Filmgewordene Großartigkeit |
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Dunkel, düster, unausweichlich: Al Pacino in Scarface | ||
(Foto: Prod. DB/imago images) |
Von Jens Balkenborg
Man will das manchmal nicht wahrhaben, doch: auch die ganz Großen werden älter. Klar, für jemanden aus dem Jahrgang 1984 ist Al Pacino schon immer da gewesen, dieser Mann, der mit einer einzigen Gesichtsfalte ganze Geschichten erzählen und mit seinem Lächeln erschreckend mühelos von unschuldig zu diabolisch wechseln kann. Aber wirklich schon 80 Jahre alt?!
Selten konnte man mit derart gutem Gewissen sagen, was inflationärerweise über sehr viele schon gesagt wurde: Al Pacino ist einer der größten Schauspieler seiner Generation, einer der großartigsten Charakterdarsteller, den die amerikanische Filmindustrie jemals auf den Globus losgelassen hat. Ein Mann aus einer Epoche, in der Filme sich gerne auch drei Stunden lang Zeit ließen, um Figuren aus dem kinematografischen Beton zu hauen, die Filmgeschichte schrieben.
Was sind das für ikonische Rollen, die der am 25. April 1940 in New York geborenen Alfredo James Pacino gespielt hat: als Tony Montana zelebrierte er am Ende von Brian De Palmas kontrovers-brutaler Gangsterballade Scarface (1983) die filmgewordene Hybris, wenn er die Nase durch einen Schreibtisch voller Koks zieht und mit einem Maschinengewehr bewaffnet auf die Horde Söldner losgeht, die gerade seine Villa stürmt; in Sidney Lumets Cop-Thriller-Klassiker Serpico (1973) gab er mit seiner Rolle als Frank Serpico die Blaupause für den idealistischen Bullen auf Kriegsfuß gegen seine korrupten Kollegen; in Dog Day Afternoon (1975), seiner zweiten Zusammenarbeit mit Lumet, wechselte er die Seiten und spielte einen sympathischen Bankräuber, der zum Popstar der Zuschauermengen avanciert.
Zu internationaler Bekanntheit kam Pacino durch seine Rolle im ersten Teil von Francis Ford Coppolas dreiteiligem Mafia-Opus-Magnum Der Pate im Jahr 1972. Paramount Pictures wollte Robert Redford in der Rolle des Michael Corleone sehen. Doch Coppola setzte sich mit seinem Faible für den italo-amerikanischen Darsteller, der kurz zuvor bei einem Off-Broadway-Auftritt entdeckt worden war, durch. Und, bei allem Respekt für Redford: Coppola sollte recht behalten. Pacino wurde für einen Oscar als bester Nebendarsteller nominiert und gehört bis heute zu den prägendsten Gesichtern des Gangster-Subgenres Mafiafilm.
Das mag auch dem südländischen Temperament des in Manhattan geborenen Pacino geschuldet sein. Nach der Scheidung der Eltern zog er mit der Mutter in die Bronx, wo er ab dem zweiten Lebensjahr bei den sizilianischen Großeltern aufwuchs. Als Stiefsohn einer Maskenbildnerin und Schauspielerin und Bruder von vier Schwestern, darunter Zwillinge und eine von seinem Vater aus vierter Ehe adoptierte, wird Pacino im Patchwork-Stil groß. Nach seinem Rauswurf aus der Schule im Alter von 17 Jahren geht er auf die Manhattan School of Performing Arts.
Wie sein drei Jahre jüngerer Kollege Robert De Niro, mit dem er lange unsichtbar verbunden scheint, gehört Pacino zur zweiten Method-Actor-Generation. Er spielt seine Figuren nicht bloß, sondern wird eins mit ihnen, alle physischen Hürden inklusive.
Pacino hat vieles gespielt: besagten nimmersatten Gangster in Scarface, den von seinen Gespielinnen umgebenen leibhaftigen Teufel in Taylor Hackfords Anwalts-Mystery-Thriller The Devil’s Advocate (1997), einen idealistischen Footballtrainer in Oliver Stones Any Given Sunday (1999) oder jenen vom Leben verbitterten, erblindeten Ex-Lieutenant in Martin Brests Scent of a Woman (1993), der ihm seinen ersten und bisher einzigen Oscar einbrachte. Mit physischer Wucht, mal leise, mal umso lauter, hat Pacino wie kein zweiter an die Türen des Overacting geklopft. Und auch wenn er die Schwelle mal überschritten hat, sah man ihm gerne dabei zu.
Im Jahr 1995 geschah das, worauf viele lange schon gewartet hatten: endlich Pacino und De Niro in einer gemeinsamen Szene, in Michael Manns Meisterwerk Heat. In einem Restaurant treffen sie aufeinander, Goliath gegen Goliath, Pacino der Bulle, De Niro der Gangster, beide vom Ehrgeiz zerfressen. Eine weitere Szene für die Ewigkeit. Zuletzt war Pacino in Quentin Tarantinos Hollywood-Hommage Once Upon a Time... in Hollywood (2019) und, wieder gemeinsam mit De Niro, in Martin Scorseses Mafia-Spätwerk The Irishman (2020) auf der Leinwand zu sehen.
Große Teile von Pacinos Filmografie lesen sich wie ein »Best of« der Filmgeschichte aus dem letzten halben Jahrhundert. Er hat dem Kino und damit uns viele wunderbare Momente geschenkt. Happy Birthday, Mr. Pacino! Weitermachen!