Tod einer Schülerin |
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Es gibt nicht nur eine Wahrheit... |
Von Axel Timo Purr
Jetzt spiegeln auch die deutschen Medien von Gala bis Spiegel die Bedenken, die in den letzten Wochen seit dem weltweiten Start der Netflix-Serie »Tote Mädchen lügen nicht« (Original: »13 Reasons Why«) im anglosprachigen Raum immer stärker eskaliert sind. Von Diskussionsverboten an Schulen über heraufgesetzte Alters-Ratings bis zu Elterninitiativen und psychologischen Beratungsstellen, die vor einem »Werther-Effekt«, also einer Nachahmung des in der Serie dargestellten Selbstmordes und vor Vergewaltigungsszenen warnen. Netflix sah sich deshalb gezwungen, vor drei der dreizehn Folgen Warnungen zu stellen, die darauf hinweisen, dass es sich hier möglicherweise um traumatisierende Inhalte handelt. Das ist im Amerika der letzten Jahre nichts Neues, wird inzwischen selbst an den Filmklassen der Universitäten eine »politisch korrekte« Moral eingefordert und sollen gleichermaßen Studenten wie Professoren durch »Trigger Warnings« geschützt werden: die Studenten, um Traumatisierungen durch die gezeigten Filme vorzubeugen und ihre Professoren, um gegen mögliche Klagen ihrer traumatisierten Studenten gewappnet zu sein.
Dass nun auch die deutschen Medien auf diesen Zug aufspringen und versuchen, für diese »Thematik« zu »sensibilisieren«, ist ärgerlich und zeigt nicht nur, wie konsequent jeder vom anderen abschreibt, sondern auch, wie schwach einmal mehr das Geschichtsbewusstsein ausgeprägt ist. Denn nur ein kurzer Blick in die deutsche TV-Seriengeschichte sollte Erinnerungen an einen der größten Serien-Erfolge des ZDF wecken, den 1981 unter der Regie von Claus Peter Witt und dem Drehbuch von Robert Stromberger ausgestrahlten 6-Teiler »Tod eines Schülers«. Ähnlich wie in »Tote Mädchen lügen nicht«, versuchten auch Witt und Stromberger einem multiperspektivischen Ansatz des Schülersuizids Raum zu geben und allzu einfache, stereotype Erklärungen zu vermeiden. Trotz guter Kritiken und vom ZDF in Auftrag gegebener Studien, die nachwiesen, dass ein Zusammenhang zwischen der Fernsehserie und den gehäuften Selbstmorden von männlichen Jugendlichen nicht nachweisbar sei, musste sich das ZDF den heftigen Protesten der Elternverbände beugen und durfte erst 2009 die Serie auf DVD veröffentlichen. [1]
Soweit dürfte es bei Netflix zum Glück nicht kommen, denn wie rigide Moralvorstellungen auch sein mögen, ist Netflix mit seinem globalen Geschäftsmodell nicht von nur einem kulturellem Raum abhängig. Doch weitaus wichtiger dürfte sein, dass »Tote Mädchen lügen nicht« berechtigterweise den Finger in eine Wunde legt, um die sich weder in Amerika noch in Deutschland irgendwer zu scheren scheint, denn sowohl in den USA als auch in Deutschland ist Suizid weiterhin die zweithäufigste Todesursache unter Jugendlichen.
Doch allein den Finger auf eine Wunde legen reicht kaum aus, einen dermaßen komplexen und tabuisierten Tatbestand erfolgreich zu thematisieren. Ähnlich wie in der innovativen, ebenfalls auf ein jugendliches Zielpublikum ausgerichteten Netflix-Produktion The OA von Brit Marling und Zal Batmanglij, geht Netflix deshalb auch in »Tote Mädchen lügen nicht« den denkbar radikalsten Weg, um Kreativität freizusetzen: die schon komplexe, aber kurze literarische Vorlage von Jay Asher wurde von Pulitzer-Preisträger Brian Yorkey im Kern zwar belassen wie sie ist, geht im Detail aber weit über das Buch hinaus. Anspielungen auf andere filmische Schul-Mikrokosmen wie etwa Judd Apatows Freaks & Geeks oder Glee hinterfragen eigene Seh- und Rezeptionsgewohnheiten, musikalische Zitate von Joy Division oder Elliott Smith deuten an, wie klug und akribisch der Plot nicht nur über den Soundtrack erweitert wird, sondern der Soundtrack auch als Brücke fungiert, um die Elterngeneration der Kinder zu erreichen, deren Geschichten hier erzählt werden.
Unter anderem unter der Regie von Tom McCarthy, der zuletzt mit Spotlight brillierte, reihen sich diese Geschichten vor allem um eine zentrale Geschichte: den Selbstmord der 17-jährigen Hannah Baker (Katherine Langford). Auf Kassetten, die sie vor ihrem Selbstmord besprochen hat, zählt sie »13 Gründe« für ihren Selbstmord auf, die identisch mit 13 Personen aus ihrem näheren College-Umfeld sind. Diese 13 Geschichten, die in 13 Folgen erzählt werden, besitzen jedoch nicht nur Hannah als erzählerischen Anker, sondern auch Clay Jensen (Dylan Minnette), der in Hannah verliebt war und dem ebenfalls eine Kassettenseite gewidmet ist. Mit Clay setzt die Geschichte auch ein, als er zwei Wochen nach Hannahs Tod die bespielten Kassetten erhält, mit der Erklärung, sie anzuhören, um sie danach, gleich einem Kettenbrief, an den nächsten »Betroffenen« weiterzugeben.
Die Handlung deutet bereits an, dass eine derartige Geschichte nur schwer linear erzählt werden kann, dass genauso wenig wie es »eine« Wahrheit gibt auch nur »eine« einheitliche Geschichte mit nur »einem« Ende erzählt werden kann. Und nicht nur das, werden mit den ständigen Brüchen zwischen den analog-historischen, therapeutischen Erzählsequenzen von Hannah und der digitalen, das Mobbing und Missverständnisse verstärkenden digitalen Kommunikation der erzählerischen Gegenwart weitere Rezeptionsebenen eingeflochten, gibt es genauso verstörende und kristallklare Charakterstudien der Eltern wie die ihrer Kinder, wird nicht wie sonst im Jugendfilm, mit Humor, Ironie oder Blödelei die Verstörung aufgefangen, sondern das »kaputte« Umfeld Schule und eine »kaputte«, an Genderstereotypen und Einkommensungleichheiten krankende Gesellschaft bis zum Ende unter den Rädern gelassen, wird schonungslos ausbuchstabiert, wie selten die eigene Sicht mit der Realität der Anderen korrespondiert, so schonungslos, dass es Folgen gibt, die vor Intensität derartig vibrieren, dass man kaum mehr hinsehen möchte, gleichzeitig aber Brian Yorkey und Tom McCarthy immer wieder dafür danken möchte, etwas so Grausames so schwindelerregend gut umgesetzt zu haben. So, wie es sich im Kino wohl kaum ein Regisseur mit einem derartigen Zielpublikum trauen würde.
Dass man sich also durchaus trauen darf, radikal zu sein, dass man auch von einem jugendlichen Publikum mehr erwarten darf, als das es sich nur im Kreise drehende Franchises im Kino ansieht oder gleich ganz vom Kino abwendet wie die jüngeren Leser von gedruckten Tageszeitungen, beweist der Erfolg von »13 Reasons Why«: die Serie akkumulierte seit ihrem Start am 30. März nicht nur mehr Tweets als jede andere Netflix-Serie bisher, sondern ließ auch die Follower-Raten ihrer Hauptdarsteller in astronomische Höhen schießen.
[1] Jüngere Studien als die des ZDF wie die von Jane Pirkis und R. Warwick Blood (2001) kommen zu der Feststellung, dass es zwar Nachahmungseffekte bei Suiziden gibt, allerdings fallen sie bei der Berichterstattung realer Fälle höher aus als bei fiktionalen Suiziden. Kritisiert wird von etlichen Forschern zudem die grundsätzliche Annahme eines reinen Kausalzusammenhangs. Robert D. Goldney etwa stellte die Beziehung zwischen Medienberichten und Suiziden zwar nicht in Frage, warnte aber davor Medien zum »Sündenbock« zu machen. Vielmehr seien andere Risikofaktoren wie psychische Störungen mitursächlich. (Quelle: Wikipedia)