Darstellerleistung ausgezeichneten Schauspieler Daniel Aráoz zuvor als geradezu liebenswürdigen Menschen kennengelernt hat. Colmans Inszenierung bewegt sich jedenfalls stilsicher auf dem stets schmalen Grat zwischen ästhetischer Überhöhung und Distanzierung.
Um ein schon weiter zurückliegendes Verbrechen, in diesem Fall eine Entführung, drehte sich ebenfalls der mit dem Publikumspreis des Festivals ausgezeichnete Dokumentarfilm Miracle Fishing. Dieser besteht zum größten Teil aus Aufnahmen, die der damals 20-jährige Miles Hargrove Anfang der 1990er Jahre in Kolumbien gemacht hat, als sein Vater, der Agrarwissenschaftler und Journalist Tom Hargrove von der Rebellenorganisation FARC entführt wurde. Mit einem Abstand von gut 25 Jahren sehen wir so zugleich das intime Tagebuch einer Entführung und das Porträt einer Familie, die sich nicht einschüchtern lässt, und damit ein hohes Risiko eingeht. Hargroves ebenso fesselnder wie erschütternder Film bildet ein schönes Gegenstück zu Taylor Hackfords ebenfalls auf diesem Fall beruhenden Proof of Life.
Die Tugenden, wie auch die eine oder andere Untugend, des Independentkinos ließen sich in Oldenburg an einer Reihe weiterer Filme ablesen: Eine berührende Außenseiterballade ist etwa dem kanadischen Regisseur Michael Maxxis mit seinem als Eröffnungsfilm gezeigten Erstling Puppy Love gelungen. Hopper Penn als geistig Behinderter, der sein Leben lang nur herumgeschubst wurde, und Paz de la Huerta, die für ihre Rolle als drogenabhängige Prostituierte mit dem Seymour Cassel Award für die beste weibliche Darstellerleistung ausgezeichnet wurde, bilden sicherlich eines der originellsten Liebespaare seit langem, gefallen sich aber mit ihrer Spielfreude manchmal etwas zu sehr. Ähnliches gilt für John Turturro, der für The Jesus Rolls tatsächlich seine Rolle aus The Big Lebowski nach über zwanzig Jahren noch einmal aufgenommen hat. Das Ganze ist zugleich ein Remake von Bertrand Bliers Die Ausgebufften und irgendwie ganz nett anzuschauen, aber alles andere als zwingend notwendig. Als wäre er in den Neunzigern gedreht worden, wirkt dagegen Ben Epsteins Buck Alamo, in dem ein sehr alter Mann (Sonny Carl Davis), der irgendwann dem Alkohol verfiel und zu spät wieder davon loskam, versucht, sich mit den verschiedenen Familien, die er im Lauf seines Lebens gegründet hat, zu versöhnen. Wenn auch nicht wirklich originär, ist dies, besonders in seinen schwarzweißen Sequenzen, ein schöner Rückgriff auf die große Zeit des amerikanischen Independent-Kinos, das nicht zuletzt auch die Gründung des Filmfests Oldenburg mit inspiriert hat.
Und hier gab es nun nach einem Jahr Pause wieder eine Retrospektive, die keinem Geringeren als dem inzwischen 85-jährigen William Friedkin gewidmet war, der in einem 45-minütigen Online-Event sehr lebendig Auskunft über sein Schaffen gab. Einen weiten Bogen von der Kunstgeschichte über Dreyers Ordet bis zu Hitchcocks Psycho spannt Friedkin gar in Alexandre O. Philippes Dokumentation Leap of Faith, die auf mustergültige Weise die spirituellen Aspekte von The Exorcist herausarbeitet.
So sind in Oldenburg einmal mehr das New Hollywood und das Gegenwartskino aufs Schönste zusammengekommen.