Nichts ist jetzt gar nichts mehr |
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Sind wir jetzt eins? Kritik am Online-»Festival« | ||
(Foto: We are One / Youtube) |
»Das Leben muss bis zum Tod hin gelebt werden können, sonst kann der Tod nicht gestorben werden.
Trotzdem gibt es Empfehlungen, dass Menschen ab einem bestimmten Alter vor diesem Leben und der damit verbundenen Gefahr es zu verlieren, besonders geschützt werden sollen. Warum? Nicht damit sie gar nicht sterben, sondern damit sie, wenn es soweit ist, als sowieso bald Sterbende keinen Stau in Krankenhäusern erzeugen können.«
Josef Bierbichler
Das Virus ist absurd. Niemand hat das so erkannt, wie Josef Bierbichler. Ich kenne keine präzisere Erfassung des Kindergartens, in den wir uns alle freiwillig, keineswegs gezwungen und in den meisten Fällen trotzdem widerwillig, aus Ratlosigkeit verwandeln, als die von Josef Bierbichler, und seine Geschichte über die »zwei grauhaarigen Schulbuben« Josef Bierbichler und Alexander Kluge.
Glasklar benennt Bierbichler die komplette Umwälzung des gesellschaftlichen Zusammenlebens und die notwendige Korrektur des Geisteszustands einer Gesellschaft. Unseres Geisteszustands.
Es geht nicht um neue Normalität und darum, dass »alles anders wird«, sondern darum, dass bald alles wieder so ist, wie es war. Macht euch bitte nichts vor!
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Hat sich irgendeiner mal gefragt, was Fassbinder wohl für Filme »über die Pandemie« gemacht hätte?
Wie er »innerhalb der gültigen Abstandsregeln« gefilmt hätte? Eine groteske Vorstellung. Wo ist es mit uns hingekommen?
Warum machen wir diesen Schwachsinn mit? Alle, ohne Ausnahme. Warum sind wir so vernünftig? Warum haben wir das Spielen und die Leidenschaft verlernt?
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Letzte Woche trudelten sie rein, und nie waren sie absurder und blödsinniger als diesmal: Die Pressemitteilungen der Filmförderer. Wer sich da alles »freute«, und »stolz war«. Als sei nichts geschehen! Sie kommen einfach nicht raus aus ihren Routinen, die Verwalter der verwalteten Welt, die, die nichts an dieser besser, und vieles schlechter machen, weil sie das System »am Laufen halten«.
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Mir tut vor allem Oskar Roehler leid! Noch nie war er in Cannes in der Sélection Officielle, einmal wäre er da gewesen. Mit seinem Film über Fassbinder hätte er da großartig hingepasst und es allen zeigen können, die ihn schon lange abgeschrieben oder sowieso nie ernstgenommen haben.
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Thierry Frémaux kann man auch in der Schriftform die Erschütterung anmerken. »Cancellation has never been an option« schreibt der Direktor des Filmfestivals von Cannes in einem erstaunlich langen, nachdenklichen und zugleich widerständigen Text.
Nur 1939 durch den Kriegsausbruch sei das Festival abgesagt worden, 1968 abgebrochen. »It was necessary for it to take another form. It could not just disappear.« Frémaux verteidigt und definiert zugleich das Filmfestival als Diener der Filmemacher und des Kinos. Nicht der Filme und des Filmezeigens um jeden Preis. Sondern als Ort der »Mythologie des Kinos«.
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»This Selection is here, and it’s a beautiful one. Even though movie theatres have been shut for three months – for the first time since the invention of film screening by the Lumière Brothers on December 28, 1895 – this Selection reflects that cinema is more alive than ever. It remains unique, irreplaceable. We live in a world where moving images are in constant evolution, whether we talk of the way the movies are shown or the movies themselves. Cinema makes a difference thanks to those who make it, those who give it life and those who receive it and make it glorious. 'Coming soon to a theatre near you': the formula has never been so compelling. We will see it soon: cinema is not dead, it’s not even sick.«
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Manche Filmemacher haben entschieden, ihren Film kommendes Jahr zu zeigen. 2021 ist das Jahr!
»The year 2021 will be important in many, many ways.«
»We will all miss the Cannes experience this year. We will all miss the Cannes effect: what a single projection at the Palais des Festivals gives birth to, an acclamation, a reputation, a storm and sometimes a thunderstorm. All things that make up the flavor and richness of the 12 days of the Cannes Film Festival, before the films go to find other fortunes and other successes in cinemas and festivals around the world.«
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Vor zwei Wochen ging es los. Ein »globales Filmfestival«. Alle wichtigen Filmfestivals waren dabei. Insgesamt 21 taten sich zusammen. Alle zeigen Filme. Dazu Aufzeichnungen von Podiumsdiskussionen, Masterclasses und Präsentationen. Und alles gratis.
Begleitet von einer Spendenaktion für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und weitere lokale Charity-Organisationen. Die Berlinale ist natürlich auch dabei.
Eine tolle Sache – oder?
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Es klingt wahnsinnig menschlich: »We are one«. »Wir sind eins«. So wie man sich die Welt eben wünscht, wenn man sie sich malen könnte, und wenn das eine einzig Übriggebliebene nicht gerade ein globaler Konzern, ein transnationaler Streamingdienst oder ein weltweites Online-Kaufhaus ist.
»We are one« das klingt fast so wie »We are the world. We are the children« – sehr werbetauglich, sehr amerikanisch, sehr nach saccharingesüßter Humanität und aseptischen Gefühlen.
Machen wir uns bitte nichts vor: »We are one« ist zuallererst einmal eine Marketingidee. Der Versuch einer Markenbildung.
Das was hier Marke werden soll, ist nicht etwa das Kino, und schon gar kein spezieller Film, sondern in allererster Linie ist es Youtube.
Youtube, das Gegenteil von Kino und Filmkultur, tritt hier plötzlich auf als deren Verteidiger.
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Auch wem es ganz fern liegt, Youtube zu verteufeln; auch wer Youtube total gern mag als ein öffentliches Archiv für Musikvideos und vergessene Fernsehstücke, für wissenschaftliche Vorträge und für seltene Filmklassiker, und wem es auch nichts ausmacht, dass die Seite auch ein Tummelplatz für allerlei schräge Typen und Quartalsirre ist, und leider auch für einige Rattenfänger und schlimme Hetzer – wer all das akzeptiert, der kann doch trotzdem gleichzeitig der Ansicht sein, dass Youtube zwar für vieles gut ist, aber ein Kino, auch nur ein Kino-Ersatz ist es auf keinen Fall.
Und dann noch alles gratis. Das mag man gern, »Geiz ist geil«, und die Populisten aller Welt lieben Billigkunst – aber tatsächlich ist nicht zuletzt diese Gratismentalität der Totengräber aller Kultur.
Egal wie, ob mit individuellen Eintrittsgeldern, per Abonnement oder mittels einer Kulturflatrate – irgendwie muss das hochwertige Gut Kultur bezahlt werden, irgendetwas darf es dem zum »Nutzer« mutierten Publikum auch im Digital-Zeitalter wert sein.
Vor
allem aber müssen die Künstler von ihrer Arbeit leben können, für ihre Kreativität angemessen entlohnt werden.
Zwar darf man der Weltgesundheitsorganisation spenden – aber seien wir ehrlich: Deren Aura verblasst auch gerade.
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Ist das alles nicht trotzdem eine tolle Sache? Nein, ist es nicht!
Es ist vielmehr ein mehrfacher Betrug. Ein Betrug am Zuschauer und an der internationalen Öffentlichkeit. Ein Betrug an den Filmemachern. Und am Ende ein Betrug am Kino selbst.
Ein Betrug am Zuschauer ist es, weil die Filme, die »We are One« zeigt, oft uralt sind, und längst woanders und besser gesehen werden konnten.
Und was neu ist, stammt noch nicht mal aus der zweiten Reihe.
Ein Betrug an der internationalen Öffentlichkeit ist es, weil hier vorgegaukelt wird, das Programm habe irgendetwas mit dem Filmprogramm renommierter Festivals zu tun. Aber Venedig, das nach wie vor damit rechnet, im September stattzufinden, wird sich hüten, seine Filmschätze umsonst weltweit auszukübeln.
Cannes genauso, schließlich hat man sich auch vor Corona jedem Einknicken gegenüber Streamingdiensten versagt – warum also ausgerechnet jetzt, ohne Geld, auf
der Internet-Resterampe?
Ein Betrug an den Filmemachern ist das alles, weil sie von dem natürlich trotzdem per Werbung erwirtschafteten Geld nichts abbekommen, und weil der Profit und Imagegewinn für Youtube ihnen nichts nutzt, eher schadet.
So ist »We are One« ein Verrat am Kino selbst, der zu seiner Zerstörung beiträgt und mit gezinkten Karten gespielt.
Bei diesem neuesten Streich der US-Filmindustrie kann man ausnahmsweise sogar mal den amerikanischen Präsidenten zitieren: »It’s a fake!«