21.05.2020

Schmerz und Kunst, Verzweiflung und Hoffnung

Margreth Olin, Katja Hogset, Espen Wallin
Die Hungerkünstlerin
(Foto: Margreth Olin, Katja Hogset, Espen Wallin)

Ungeschminkter Realismus von The Self Portrait, ein Film über die norwegische Fotokünstlerin Lene Marie Fossen

Von Matthias Pfeiffer

Es tut wirklich weh, sich The Self Portrait anzusehen. Die Biografie der norwe­gi­schen Foto-Künst­lerin Lene Marie Fossen ist kein Film, der einen nach Ablaufen der Credits wieder verlässt. Das ist natürlich kein Ausschluss­kri­te­rium, aber man sollte es sich bewusst machen, bevor man auf den Play-Button drückt. Das Leiden im Gesicht Fossens wird sich nach diesen 77 Minuten genauso einbrennen, wie ihre tief­dunklen Foto­gra­fien. Was aber auch hängen bleibt, ist die Erkenntnis, dass großer Schmerz große Kunst gebären kann. Und das wird selten so eindring­lich gezeigt, wie in The Self Potrait.

Als Kind wollte Fossen am liebsten die Zeit anhalten, nicht erwachsen werden, die Gebor­gen­heit nicht gegen die Welt da draußen eintau­schen. Mit zehn Jahren übernahm dann die Anorexie die Kontrolle über ihren Körper. Sie magerte dermaßen ab, dass sie mehr als einmal in Lebens­ge­fahr schwebte. Jahre­lange Kran­ken­haus­be­suche und sinnlose Thera­pie­an­sätze sorgten nur für weitere seelische Narben. Als sich das Regie-Trio Margreth Olin, Katja Hogset und Espen Wallin mit ihr trifft, um The Self Portrait zu drehen, lebt sie wieder bei ihren Eltern und ist in der Lage zu arbeiten. Die Spuren ihrer Krankheit sind jedoch unüber­sehbar. Sie hat aber inzwi­schen ihren eigenen Weg gefunden, die Zeit anzu­halten – mit den Mitteln der Foto­grafie. Am Anfang sieht man sie ältere Frauen in einem grie­chi­schen Dorf porträ­tieren, später arbeitet sie mit Flücht­lings­kin­dern zusammen. Es sind mitunter die »leich­testen« Momente des Films, in denen man den ganzen Enthu­si­asmus erlebt, der Fossen voran­treibt. Auch wenn ihr Äußeres noch so sehr jeder Lebens­freude wider­spricht. Die Szenen, die sich dann wirklich einbrennen, sind die, in denen sie sich selbst zum Motiv macht. In den Ruinen einer alten Lepra-Klinik setzt sie sich der Unbarm­her­zig­keit ihres Objek­tives aus. Die Bilder, die entstehen, sind natürlich nicht im konven­tio­nellen Sinne schön. Die Fotos des geschun­denen Körpers in den herun­ter­ge­kom­menen Räumen erzeugen eine tief erschüt­ternde Unbe­hag­lich­keit. Und trotzdem haben sie etwas so Anzie­hendes, dass man den Blick nicht abwenden will. Das hat rein gar nichts mit dem Auto­un­fall zu tun, bei dem man nicht wegschauen kann. Der Kunst von Lene Marie Fossen ist reine Blicklust fremd. Sie zeigt, wie sie es selbst ausdrückt, die Schönheit, die im Schmerz liegen kann. Und wirklich offenbart sich auf jedem Bild ihr Talent, sich selbst und ihre Umgebung wirkungs­voll in einer Atmo­s­phäre der Verlo­ren­heit zu insze­nieren. Doch das Ausschlag­ge­bende ist letzt­end­lich das Gefühl, etwas Echtes zu sehen, so unan­ge­nehm es auch ist. Es ist der Mut dieser Frau, die einen solch tiefen Blick in ihre aufge­schürfte Seele gewährt. Es geht letzt­end­lich um mehr als Anorexie, sondern um das Leiden an sich, und wie man ihm seine destruk­tive Kraft in etwas Schöp­fe­ri­sches trans­for­miert. Dabei selbst immer wieder klar, dass sie als Künst­lerin im Vorder­grund steht und nicht ihre Krankheit.

So ist es auch die richtige Umsetzung, dass Olin, Hogset und Wallin keinen Doku­men­tar­film über Anorexie, sondern in erster Linie über die Künst­lerin selbst gemacht haben. So werden ihre Qualen sogar noch deut­li­cher spür- und nach­voll­ziehbar. Sie spricht vom »Nazi-Regime« in ihrem Körper, vom »Gefühl, in einem bren­nenden Gebäude fest­zu­sitzen, aus dem man nicht fliehen kann«. Als sie schließ­lich eine eigene Ausstel­lung in der Osloer Willas contem­porary Galerie bekommt, überträgt sich ihre ganze Freude auf die Film­zu­schauer. Zu schnell jedoch wird klar, dass sie den Klauen der Krankheit nicht entkommen ist. Der tiefe Fall, der in der zweiten Hälfte folgt, schmerzt doppelt, wenn man vorher gesehen hat, dass Fossen erfolg­reich die ersten Schritte in eine stabile Existenz machen konnte. Die Kamera bleibt dabei so nahe an ihr und ihren Angehö­rigen, dass es fast uner­trä­g­lich wird, das Geschehen zu verfolgen. Aber es sind genau diese Momente, in denen man hinsehen muss. Selten sieht man in einem Doku­men­tar­film so direkt und unge­schönt, was es heißt, unter einer psychi­schen Krankheit zu leiden. So ist The Self Portrait eine intensive Biografie, ein Weckruf und ein Film über die Macht der Kunst glei­cher­maßen. Und leider auch ein Nachruf. Lene Marie Fossen verstarb am 22. Oktober 2019 mit nur 33 Jahren und konnte diesen Film nicht mehr selbst sehen. Bei seinem unge­schminkten Realismus, der sowohl die Hoffnung als auch die Verzweif­lung nicht auslässt, hätte er ihr jedoch gefallen.