Der Schein trügt – Licht ins Dunkel der Vergangenheit |
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Einer der herausragenden Filmes des Wettbewerbs: Hanna Slaks The Miner | ||
(Foto: Hanna Slak / goEast) |
Von Holger Twele
Das Jahr 2018 ist für das Wiesbadener Festival in gleich mehrfacher Hinsicht ein ganz besonderes Jahr, wie die neue Festivalleiterin Heleen Gerritsen mehrfach betonte. Denn mit der 18. Ausgabe ist das neben Cottbus einzige deutsche Festival, das sich ganz auf neue und alte Filme aus Mittel- und Osteuropa spezialisiert hat, dem Alter nach nicht nur »erwachsen« geworden. Es gab auch zwei große Jahrestage zu feiern: Vor genau 100 Jahren erhielten sieben der im Fokus stehenden Länder ihre Unabhängigkeit und damit eine Chance auf Demokratie, die heute insbesondere durch Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit neuen Gefährdungen ausgesetzt ist. Und 1968, also vor 50 Jahren, fand der Prager Frühling durch den Einmarsch russischer, ostdeutscher, bulgarischer, polnischer und ungarischer Truppen ein jähes Ende. In zahlreichen Filmen und Veranstaltungen wurden diese beiden Jahrestage gewürdigt und kritisch unter die Lupe genommen. Und noch ein weiterer Aspekt machte diese 18. Festivalausgabe zu etwas Besonderem: Der Wettbewerb aus 16 aktuellen Spiel- und Dokumentarfilmen war im Vergleich zu den letzten Jahren von überdurchschnittlicher Qualität.
Seit jeher versteht sich das Festival als Brücke zwischen Ost und West, als Seismograph für gesellschaftliche Entwicklungen und als Chance für ein besseres Verständnis der Gegenwart auf einer bilateralen Verständigungsebene. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die sich in vielen Wettbewerbsfilmen findet, die nicht selten mit westeuropäischen Ländern und insbesondere mit Deutschland koproduziert wurden, ist ein Schlüssel dafür. Und fast immer war der persönliche Bezug der Filmschaffenden unmittelbar gegeben, genau diesen Film machen zu müssen. Mitunter lässt sich über die filmische Umsetzung streiten, etwa im rumänischen Dokumentarfilm The Dead Nation / Tara Moarta von Radu Jude, der wunderschöne alte Fotografien aus dem ländlichen jüdischen Alltag der Jahre 1937 bis 1946 zu einer Tonbildschau montiert und im selbst gesprochenen Kommentar aus dem Tagebuch des jüdischen Arztes Emil Dorian zitiert, in dem es um Antisemitismus und die systematische Ausgrenzung der Juden geht. – Levan Gabriadze lässt in dem Animadoc Rezo / Znaesh', Mama, gde ya byl seinen eigenen Vater, den Drehbuchautor und Popkultur-Künstler Revaz Gabriadze, über dessen Kindheit in Georgien während und nach dem Krieg erzählen, wobei die literarisch zu einer Parabel auf Macht und Unterdrückung verdichteten Geschichten mit viel Humor und einem ganz persönlichen Zeichenstil animiert wurden.
Geradezu programmatisch stehen zwei Filme, die sich lange Verdrängtem oder Vergessenem stellen, verschlossene Türen öffnen und Licht in die Dunkelheit bringen. Mila Turaylic ist die Tochter der serbischen Mathematikprofessorin Srbijnaka Turaylic, eine der Gallionsfiguren der demokratischen Organisation OTPOR, die mit ihren Protesten im Jahr 2000 zum Sturz des Diktators Slobodan Miloševic beitrug. In The Other Side of Everything / Druga strana svega porträtiert sie ihre Mutter und den von ihr organisierten Widerstand, setzt sich parallel dazu mit der eigenen Kindheit und der Geschichte Serbiens auseinander. Denn wie die Mutter wuchs sie in einem vom Großvater erbauten und dann zwangsenteigneten Haus in einer Wohnung auf, deren eine Hälfte 70 Jahre lang durch eine verschlossene Tür getrennt war. Eine wunderbare Allegorie darauf, wie unendlich kompliziert es sein kann, sich den in der Vergangenheit entstandenen Ungerechtigkeiten und Problemen zu stellen und wie einfach, befreiend und desillusionierend es zugleich ist, den Worten Taten folgen zu lassen.
Die slowenisch-deutsche Koproduktion The Miner / Rudar von Hanna Slak gehört zu den herausragenden Filmen des Wettbewerbs, auch wenn der Film keinen einzigen Preis erhielt. In packenden Bildern wird die authentische Geschichte des seit Jahrzehnten in Slowenien lebenden bosnischen Bergarbeiters Alija aus Srebrenica erzählt, dessen Familie beim Massaker im bosnisch-serbischen Krieg getötet wurde. Ausgerechnet dieser immer noch traumatisierte, aber eben in Slowenien »fremde« Mann wird damit beauftragt, vor dem anstehenden Verkauf einen alten Bergwerksstollen zu untersuchen, auf eigene Gefahr natürlich. Dabei kommt er einem anderen Massaker auf die Spur. Nach dem Krieg wurden Tausende von Flüchtlingen aus Jugoslawien, darunter viele Kollaborateure der Nazis mit ihren Familien von den Briten in Italien in ihr Herkunftsland zurückgeschickt, wo sie in diesen Stollen getrieben und systematisch ermordet wurden. Allein der Beharrlichkeit und unerschütterlichen Integrität von Alija war es zu verdanken, dass die Mauern des Schweigens gegenüber diesem Verbrechen buchstäblich niedergerissen wurden.
Ein Familiendrama der ganz anderen Art entwickelt Aurora Borealis von der inzwischen 84-jährigen ungarischen Regisseurin Márta Mészáros, der vergangenes Jahr die Werkschau gewidmet war. In ihrem neuen Film ringt sich eine alte Frau kurz vor ihrem Tod endlich durch, ein schwer auf ihr lastendes Familiengeheimnis zu lüften. Es betrifft die wahre Herkunft ihrer Tochter und blendet in die Zeit der sowjetischen Besatzung Österreichs und Ungarns nach dem Zweiten Weltkrieg zurück. In klassischer Erzählweise, mit eindrucksvollen Bildern und mit einem starken Darstellerensemble beweist die Regisseurin einmal mehr, dass private Schicksale oft untrennbar mit gesellschaftlichen Entwicklungen verbunden sind, und wie wichtig es gerade auch für zukünftige Generationen ist, sich der Vergangenheit zu stellen, so schmerzhaft sie auch gewesen sein mag.
Aktuellen politischen Zündstoff boten weitere Filme, die sich aber eher Gegenwartsprobleme zum Thema nahmen. Erhellende und zugleich erschreckende Einblicke in den erstarkenden Rechtsextremismus in Polen gibt Andrej Jakimowski in seinem Sozialdrama Once upon a time in November / Pevnego razu w Listopadzie, das auch dokumentarische Aufnahmen der gewalttätigen Auseinandersetzungen zum polnischen Unabhängigkeitstag in Warschau 2016 in die Spielhandlung einbindet. Exemplarisch für die allgemeine Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Regierungspolitik, die viele Menschen immer weiter ausgrenzte und soziale Ungerechtigkeit verstärkte, stehen der mittellose Jurastudent Mareczek, seine nach der Zwangsräumung obdachlos gewordene kranke Mutter und seine Freundin aus gutbürgerlichem Haus. Anhand dieser wenigen Einzelschicksale gelingt es dem Film, die zunehmende Spaltung der polnischen Gesellschaft und die Mechanismen der Gewalt aufzuzeigen. Während sich die Protagonisten eher dem linken Lager zurechnen, das von den Rechten pauschal für die Versäumnisse der Vergangenheit verantwortlich gemacht wird, aber selbst unter ihnen leidet, beginnen sich rechte Kräfte zu radikalisieren und versuchen gewaltsam, ein autonomes Kulturzentrum zu stürmen.
Wer noch irgendeinen Zweifel daran hatte, dass Russland zumindest medial mit gezielt gesteuerten Fake-News und Entertainment-Shows des russischen Staatsfernsehens versuchte, die Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten massiv zu unterstützen, sollte sich die Politsatire Our New President von Maxim Pozdorovkin ansehen. Wie bereits der Titel der Koproduktion zwischen USA und Russland suggeriert, sprachen viele Russen damals bereits von »ihrem« Präsidenten und waren dann umso mehr enttäuscht, als sich Trump mit dem Syrienkrieg plötzlich als »unberechenbar« erwies. Ein Film, der deutlich macht, wie wichtig eine unabhängige seriöse Berichterstattung für eine funktionierende Demokratie ist und wie leichtgläubig das Publikum ist, selbst die absurdesten Meldungen für bare Münze zu halten.
Von der Fipresci-Jury verdientermaßen als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet, blieb nach der Abschaffung der getrennten Preisvergabe für Spiel- und Dokumentarfilme der Hauptjury (fast) nur die Möglichkeit, der ungarisch-deutschen Koproduktion A Woman Captured – Eine gefangene Frau den Regiepreis an Bernadett Tuza-Ritter zu vergeben. Das mag insofern nachvollziehbar sein, wenn man unter »Regie« auch die soziale Verantwortung einer Dokumentarfilmerin für ihre Protagonistin versteht, die hier zum Opfer von moderner Sklaverei wurde und nur dank der Regisseurin einen Weg aus diesem totalen Abhängigkeitsverhältnis fand. Dabei ist Marish, die mit 42 Jahren »abstürzte«, ihre Familie verlor und dann elf Jahre lang ohne Lohnzahlung oder Freizeitausgleich für eine Familie schuften musste, beileibe kein Einzelfall, auch nicht in mitteleuropäischen Gesellschaften. Geschätzt 45 Millionen sollen es weltweit sein, darunter 1,2 Mio. in Europa und etwa 22.000 in Ungarn. Dem Film gelingt es eindrücklich, nicht nur auf diese Problematik aufmerksam zu machen, sondern auch mögliche Lösungsansätze durchzuspielen. Dabei wird deutlich, dass die Betroffenen ohne konkrete Alternativen kaum selbst ihrer misslichen Lage entfliehen können, die Behörden mangels konkreter Beweislage oft machtlos sind und die modernen »Sklavenhalter« über keinerlei Unrechtsbewusstsein verfügen, wo Marish doch so viele selbstgedrehte Zigaretten rauchen und Kaffee trinken darf, »wie sie möchte«.
Die Suche nach dem privaten Glück schwingt fast in allen der sorgfältig ausgewählten Wettbewerbsbeiträge mit, in einigen bilden sie gar den Dreh- und Angelpunkt. In der tschechisch-slowakisch-französischen Produktion Ice Mother / Bába z ledu von Bohdan Sláma lernt eine ältere Witwe durch Zufall einen neuen Mann kennen und lieben, sehr zum Verdruss ihrer beiden erwachsenen Söhne, für die sie sich bisher bedingungslos aufgeopfert hatte, die aber vor allem an ihrer Erbschaft interessiert sind. Auch wenn sie am Ende alleine dasteht, bleibt die Beziehung nicht ohne Folgen, hatte Einfluss auf das Familiengefüge der beiden Liebenden, vieles zum Positiven hin verändert. Veränderung ist wichtig, nur so lassen sich alte verkrustete Strukturen aufbrechen, selbst wenn dafür auch persönliche Opfer zu erbringen sind.
Diese Notwendigkeit von Veränderung betont auch die satirisch angehauchte Tragikomödie Miracle / Stebuklas von Egle Vertelyte, eine litauisch-bulgarisch-polnische Koproduktion. Allerdings sind in diesem Film die Folgen weitaus dramatischer für Irena, die Leiterin einer auf Schweinezucht spezialisierten Kolchose und ihre Mitarbeiter. Kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion droht die Pleite und da scheint es nur allzu verständlich, falschen Versprechungen bereitwillig Glauben zu schenken. Daher setzt Irena alle ihre Hoffnungen auf einen Amerikaner, der nebenbei bemerkt Donald Trump nicht unähnlich sieht, der auf die Wurzeln seiner litauischen Vorfahren pocht und mit viel Geld winkt. Irena verfällt seinem umwerfenden Charme und merkt viel zu spät, wie zuerst ihre Ehe in die Brüche geht, dann die uralten Bäume weichen, die Schweine geschlachtet werden und schließlich der ganze Stall dem Erdboden gleichgemacht wird.
Immerhin, das Leben geht weiter, wenn auch nicht in der erhofften Weise. Das gilt auch für die drei jungen Menschen in The Marriage / Martesa der albanisch-kosovarischen Filmemacherin Blerta Zequiri, die sich mit ihrem vielversprechenden Spielfilmdebüt an ein Tabuthema ihres Kulturkreises wagte, an schwule Liebe. Bekim und Anita stehen kurz vor ihrer Hochzeit, als sein Freund Nol unerwartet aus dem Ausland zurückkehrt und die Liebesbeziehung zu Bekim wieder aufleben lassen möchte. Kammerspielartig und leider etwas dialoglastig entwickelt sich dieses Beziehungsdrama, das weniger die Ressentiments der Umwelt in den Fokus nimmt, als die moralische Entscheidung Bekims, zu seiner wahren Liebe zu stehen oder die Lebenslüge gegenüber seiner Verlobten aufrechtzuerhalten.
Die Hauptfiguren der beiden folgenden Filme schließlich reagieren fast diametral entgegengesetzt auf geplatzte Träume und gesellschaftliche Herausforderungen. In Falling / Strimholov von Marina Stepanska aus der Ukraine erkennt der angehende Komponist Anton seine begrenzten Fähigkeiten und flüchtet sich in den Drogenrausch. Zurück aus dem klinischen Entzug lernt er die desillusionierte ehemalige Maidan-Aktivistin Katja kennen, die am liebsten das Land verlassen möchte. Ihre aufkeimende Liebe lässt für beide neue Hoffnungen wachsen, bis Anton seine Wut erneut gegen sich selbst richtet. – Ganz anders die gehörlose Protagonistin des gleichnamigen kasachischen Films Sveta von Zhanna Issabayeva. Nach bitteren Erfahrungen, dass das Zeigen von Schwäche und Mitgefühl von den anderen nur ausgenutzt wird, setzt sie sich zur Wehr – und geht dabei buchstäblich über Leichen. Augenblicks-Beschreibungen einer Gesellschaft am Rande des Abgrunds, in der Selbstzerstörung oder Zerstörung die einzig möglichen Alternativen scheinen, was in der Mehrzahl der anderen Filme zum Glück relativiert wird, als Warnhinweis aber seine volle Berechtigung behält.
Drei der ausgewählten Filme schließlich vermeiden eine offene Gesellschaftskritik und versuchen stattdessen, unmittelbar an die filmkünstlerische Tradition des osteuropäischen Filmschaffens anzuknüpfen und zugleich neue Wege zu beschreiten. In der auch von Deutschland mit produzierten Naturdokumentation The Ancient Woods / Sengire von Mindaugas Survila, der über die Tages- und Jahreszeiten hinweg das Leben der kleinen und großen Waldbewohner in Litauens Urwald in den Fokus nimmt, gibt es keinen einzigen Kommentar, sondern nur Originalgeräusche und berauschend schöne Bilder, deren Inhalt sich oft erst nach längerer Betrachtung erschließt. Nur ganz kurz erfasst die nahezu statische Kamera auch menschliche Bewohner des Waldes, die im Einklang mit der Natur zu stehen scheinen. Ein Film, der voller Überraschungen steckt und so unterschiedlichen Themen wie Naturschutz und Entschleunigung ganz neue Facetten abgewinnt.
Mit Bildern statt mit Worten erzählen auch die beiden Filme aus Russland bzw. aus Estland ihre Geschichten, die in Schwarzweiß gehalten sind. Der erste Satz in The Bottomless Bag / Meshok Bez Dna von Rustam Khamdamov etwa fällt erst nach mehr als sechs Minuten, obwohl der Rahmen von einer professionellen Erzählerin abgesteckt ist, die einem Fürsten ein Märchen aus einem mittelalterlichen Zauberwald vorträgt, in dem ein mysteriöser Mord geschieht. Geschickt vermeidet der Film nach der Rashômon-Vorlage »Das Lustwäldchen« jede Redundanz zwischen dem gesprochenen Wort und der Visualisierung dieser Geschichte, was allein schon eine Kunst ist, allerdings auch das Risiko in Kauf nimmt, dass sich dem Publikum nicht alles auf Anhieb erschließt. – Angesichts der starken Konkurrenz an Spielfilmen, die auch in Deutschland eine Chance für eine Kinoauswertung haben könnten, mag der Hauptpreis der Jury für das estische Schauermärchen November von Rainer Sarnet willkürlich wirken. Man muss diesem licht- und tricktechnisch eindrucksvoll in Szene gesetzten Drama über eine unerfüllte Liebe, das in einem heidnischen Dorf in Estland angesiedelt ist und in dem es von Werwölfen, Geistwesen und an den Teufel verkauften Seelen nur so wimmelt, aber zugutehalten, ein künstlerisches Wagnis eingegangen zu sein, durch das Stimmungen und Irritationen gleichermaßen erzeugt werden.